Ruben Östlund, Ihr neuer Film trägt den Titel "Triangle of Sadness". An eine Dreiecksbeziehung zu denken oder ans Bermudadreieck, wo seit Jahrhunderten Schiffe verschwinden, wäre angesichts der Story gar nicht weit hergeholt. Was bedeutet der Titel genau? Ist das eine Metapher?
Das auch. Ich denke an die Gesellschaftspyramide, irgendwo in der hierarchischen Ordnung ist dein Platz. Im "Dreieck der Traurigkeit" zu sein, das könnte bedeuten: jeden Tag um Würde kämpfen, um Gleichheit. Aber in Wahrheit handelt es sich um einen Begriff aus der plastischen Chirurgie. Gemeint ist die Zone auf der Stirn, wo sich Sorgen- und Zornesfalte treffen. Ein Schönheitschirurg sagte zu einer Freundin meiner Frau: "Sie haben da ein triangle of sadness zwischen den Augen. Mit Botox kriegen wir das in 15 Minuten repariert." Das Gespräch fand in Los Angeles statt. Wo sonst? Dort ist Schönheit praktisch nicht mit Gold aufzuwiegen.
Ist das der Kern des Films, Schönheit als Kapital?
Damit hat die Sache angefangen. Und damit, dass ich meine Frau, eine Modefotografin, in Los Angeles kennengelernt habe. Schönheit fasziniert uns, hat aber auch eine beängstigende Seite, weil sie Hierarchien schafft. Wenn eine Gruppe beisammen sitzt und plötzlich betritt eine sehr attraktive Person den Raum, beeinflusst das die Gruppendynamik. Neben Geld und Bildung ist Schönheit eine der wenigen Währungen, die es dir erlaubt, die soziale Leiter hinaufzuklettern. Ich fand es interessant, dass man bei Marx gar nichts über Schönheit als Kapital liest.
Ich habe irgendwo gelesen, dass Sie sich als Marxisten begreifen, stimmt das?
Ach, nein. Wer ist heute schon wirklich Marxist ...
Der von Woody Harrelson gespielte Kapitän in Ihrem Film, der in seinen Monologen andauernd Marx zitiert!
Das stimmt, der ist waschechter Marxist. Marx war einer der Gründer der Soziologie, das interessiert mich an diesem Denker. Er betrachtet unser Verhalten von einem materialistischen Standpunkt aus. Wie auch sonst? Zeigen Sie mir einen Menschen, der als Unternehmer Milliarden verdient hat und der menschliches Verhalten nicht durch die materialistische Brille sieht. Oh ja, es wird trotzdem an Gott geglaubt, der angeblich die menschlichen Geschicke lenkt. Aber ich denke, das könnte auch eine metaphysische Finte sein, mit denen Turbokapitalisten ihr Handeln rechtfertigen. Kurzum, Soziologie ist heute unumstritten, Marxismus aber kontrovers. Wie kann das sein? Beides nimmt ein und dieselbe Perspektive auf uns Menschen ein! Was ist das für eine bescheuerte Welt, in der wir leben, in der "Sozialismus" ein kontroverser Begriff ist? Vielleicht weniger in Europa, aber in den USA ist das der Fall. Deshalb macht es aber auch Spaß, über Marxismus zu reden, weil dieses Wort Emotionen auslöst.
Reden wir mal über Schönheit. Warum sagt Marx nichts über Schönheit als harte Währung?
Vielleicht deshalb, weil es eine Generationenfrage ist, noch heute. Die Jungen begreifen die Welt am ehesten von einer materialistischen Perspektive aus. Als ich von meinem Filmprojekt erzählte, dass darin zwei Models vorkommen, die sich gemeinsam über Instagram vermarkten und sich zugleich sympathisch sind und ein Paar, reagierten die Leute meines Alters – ich bin 1974 geboren – sehr ablehnend. Wo bleibt denn die Liebe? Wie schrecklich, hieß es. Die Millennials reagierten ganz anders: Ja, und wo soll da der Haken sein? Erzähl’ weiter! Für die Jungen ist dieses ökonomische Gleichgewicht in einer Beziehung ganz normal. Sie sind mit branded couples wie Brad Pitt und Angelina Jolie oder George und Amal Clooney aufgewachsen. Die Älteren blenden das aus. Sie wollen nicht begreifen, dass man sich kaum außerhalb der eigenen Klasse verpartnert – es sei denn, das Gegenüber ist mit besonderer Schönheit gesegnet. Ist meine Generation nun naiv? Sind die Jüngeren zynisch? Ich glaube, dass die junge Generation einen realistischen Blick auf Beziehungen hat.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die beiden Models Carl und Yaya. Wie haben Sie Harris Dickinson und Charlbi Dean Kriek gefunden?
Beim Casting habe ich mit den Rollenkandidatinnen und -kandidatinnen die Szene geprobt, bei der sich Carl und Yaya darüber streiten, wer die Restaurantrechnung bezahlt.
Eine herrliche Szene, in der sich die ganze Verunsicherung Carls in seiner Männerrolle zeigt. Er ist jünger als Yaya, verdient auch weniger Geld als sie. In der Modelszene tut sich der Gender pay gap ja ausnahmsweise zuungunsten der Männer auf. Die beiden streiten sich also darüber, warum immer der Mann seine Brieftasche zücken soll. Was für Erfahrungen haben Sie beim Casting gemacht?
Es gab also Improvisationen zu dieser bill scene. Ich selber habe wechselweise Carl oder seine Freundin Yaya gespielt. Und es war so interessant zu sehen, wie verschieden Männer und Frauen in dieser Situation reagieren. Speziell bei Carl habe ich einen Darsteller gesucht, bei dem sich der innere Kampf, das Dilemma, äußerlich zeigt. Da gibt es diesen Moment, in dem Yaya scheinbar einlenkt und sagt, sie bezahle jetzt die Rechnung, aber doch nicht nach dem Zettel greift. Carl ist irritiert und wird dann ärgerlich. Bei Harris Dickinson habe ich den emotionalen Ausdruck gefunden, den ich suchte.
Charlbi Dean ist am 29. August nur 32-jährig verstorben. In einem Interview erzählte sie noch, wie sehr sie sich mit dem gesamten Team verbunden fühlte, "es sind Freunde geworden, die ich für immer haben werde". Wie fühlt sich das für Sie an?
Es ist sehr, sehr traurig. Wir haben "Triangle of Sadness" ja während der Pandemie gedreht. Wir waren praktisch eine Familie. Und bei den Szenen auf der einsamen Insel, wo die Überlebenden des Schiffsunglücks gestrandet sind, waren wir ja noch mal eine kleinere Gruppe – aus lauter tollen Teamplayern. Ich hätte mir so gewünscht, die weitere Schauspielkarriere von Charlbi Dean verfolgen zu können. Sie war wirklich auf dem Sprung. Besonders schlimm ist ihr Tod natürlich für ihre Familie. Für mich ist es traurig zu sehen, dass da jetzt eine Lücke ist im Ensemble, das in diesen Tagen den Film gemeinsam vorstellt.
"Triangle of Sadness" ist ein Film mit deutlichen Schauplatzwechseln. Es fängt in der Modeszene einer Großstadt an, vielleicht Stockholm, setzt sich auf einer Kreuzfahrt fort und endet auf der einsamen Insel, die Sie eben erwähnt haben. In ihren vorherigen Filme haben Sie die jeweiligen Schauplätze nicht verlassen, das Skiresort in "Höhere Gewalt" (2014) oder das Kunstmuseum in "The Square" (2017). Waren die Ortswechsel im neuen Film eine Herausforderung für Sie?
Einerseits waren die Sprünge natürlich von dem Plan motiviert, zu zeigen, wie sich unsere Position unter neuen Bedingungen verändern kann. Ich wollte weg vom Individuum und hin zum gesellschaftlichen Kontext. Es fängt in der Modewelt an, in der es eine ausgeprägte Hierarchie gibt. In der Luxusjacht gibt es ein klares Oben und Unten. Aber auf der Insel haben sich die Hierarchien aufgelöst, auf einmal dreht sich alles ums Überleben und das Knowhow. Die alten Werte, auf die sich die Charaktere verlassen haben, haben sich umgedreht.
Auf der Insel hat Abigail das Sagen, eine philippinische Putzfrau vom Schiff und die einzige, die Fische fangen und Feuer machen kann.
Genau. Und da wollte ich mit der Geschichte hin, die Handlung gab die Ortswechsel vor. Aber es stimmt schon, dass ich auch etwas Neues machen wollte, die Herausforderung gesucht habe. Wissen Sie, ich hasse das sogenannte Arthousekino! Man kann sicher einiges Gutes darüber sagen, aber inzwischen ist es festgefahren, zu einer Art Genre erstarrt. Solange wir als europäische Filmemacher Geld vom Staat bekommen, sind wir auf der ökonomisch sicheren Seite. Dann begnügen wir uns mit irgendeinem Sujet von intellektueller Bedeutung. Das Publikum können wir vernachlässigen. Das amerikanische Kino ist demgegenüber auf das Publikum angewiesen, weil man dort abhängig von Ticketverkäufen ist. Ich wollte jetzt das amerikanische mit dem europäischen Kino kombinieren. Der Film sollte wild und unterhaltsam sein. Insofern wollte ich mich wirklich vom Skiresort und von der Kunstwelt entfernen. Ich wollte ein Experiment wagen, eine Spekulation. Im Wissen darum, bei welchen Bildern der Daumen hochgeht, in welche Bling-Bling-Sphären das Kinopublikum gerne eintaucht. Ich schließe mich da überhaupt nicht aus. Man kann beobachten, dass wenn die Crème meiner Industrie, sagen wir, vom Venedig-Festival nach Toronto fliegt, dass diese Leute im Flugzeug nicht die Arthouse-Filme im Bordprogramm auswählen. Nein, wir klicken auf Adam Sandler und die neuesten Blockbuster. Mit "Triangle of Sadness" wollte ich also einen Film machen, den alle anklicken.
Ruben Östlund will der Gamechanger sein.
Absolut. Und ich möchte daran anknüpfen, was das Kino in den 1960ern und 1970ern war. Luis Buñuel oder Rainer Werner Fassbinder – ihre Filme waren wild und unterhaltsam zugleich.
Sie haben trotzdem eine eigenwillige Art, gewisse Blockbuster-Erwartungen zu erfüllen und gleichzeitig zu unterlaufen. Das Schiff wird von Piraten unter Feuer genommen und sinkt. Zu sehen ist davon im Film aber kaum etwas. Sie lassen sich einen Überfall und die Untergangsorgie à la "Titanic" entgehen. Stattdessen haben sie diese superlustige, aber auch ziemlich eklige Kotz-Sequenz beim Captain's Dinner. Fast allen wird schlecht, weil das Essen verdorben ist und extremer Seegang herrscht. Kate Winslet hat ja damals wirklich auf Jodie Fosters Kunstkataloge gekotzt beim Dreh von Roman Polanskis "Der Gott des Gemetzels". Wie war das bei Ihnen?
Es gab eine einzige Darstellerin, die sich auf Kommando übergeben konnte, das war Sunnyi Melles. Sie war extrem gut darin. Ansonsten mussten wir auf visuelle Effekte zurückgreifen, einige Akteure hatten ein Röhrchen am Mund, wo was rausschoss, teilweise wurde mit Digitaleffekten gearbeitet. Auch Sunnyi Melles' Durchfall ist digital.
Wie tröstlich. Die Szene, in der Melles als russische Oligarchengattin in den eigenen Körperflüssigkeiten auf dem Badezimmerboden hin- und herschwappt, brennt sich im Gedächtnis fest.
Ich habe niemals eine Schauspielerin getroffen, die willens war, physisch so weit zu gehen wie Sunnyi Melles. Solche Skills imponieren mir sehr. Schließlich habe ich mit Skifilmen angefangen, mit Clips, in denen sportliche Attraktionen geboten wurden. Und dieses Körperliche fasziniert mich noch immer.
"Triangle of Sadness" ist Ihr erster durchweg englischsprachiger Film mit einem interessant gemixten Ensemble. Neben dem weltberühmten Woody Harrelson tritt ein deutscher Star wie Iris Berben auf, die sehr berührend eine Schlaganfallpatientin spielt, die fast gänzlich ihre Sprache verloren hat.
Es gab Casting-Sessions an vielen Orten weltweit, in Berlin, London und Paris, in Los Angeles und New York sowie in Manila. Die Idee war, für den Film quasi Real Madrid zusammenzustellen, die besten Spielerinnen und Spieler ins Team zu holen, ohne Rücksicht auf ihren Bekanntheitsgrad. Iris Berben hat mich mit einer fantastischen Improvisation überzeugt, nachdem ich ihr beim Casting in Berlin nur von der Figur erzählte. Ihr Charakter basiert auf meiner Schwiegermutter, die ich erst nach ihrem Schlaganfall kennenlernte und die tatsächlich nur noch "Ja", "Nein" und "In den Wolken" sagen konnte. So wie Berbens Figur im Film.
Mögen Sie eigentlich Katastrophenfilme?
Da bin ich indifferent. Aber diese Filme gehören natürlich zur DNA des Kinos. Und das Setup ist ergiebig: In einem Flugzeug explodiert eine Bombe, die Welt geht unter… Warum fragen Sie?
In den Katastrophenfilmen der 1970er wird das gesamte Ensemble meistens schnell vorgestellt. Das ist die Exposition: Eine illustre Gruppe von Leuten, die zum Beispiel ein Flugzeug besteigen. Im Katastrophenfall scheitern oder bewähren sich diese Menschen. In "Triangle of Sadness" ist das anders, da tauchen zentrale Charaktere wie zum Beispiel Woody Harrelsons Kapitän erst relativ spät auf. Gruppen bilden sich, lösen sich auf, es ergeben sich neue Konstellationen.
Das stimmt. Aber gerade unter diesem Aspekt – wir folgen Carl und Yaya, und die anderen Figuren kommen und gehen – habe ich den Riesenunterschied zwischen Drehbuchschreiben und einem halbfertigen Film gemerkt. Beim Schnitt fiel mir nämlich auf, dass der dritte Teil – auf der Insel – sehr stark gegen die Gewohnheiten des Publikums erzählt wurde. Mit einigen neuen Figuren, die an dieser Stelle eingeführt wurden. Die Geschichte fing fast von vorne an. Irgendwie funktionierte das nicht. Ich zeigte diese Fassung Michael Haneke …
… dem großen österreichischen Regisseur …
… und Haneke sagte mir, je früher Abigail, die auf dem Schiff mehr oder weniger ignorierte Putzfrau, auf der Insel das Heft in die Hand nimmt, desto besser würde es für die Dynamik der Schlussphase sein. Und er hatte vollkommen recht. Ich habe also mindestens zehn Minuten der Inselszenen herausgeschnitten, um die Figur von Abigail aufzuwerten.
Ich habe gehört, dass Sie als nächstes einen Film drehen wollen, der in einem Flugzeug spielt. Ein klassisches Desaster-Movie-Setting.
Der Arbeitstitel lautet: "The entertainment system is down". Er beginnt an einem Flughafen, spielt aber die meiste Zeit während eines Langstreckenfluges. Ziemlich bald nach dem Start hören die Passagiere die schreckliche Ansage: Das Unterhaltungsprogramm an Bord funktioniert nicht!
Was für eine Katastrophe!
Dazu muss ich Ihnen zuerst erzählen, dass ich von einem soziologischen Experiment gehört habe, bei dem die Probanden in einen Raum gebeten wurden, um nichts zu tun. Und die Leute wussten wohl auch nicht, wie lang das Experiment andauern würde. Sie waren am Ende nicht länger als 15 Minuten eingesperrt, doch es war der Horror für sie. Es gab in dieser Zelle allerdings die Möglichkeit, dass sich die Leute mit einem Knopfdruck selbst einen elektrischen Schock verabreichen konnten. Einen ziemlich schmerzhaften Stromschlag. Ich glaube, es waren 40 Prozent der Leute, die den Elektroschock der furchtbaren Leere und Ungewissheit vorzogen. Diese Unfähigkeit des modernen Menschen, ohne Ablenkung mit sich selbst klarzukommen, wird das Thema sein.
In jedem ihrer Filme gibt es eine klimaktische Szene, in der ein ungewöhnliches Ereignis ins schwer Erträgliche ausgewalzt wird: Die Lawine, die in "Höhere Gewalt" die Gäste einer Bergstations-Terrasse minutenlang in Schneestaub hüllt. Der Performancekünstler in "The Square", der seine Affenrolle so ernst nimmt, dass er die Gäste eines Museumsdinners anfällt. Das große Kotzen auf der Luxusjacht. Gibt es eine solche Szene im nächsten Film?
Oh ja, ich habe vor, dass die Flugzeugpassagiere mindestens drei Minuten lang herumsitzen und – überhaupt nichts tun. Verstehen Sie, es passiert minutenlang. Überhaupt. Nichts. Das ist sicher das Schmerzhafteste, was man seinem Publikum zumuten kann!