Tschüß, 9-Euro-Ticket!

In vollen Zügen

Mit dem Sommer endet auch das 9-Euro-Ticket, das Millionen Menschen in Regionalzüge gelockt hat. Auch in der Kunst ist Bahnfahren ein großes Thema. Dort zeigt sich, wie politisch das Verkehrsmittel ist

Am 31. August, dem meteorologischen Sommerende, ist auch das 9-Euro-Ticket Geschichte. Die drei Monate, in denen es uns begleitet hat, waren eine Zeit ambivalenter Gefühle: zwischen Hoffen auf eine Zukunft mit dauerhaft günstigem Zugverkehr und Bangen um Sitzplätze und pünktliche Ankunft.

Einem großen Teil der Bevölkerung ermöglichte das Monatsticket zum Supersparpreis vor allem eine finanzielle Entlastung in der täglichen Nutzung des Nahverkehrs (hier liegen die Abo-Preise in großen Städten oft bei 80 Euro und mehr). Andere nutzten die Möglichkeit, um günstig und flexibel, wenn auch in gemächlicherem Tempo, neue Ecken Deutschlands zu erkunden oder einen spontanen Ausflug in ein anderes Bundesland zu machen. Bei den aktuellen Diskussionen über Erderwärmung und Klimawandel eine gute Alternative zum Auto oder zum Flugverkehr in andere Länder.

Dabei erfreut sich das Reisen auf Schienen nicht erst seit der Einführung des 9-Euro-Tickets hierzulande großer Beliebtheit — trotz regelmäßiger Verspätungen und Flugtickets zu Dumpingpreisen. Das mag der Nostalgie von Wochenendausflügen in der Kindheit geschuldet sein und einem Gefühl der Kontemplation. Dass man auf Zugreisen oft kein Netz hat, trägt zur Ruhe bei. Die Bilder, die mit Zugfahrten verbunden werden, sind oft Szenen der Einkehr, wie sie etwa in den Gemälden Edward Hoppers zu finden sind.

Dazu im Kontrast stehen die grünen, braunen oder grauen Streifen, die die Landschaft in Fotografien von Thomas Ruff vor dem Fenster zieht. Die nahezu abstrakten Szenen zeigen den Blick nach außen: Die verwischten Hausansichten zeugen von der Geschwindigkeit, mit der der Zug an der Stadt vorbeizieht und die es unmöglich macht, die Häuser im Stillstand festzuhalten. 

Zäsur in der Menschheitsgeschichte

Im Laufe der Zeit hat sich eine ganz eigene Ikonografie der Eisenbahn entwickelt. Das zeigt sich in den vielen Darstellungen des Zugreisens in der bildenden Kunst. Sie sind so vielfältig wie die Menschen, die man in den Abteilen antrifft.

Die Erfindung der Dampflokomotive (die erste fuhr 1804) war eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte. Umschlossen von einem Kubus erweiterte sich das Verständnis der Passagiere von Zeit und Raum. Man fuhr plötzlich nicht mehr durch eine Landschaft, die Landschaft raste an einem vorbei, während im Bordrestaurant mit ruhiger Hand der Tee serviert wurde. Anders als noch in engen Kutschen waren die physischen Eigenschaften von Straße und Umwelt nicht mehr zu spüren. Wie in einem hermetischen Raum bewegte man sich in einer Kapsel – und bekam als Gast der ersten Eisenbahn eine Vorahnung von der Relativität von Raum und Zeit, über die Albert Einstein knapp 100 Jahre später philosophieren sollte.

Neben dem technischen Fortschritt ist die Eisenbahn auch ein Sinnbild der industriellen Revolution in Europa. In Carl Spitzwegs Gemälde "Gnom, Eisenbahn betrachtend" führt der Blick am Märchenwesen aus der alten Zeit durch einen Höhleneingang nach draußen auf eine sonnenbeschienene Landschaft, durch die eine Eisenbahn fährt und ein neues Zeitalter ankündigt.


Kein Wunder, dass dieses Werk der Technik auch die Künstler des Futurismus und des Kubismus beeindruckte, wie etwa den ungarischen Maler Sándor Bortnyik oder den italienischen Futuristen Ivo Pannaggi. Die Zukunft bewegte sich auf Schienen. Es war daher auch eine naheliegende Wahl, als die Brüder Lumière eine Eisenbahn zur Protagonistin eines ihrer ersten Kurzfilme machten, den sie mit ihrem neu erfundenen Kinematographen präsentierten.

Eines der ersten naturalistischen Gemälde eines Eisenbahnzuges stammt von Adolph von Menzel. Der Wahlberliner, der vor allem als Preußenmaler und für seine Historienbilder bekannt ist, war durchaus auch an der Darstellung der eigenen Zeit interessiert. Ganz im Sinne des Realismus finden sich in seinem Werk auch Bilder der Eisenbahn – von außen und von Innen.

Als regelmäßiger Nutzer der 1838 neu eröffneten Bahnverbindung Berlin-Potsdam wurden seine Mitreisenden zu dankbaren Motiven. Sein Porträt des Verkehrsmittels selbst von 1847 ist als erstes deutsches Gemälde eines Zuges in "freier Wildbahn" ein Vorbote der industriellen Entwicklung und der Veränderung der Landschaft, die sie mit sich brachte. Etwa 20 Jahre später schuf der dänisch-französische Impressionist Camille Pissarro mit seinem Gemälde "Lordship Lane Station, Dulwich" nicht nur ein Abbild der zu dem Zeitpunkt gerade eröffneten Bahnlinie, sondern auch ein Symbolbild für den Einschnitt in die Natur, den die neuen Bahnstrecken bedeuteten.


Sein Impressionisten-Kollege Claude Monet, dessen Gartenlandschaften und Seerosenteiche besonders bekannt sind, war jedoch ebenso fasziniert von Zügen. 1877 mietete Monet ein Atelier in der Nähe des Pariser Gare Saint-Lazare. In den nächsten Jahren entstanden 12 Gemälde, die die Station zeigen, unter anderem "Ankunft des Zuges aus der Normandie" (1877).

Monets Interesse galt in jener Zeit der Entwicklung von Paris als Stadtlandschaft. Der Bahnhof hatte für den Maler eine besondere Bedeutung, stellte er doch eine direkte Verbindung – metaphorisch wir tatsächlich – zwischen Paris und der Normandie her, die sein Werk in den 1860ern geprägt hatte. Aber auch der Dampf der Lokomotive faszinierte ihn. Ein Symbol der Industrialisierung schlechthin, hatte er trotzdem etwas Natürliches, stand im starken Kontrast zum eisernen Panzer der Dampflok und fügte sich, wie ein Naturschauspiel, in die Landschaft ein. In Edvard Munchs "Lokomotivrauch" von 1900 ist die Quelle des Qualms kaum mehr selbst zu sehen, dafür sitzt der Rauch wie eine Wolke im Zentrum des Bildes.


Auch in mehreren Arbeiten von Thomas Hart Benton, die das Neue Amerika darstellen, nimmt die Dampflokomotive eine prominente Rolle ein – von dem Zyklus "America Today" von 1930/31 bis zum Gemälde "The Source of Country Music" von 1975. In den Fotografien von O. Winston Link aus den 1950er Jahren ist der Rauch mal schwarz, mal weiß, je nachdem ob auf den Bildern Tag oder Nacht ist.

Die Züge passieren die Städte der US-amerikanischen Peripherie, als wären es Schauspieler, die ein Bühnenbild durchqueren. Zur etwa gleichen Zeit schuf der Züricher Fotograf René Groebli poetische Schwarz-Weiß-Bilder und  brachte 1949 einen Band mit dem Titel "Magie der Schiene" heraus, das wie ein Storyboard für einen dramatischen Film noir erscheint.

Bei den Berliner Künstlern kurz nach 1900 waren Eisenbahnen ebenfalls ein beliebtes Motiv. Ernst Ludwig Kirchner, dessen Gemälde wie etwa "Nollendorfplatz" oder "Potsdamer Platz" das Bild der Großstadt par exemple geprägt haben, setzte sich in den 1910er- bis -20er-Jahren mit den gesellschaftlichen – und damit auch technischen – Umbrüchen in der Hauptstadt auseinander. Statt Eisenbahnen sieht man bei ihm jedoch vor allem die Stadtbahn, die bis heute die weitläufigen Viertel Berlins verbindet und zur Deutschen Bahn gehört.

Soziale Unterschiede

Im Werk von Hans Baluschek ist die Eisenbahn besonders prominent vertreten. Das mag auch an der Familiengeschichte des Secessions-Künstlers liegen. Als Sohn eines Ingenieurs entwickelte er früh ein Interesse für das Fortbewegungsmittel, das vor allem nach dem ersten Weltkrieg einem strukturellen Wandel unterzogen war. Für den Künstler, der später von den Nationalsozialisten als Marxist diffamiert wurde, war auch das Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter, die am Rand der Großstadt lebten, ein wichtiges Motiv.

Ähnlich wie Max Liebermann war Baluschek daran interessiert, die Klassenunterschiede in seinen Arbeiten aufzuzeigen. In seinem Bild "Eisenbahner-Feierabend" von 1895 wird das besonders deutlich: Die industrielle Revolution brachte für viele nicht den erhofften Wohlstand, sondern Leben in Armut trotz schwerer Arbeit. Sichtlich erschöpft laufen die Eisenbahn-Arbeiter in Baluscheks Gemälde durch einen Graben neben ihren Familien nach Hause. Ähnlichen Themen widmete sich auch die kommunistische Künstlerin Käthe Kollwitz, etwa in Ihrem Aquarell "Arbeiter vom Bahnhof kommend (Bahnhof Prenzlauer Allee)", das zwischen 1897 und 1899 entstand.


Der französische Künstler Honoré Daumier ist vor allem für seine Karikaturen der Pariser Gesellschaft und des französischen Bürgertums bekannt. Mit gleich mehreren Bildern mit dem Titel "Wagen dritter Klasse" setzte er jedoch eine andere Schicht in den Fokus – und veranschaulichte, dass sich auch beim Reisen Klassenunterschiede zeigen.

Heute gibt es in deutschen Zügen keine dritte Klasse mit Holzbänken mehr. Überall erwarten einen gepolsterte Sitze und im besten Fall eine funktionierende Klimaanlage und manchmal sogar W-Lan. Trotzdem ist und bleibt Bahnfahren eine Geldfrage. Wer es sich leisten kann und konnte, für den war das Zugfahren zu jeder Zeit eines der bequemsten Fortbewegungsmittel.

In dem Gemälde "Die Reisegefährtinnen" des viktorianischen Künstlers Augustus Leopold Egg sitzen sich zwei junge Frauen, womöglich Schwestern, gegenüber, eine schlafend, die andere lesend. Auf den ersten Blick erscheint das private Abteil erster Klasse wie das Innere einer Kutsche. Ungestört gehen die beiden Reisenden ihren Freizeitbeschäftigungen nach, während vor dem Fenster die französische Riviera vorbeizieht.

Im Waggon steht die Zeit still

Auch in zeitgenössischen Werken aus Malerei und Fotografie ist die in Gedanken versunkene oder lesende Eisenbahn-Passagierin (vorzugsweise weiblich) ein beliebtes Sujet. Das Motiv knüpft an das der Passante in der Literatur an, einer weiblichen Spaziergängerin und zugleich unfassbaren Schattenfigur.

Steht die einsame Frau im Bahnwagon meist für eine Unbekannte, zeugt das Porträt "Afternoon Train to Mumbai", das die britische Fotografin Siân Davey von ihrer Stieftochter gemacht hat, von Intimität. Den Blick nach unten gewandt, scheint das Modell die Fotografin nicht zu bemerken. Ihre mit einem gelbem Tuch bedeckten Schultern werden von der einfallenden Sonne beschienen, das Gesicht liegt im Dunkeln. Im Waggon steht die Zeit still, es ist ein Transitraum zwischen Abfahrts- und Ankunftsbahnhof, in dem man sich dem Alltag entzieht.


Während die Fahrt mit dem Fernzug "California Zephyr" in den USA mit seinen Panorama-Fenstern hauptsächlich des Ausblicks wegen gebucht wird – und nicht, um möglichst schnell am Ziel anzukommen – und die Österreichische Bundesbahn den Nachtzugverkehr ausbaut, hat die Deutsche Bahn die eigenen Schlafwägen aus dem Angebot verbannt. Trotzdem ist das Zugfahren für viele immer noch mit Entspannung verbunden und – ironischerweise – mit Entschleunigung.

Das mag auch an Bildern wie den kontemplativen Gemälden Edward Hoppers liegen. Obwohl die leeren Zugabteile, die mehreren seiner Bilder als Kulisse dienen, traurigerweise nicht der Realität des 9-Euro-Sommers entsprechen, stimmen Hoppers Gemälde nostalgisch. Mal sitzen vereinzelt Passagiere in breiten Sesseln, die Sonne scheint durch die Fenster hinein, mal liest eine Frau in einem verlassenen Wagen unter dem Neonlicht, während der Zug durch die Nacht fährt. Aber auch die Dampflok selbst faszinierte den Amerikaner, wie Radierungen und Gemälde aus der Sammlung der Metropolitan Museum of Art beweisen.

Zuletzt sei hier noch ein Werk des dänischen Malers Lauritz Andersen Ring genannt. Auch wenn darauf streng genommen die Eisenbahn selbst kaum zu erkennen ist, geht es in "Der Eisenbahnwärter" von 1884 um einen Aspekt des Zugfahrens, der vielen als erstes in den Sinn kommt, wenn sie an die Deutsche Bahn denken: Das Warten. Auch das spielt im Sommer 2022 eine Rolle: man wartet auf Regionalexpresse - und auf eine Anschlusslösung für bezahlbaren Nahverkehr.