Ankaufsvorschläge

Welche Documenta-Werke sollen in Kassel bleiben?

Von jeder Weltkunstschau bleiben Werke in Kassel, auch diesmal gibt es einen Ankaufsetat. Aber was sollte man von der von Skandalen überschatteten Documenta Fifteen bewahren? Ein paar Vorschläge

Wer durch Kassel spaziert, kann den Relikten von vorherigen Documenta-Ausgaben nicht entkommen. An der Fulda grüßt Claes Oldenburgs Spitzhacke, am Hauptbahnhof spaziert Jonathan Borofskys "Man Walking To The Sky" in den Himmel, und überall säumen Joseph Beuys' Kunst-Eichen die Straßen. Von jeder Weltkunstschau bleiben Werke in Nordhessen, auch in diesem Jahr stehen laut der "Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen" bis zu 600.000 Euro als Ankaufsetat von der Stadt Kassel und dem Land Hessen zur Verfügung. Davon werden traditionellerweise Werke für die städtische Kunstsammlung gekauft, für größere (und teurere) Installationen gab es in der Vergangenheit zusätzlich Spendenkampagnen und Sponsorengelder aus der Wirtschaft.

Im Sommer 2022 ist jedoch vieles anders - das Konzept von Ruangrupa hat eher soziale Interaktionen als monumentale Außenskupturen hervorgebracht, durch den Antisemitismus-Eklat ist das Verhältnis vieler Menschen zur Documenta außerdem widersprüchlich bis ablehnend. Welche Werke könnten also der Stadt längerfristig gut tun? Ein paar Ideen aus der Monopol-Redaktion.

 

Das "Schneckenboot" von Chang En-Man

Imposante skulpturale Außenkunstwerke wie den Bronzebaum von Giuseppe Penone oder den Obelisken von Olu Oguibe sucht man auf der Documenta Fifteen vergebens. Deswegen wird auch das neue Kasseler Wahrzeichen zwangsläufig anders sein: Weniger statisches Monument als künstlerische Situation. Dazu passen könnte das hübsche "Schneckenboot" der taiwanesischen Künstlerin Chang En-Man, das vor dem Bootshaus Ahoi ankert und immer mal wieder Touren auf der Fulda unternimmt. Das Floß mit seinen bunten Glasornamenten könnte eine mobile Installation sein, die geheimnisvoll auf dem Fluss kreuzt. Oder sie wird wirklich ein Verkehrsmittel für Fuldaquerungen, Workshops und Ausflüge.  


Die "Fulda-Bühne" von Black Quantum Futurism

Wen man die Fulda über die Walter-Lübcke-Brücke überquert, fällt eine große runde Scheibe auf, die waagerecht ein wenig über der Wasseroberfläche installiert ist. Eine bunte Insel. Während man aufdringliche Werbeaufsteller und Banner mit Botschaften schon gar nicht mehr wahrnimmt, sticht diese Fläche ins Auge, weil sie gar nichts will. Sie ist einfach da und darf benutzt werden. Black Quantum Futurism heißt das Künstlerinnenduo, das sich diese besondere Bühne für die Documenta überlegt hat, auf der die Zeit anders funktionieren soll. Kassel sollte ihren Vorschlag, den öffentlichen Raum auf den Fluss auszuweiten, unbedingt aufgreifen. Schwimmer, Kanutinnen oder Stand-Up-Paddler können sich die Landeplattform mit Enten und Reihern teilen.


Altkleider-Installation vom Nest Collective

Das Kollektiv Nest aus Kenia macht in seinem Filmessay klar, welche verhehrenden Auswirkungen das eigentlich mal als Wohltätigkeit konzipierte Modell der Kleiderspende in afrikanischen Ländern anrichtet: Die heimische Textilindustrie ist zerstört, die Industrienationen entsorgen kostenfrei ihren Müll, um weiter schnelle umweltschädliche Billigmode in den Markt zu bringen, afrikanische Kinder lernen, dass sie sich über Dinge freuen sollen, die woanders niemand will. Dieser Film würde sich gut auf dem Lehrplan von Schulen machen. Mit Sicherheit wäre aber auch der aus Altkleiderballen gebaute Filmpavillon in seiner physischen Präsenz ein dauerhaft wirkungsvoller Ort, der ein automatisches Nachdenken über Konsumverhalten und Ressourcen nach sich zieht. Bester Platz: Fußgängerzone.


Kunst-Gärten

Dass es mehr Grün in Städten braucht und Lebensmittelanbau im urbanen Raum möglich und nötig ist, wird auch außerhalb der Kunst diskutiert. Wie das aussehen kann, hat die Documenta diesen Sommer an zentralen Orten in Kassel gezeigt. Neben der Documenta-Halle wurde vom Kollektiv Britto Arts Trust gepflanzt, geerntet und gekocht. In der Werner-Hilpert-Straße am Kulturbahnhof gedeiht der "Vietnamese Immigrating Garden" mit vietnamesischen Pflanzen des Nhà Sàn Collectives, und am Bootshaus Ahoi finden sich die pittoresken schwimmenden Gärten der Off-Biennale aus Budapest.

Einen oder mehrere dieser grünen Stadtoasen zu erhalten würde zwar mehr Arbeit machen als eine Skulptur. Man könnte jedoch (wie die Documenta auch) Kasseler Initiativen mit einbeziehen und die Gärten zu Orten machen, wo man sich begegnet und den Wert von Nahrung neu kennenlernen kann. Hier würde das Lumbung-Prinzip auch nach den 100 Tagen D15 erhalten bleiben.


Richard Bells "Western Art"

Der Aborigine-Künstler Richard Bell weiß genau, wie man der westlichen Kunst den Spiegel vorhält. Er hat im Fridericianum nahe der Toiletten ein Pissoir auf den Boden gelegt, es dort, wo Marcel Duchamp "R. Mutt" schrieb, mit "R. Bell" signiert, ein paar Luftballons drangehängt und das Ganze "Western Art" genannt. Übersetzt: Die ganze westliche Kunst mit ihren hochkomplizierten Erörterungen über Ready Made, Werk und Autorschaft ist nicht viel mehr als ein Kindergeburtstag und kann jetzt mal in die Abstellkammer. So ein Werk in Kassel zu behalten, fördert die Demut. Und Pissoirs machen sich sowieso immer gut in Sammlungen, egal, wer sie signiert hat.


Geschichten von Agus Nur Amal Pmtoh

In seiner Installation und bei seinen Auftritten hat Agus Nur Amal Pmtoh bewiesen, dass er jeden Sachverhalt und jede Begebenheit in eine bunte, melodische Moritat verwandeln kann. Unser Vorschlag: Agus Nur Amal Pmtoh könnte auch in Zukunft aktuelle und kommende Documenta-Debatten als mythische Erzählungen vortragen, mit Helden und Schurken, Kämpfen und Versöhnung, dargeboten via Stream auf Malaiisch mit deutschen Untertiteln.  


Kinderlandschaft Rurukids

Kinder haben viele Elemente dieser Documenta intuitiv verstanden und hatten oft überraschend viel Spaß an einem Kunstgroßevent. Auch im Fridiericianum wurde ihnen Platz zum Spielen eingeräumt. Eine Kinderkrippe mitten im ehrwürdigen Documenta-Zentrum? Tatsächlich stoßen Besucherinnen und Besucher in dem Museum zuerst auf den Bereich für Babys, Kinder und Jugendliche. Das ist aus mehreren Gründen eine wichtige Setzung. Es nimmt Kinder ernst und stellt die Frage nach der Bedeutung von Care-Arbeit, indem es Eltern kostenlose Betreuung ihres Nachwuchses und bewusste Zeit für sich selbst und die Kunst anbietet.

Bei den Rurukids gibt eine Bibliothek, die nach den Werten des Lumbung-Prinzips sortiert ist, ein Stummkino (ohne festgelegte Sprache können alle Kinder zusehen), eine Kletterhöhle, wechselnde Workshops und vieles mehr  – darunter Angebote mit digitalen Medien, wie zum Beispiel die Produktion eines kleinen Films. Eine Beschäftigung, die sich nicht alle Kinder in ihren Alltag leisten können. Ganz old-school: Im Fridericianum gibt es auch Brettspiele, die ausgebreitet auf den Tischen liegen, bereit ausprobiert zu werden. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Ausrüstung anders ist als wir sie kennen. Die Spieler und Spielerinnen starten mit ungleichen Voraussetzungen. Ein Beispiel: Es gibt weniger schwarze als weiße Schachfiguren. Die Kinder müssen also miteinander reden und neue Regeln aushandeln um gerecht spielen zu können. – ungerecht macht es nach kurzer Zeit keinen Spaß. So lernen sie im Idealfall fürs "echte" Leben, in dem auch nicht alle mit denselben Voraussetzungen starten. Es wäre ein starkes Signal, wenn sich diese Impulse der Rurukids auch zukünftig in Kassel wiederfinden würde und die kostenlose und kreative Kinderbetreuung bliebe.


Das Ruruhaus

Ein ganzes Kunsthaus zu betreiben ist natürlich etwas anderes als ein einzelnes Werk anzukaufen, aber während der fast 100 Tage Documenta hat sich das Ruruhaus an der Kasseler Oberen Königsstraße zu einem wuseligen Stadtzentrum verwandelt. In dem ehemaligen Sportgeschäft treffen sich lokale und internationale Kunstinitiativen mit ihren Projekten, Kasseler und Besucherinnen trinken Kaffee, stöbern im Buchladen oder verschnaufen kurz vom Einkaufen. Ein solch einladendes Haus für alle wäre auf der Shoppingmeile viel nötiger als weitere reine Konsumorte. Vielleicht würde hier sogar das geplangte Documenta-Institut ein Plätzchen finden, über dessen Standort noch immer gestritten wird? In Kassel gibt es bereits verschiedene Ideen, wie das Ruruhaus nachgenutzt werden könnte. Es besteht also Hoffnung, dass einer der lebendigsten Orte der Documenta Fifteen nicht verloren geht.