Halit Yozgat kannten sie alle. Der eine hat ihn durch Kassel chauffiert, der andere war oft in seinem Internet-Café an der Holländischen Straße zu Gast. Und auch an den 6. April 2006 haben die befragten Minicar-Fahrer ziemlich genaue Erinnerungen. Wenn irgendwo in der Innenstadt eine wichtige Verkehrsachse durch einen Polizeieinsatz gesperrt wird, kriegen es zuerst die mit, die beruflich mit dem Auto unterwegs sind.
Dass an dieser Stelle im Kasseler Norden der Unternehmer Halit Yozgat vom rechtsterroristischen NSU ermordet worden war, wurde jedoch erst sehr viel später klar. Zuerst ermittelte die Polizei im familiären Umfeld des Opfers, ging von einer Tat im Milieu des organisierten Verbrechens aus. "Alle dachten: Das musste ja was mit 'Ausländer-Kriminalität' zu tun haben", sagt eine Stimme aus dem Radio. Dass die Möglichkeit eines rassistischen Hintergrunds lange nicht in Betracht gezogen wurde, erschüttert die migrantische Community in Nordhessen noch heute.
Das alles kann man erfahren, wenn man sich in Kassel in diesen Tagen ein Minicar bestellt. Die Autos dieses Fahrdienstleisters (so etwas wie eine lokale Version von Uber) sind gerade ein mobiler Documenta-Standort, in dem auf Wunsch eine Sound-Installation von *FoundationClass*Collective läuft. Mitglieder des Berliner Kollektivs, das im Umfeld der Kunsthochschule Weißensee entstanden, inzwischen aber unabhängig ist, sind in den Monaten vor der Weltkunstschau viel auf den Straßen der Stadt unterwegs gewesen. Dabei haben sie die Fahrer und Fahrerinnen ihrer Minicars interviewed und sich von ihnen an besondere Orte fahren lassen. Daraus sind zehn Toncollagen entstanden, die sich mit Themen wie Heimat, Lieblingsmusik und den Beziehungen zu Passagieren beschäftigen. Aber auch Politisches wie der Mord an Halit Yozgat und Kassel als Stadt der Rüstungsindustrie wird besprochen.
"Es treffen sich Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen"
Es ist eigentlich eine Binsenweisheit und ein Touristen-Klischee, dass man einen Ort am besten durch seine Taxifahrer kennenlernt. Doch das *FoundationClass*Collective, das sich mit Barrieren und Zugangsbeschränkungen im Kunstbetrieb auseinandersetzt, sah in dem Kasseler Fahrdienstleister Verbindungen zur eigenen Arbeit. "Minicar Citycar Kassel wurde 1963 gegründet und einige Jahrzehnte später von der Familie Çakır übernommen", heißt es in der Projektbeschreibung. "Ähnlich wie das *FoundationClass*Collective setzt sich das Unternehmen vor allem aus Menschen zusammen, die nach Deutschland migriert sind."
Auch die Künstlerin Miriam Schickler, die das Foundation-Class-Programm an der Kunsthochschule Weißensee mit aufgebaut hat, sieht in der Kollaboration viele Gemeinsamkeiten. "Sowohl bei Minicar als auch bei uns treffen sich Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen", sagt sie. "Es hat uns interessiert, diese verschiedenen Blickwinkel auf eine Stadt zu sammeln und uns Kassel durch eine postmigrantische Perspektive zu nähern."
Track sieben, den man sich im Wagen wie bei einem motorisierten DJ wünschen kann, beschäftigt sich mit dem Messerangriff auf einen Minicar-Fahrer. Im Juni 2020 wurde dieser von einem Kunden zuerst rassistisch beleidigt und dann in den Hals gestochen. Bis heute kann Efe, der auch selbst in dem Stück zu Wort kommt, nicht wieder arbeiten. "Das Vertrauen ist weg", sagt er mit müder Stimme. Auch seine Kollegen hat die Tat mitgenommen: "Wer behauptet, dass er keine Angst hat, der lügt", sagt einer von ihnen aus den Lautsprechern. Dass die Fahrer trotz ihres manchmal einsamen Arbeitsplatzes im Auto auch eine Gemeinschaft sind, zeigte sich in mehreren Solidaritätsaktionen, die sie für Efe organisiert haben. Der Täter ist bis heute nicht gefasst.
Investitionen in ein lokales Netzwerk
Um all diese Geschichten zu hören, muss man sich ziemlich lange fahren lassen, insgesamt sind die zehn Stücke über eine Stunde lang. Ein Minicar zu rufen ist etwas günstiger als eine traditionelle Taxifahrt (die Taxibranche sprach schon von "ruinöser Konkurrenz"), verursacht aber natürlich trotzdem zusätzliche Kosten. Die Reise durch Kassel ist im Documenta-Ticket nicht inklusive, sodass das Kunstwerk selbst eine finanzielle Barriere beinhaltet. Im Sommer des 9-Euro-Tickets und der Verkehrswende-Debatte wirkt das Herumcruisen mit dem Auto außerdem nicht gerade wie ökologische Avantgarde.
Andererseits passt die Idee zum Konzept der Documenta Fifteen, dass die Kunst auch zu Investitionen in ein lokales Netzwerk führen soll. Die vielen Interview-Fahrten des *FoundationClass*Collectives wurden normal bezahlt, sodass Produktionsbudget der Ausstellung in ein einheimisches Unternehmen geflossen ist.
Ähnlich wie beim Straßenmagazin "Asphalt", das ein offizieller Kooperationspartner der Documenta ist, können die Besucherinnen und Besucher auch hier mit ihren Kunst-Touren nach eigenem Ermessen und Vermögen eine nordhessische Institution unterstützen, die im Leben vieler Kasseler eine Rolle spielt. Dabei können die Sound-Schnipsel aus dem Autoradio auch ein Anfangspunkt für eigene Recherchen sein. Selbst mit dem Fahrer oder der Fahrerin zu reden, ist natürlich erlaubt.