"Rah, rah-ah-ah-ah." Nach Freiheit gierend tanz Lady Gaga gegen ein statisches Skulpturenkleid des Londoner Designers Gareth Pugh an, das sie scheinbar gefangen hält. Mit seiner Unbeweglichkeit und klaren Form erinnert es nicht nur an das Triadische Ballett Oskar Schlemmers, sondern insbesondere an die retro-futuristische Bühnenkleidung von Klaus Nomi. Der deutsche Countertenor hatte es in New York mit seinem New-Wave-Opernstil bis auf David Bowies Bühne gebracht. "Roma, roma-ma."
So wie Nomis Texte an die Dichtkunst Hugo Balls erinnerten, singt auch Lady Gaga ekstatisch zuckend ihr Lied "Bad Romance" im Dada-Stil. Aus den Auftritten Nomis, der ein schweres und kurzes Leben führen musste, sprach die Sehnsucht nach dem Ausbruch, die sich auch Gaga in diesem Moment zu Anfang ihres Welttournee-Auftakts vor 46.000 Menschen in Düsseldorf von der Seele sang.
Vielleicht kann die Sängerin wie kaum ein anderer verstehen, was Nomi fühlte, der an klassischen Opernhäusern trotz großen Erfolgen stets auf Ablehnung gestoßen war und immer wieder um den Respekt kämpfen musste, der ihm aufgrund seines Status' als Popkünstler so oft verwehrt wurde. Denn obwohl und gerade weil Gaga auch jenseits der Musik zu den prägendsten und bekanntesten Vertreterinnen der Kunst unseres Jahrhunderts gehört, wurde sie zu Anfang ihrer Karriere als Popstar häufig wenig ernstgenommen und in Rollen gedrängt, die ihr fremd waren.
Kathartische Entwicklung auf der Bühne
Dass Kunst, wenn sie populär ist, nicht weniger Respekt verdient, propagierten schon Pop-Art-Künstlerinnen und -Künstler der 1950er- und 60er-Jahre. Den endgültigen Beweis dafür legt nun Lady Gaga vor – spätestens mit ihrer aktuellen Show namens "Chromatica Ball".
Ganz tief greift sie in das ästhetische Repertoire der Kunstgeschichte, der Popstarkultur des jungen Jahrtausends und der performativen Traditionen, die sie selbst am Anfang ihres Schaffens etablierte. Damit treibt sie eben jenes Spiel auf die Spitze, das für Christoph Jacke, Professor für Populäre Musik und Medien in Paderborn, gelungenen Pop ausmacht: Dieser bediene sich "stets an anderen (Pop-)Kulturen in Klängen, Bildern, Images und Geschichten“, sagt er im Gespräch mit Monopol. "Zitat, Remix, Andeutungen gehören zwingend zur Mischkultur Pop, mal als Tribut, als Erweiterung, als Parodie oder Pastiche."
Am Ende von "Bad Romance" bricht Pughs Kleid in zwei Teile und gibt Gaga frei. In den fünf Akten, die nun folgen, präsentiert sie ihre kathartische Entwicklung von der beschriebenen Krise im ersten Akt bis zu ihrer Heldinnenbehauptung als Künstlerin des Pop und der Hochkunst sowie privat als "geheilte", starke Person. "Es gab eine Zeit, in der ich dachte, ich würde nie wieder auf der Bühne stehen", erklärt sie. Dafür, dass ihr dies nach vier Jahren ohne Welttournee wieder möglich ist, dankt sie ihren Fans in einem emotionalen Appell: "Ihr sagt, ich habe euch viel darüber beigebracht, euch selbst zu lieben. Aber ihr habt auch mir viel darüber beigebracht, mich selbst zu lieben."
Dieses Spannungsfeld der Liebe für sich selbst und andere ist auch das Gefühl, auf das sich der komplexe Mikrokosmos des Konzerts reduzieren lässt. Düster ist die Welt, die Lady Gaga für ihre Show geschaffen hat. Wie schon in früheren Jahren ihrer Karriere ist die Liebe versteckt hinter einer Kruste aus Härte, Lack, Leder, Fetisch und Blut.
Die szenografische Gestaltung des Bühnenbilds verriet schon vor Beginn des "Balls", auf welche Art von Show sich die "Little Monsters", wie sich Gagas Fans gern nennen, einstellen können. "Die Bühne wurde von brutalistischer Architektur, Materialien, Texturen, Grobheit und Transparenz inspiriert", sagte Lady Gaga in einem Livestream am Tag der Show. Die Szenerie, die auch Fritz Langs "Metropolis" entsprungen sein könnte, stellte sie als "Museum der Brutalität" vor.
Auf drei riesigen Bildschirmen erscheinen immer wieder aufwändig produzierte Filme und Visuals sowie häufig auch Nahaufnahmen der Hauptfigur: Big Gaga is watching you. Zu der visuellen Strenge passt das Emblem, das zu Beginn der Show zu sehen ist: ein Schatten, zackig, schwarz, wie das Kind einer Alexander-Calder-Skulptur mit einem Pokémon und hohen Schuhen. Ansonsten trägt Gaga an dem Abend dicke Boots, die ihrer Präsenz noch mehr Stärke verleihen.
"Es ist diese Ästhetik, in die wir uns verliebt haben"
Unter ihren Fans wurde diese Härte als eine Art nostalgische Rückbesinnung auf die frühen Jahre ihres Schaffens aufgefasst. "Die dunkle Ästhetik ist etwas, das Gaga zurück zu ihren Wurzeln bringt", sagt Lewis Lockwood, der schon seit dem Jahr 2009 ein "Monster" ist und dem Gaga längst persönlich auf Twitter folgt. "Es ist diese Ästhetik, in die wir langjährigen Fans uns einst verliebt hatten." Gerade deshalb wirke der Star für ihn wieder glücklich und frei. "Ihre Wiederaufnahme dieser Dunkelheit stimmt mich nostalgisch", erklärt er.
Lockwood bezieht sich auf die jungen Jahre von Lady Gagas Schaffen, in denen sie sich auch jenseits des Pop als Weltkünstlerin etablierte. Schon zu Zeiten des Albums "The Fame Monster“ (2009) hatte sich ihre Handschrift verdüstert, um dann in ihrer "Born this Way“-Zeit (2011) ihren dunkelsten Punkt zu finden.
Inspiriert hatte sie dazu unter anderem eine Reise in das Land, in dem sie nun ihren Tour-Auftakt feierte: Das Berliner Nachtleben mit seiner intensiven Welt aus Techno, Hedonismus, Liebe und Fetisch hatte sie 2010 in ihren Bann gezogen und unter anderem zu ihrem punkigen Lied "Scheiße" inspiriert. Zusätzlich fasziniert hatte sie damals das Album "Transphormer" der Techno-Produzenten Jörn Elling Wuttke und Roman Flügel (Alter Ego).
Heilung und "Kampf um das Leben"
Nach ihrem Album "Artpop" (2013) und spätestens seit "Joanne" aus dem Jahr 2016, das weitgehend auf ihre bislang charakteristischen harten Elektroklänge verzichtete, hatte Lady Gaga lange eine sanftere Seite von sich gezeigt. Die Release-Ästhetik ihres aktuellen Albums "Chromatica", das bereits im vergangenen Jahr von vielen als Rückbesinnung wahrgenommen wurde, war hingegen von einer grellen Cyberpunk-Optik geprägt, die die 36-Jährige mit ihrer aktuellen Show nun neu interpretierte und sich damit bereits wieder von ihrer Kunst aus 2021 emanzipiert.
Trotz der Verweise auf Gagas düstere Schaffensjahre zwischen 2009 und 2011 stellt der "Chromatica Ball" einen radikalen Neuanfang dar. Hinter all den Kostümen und Kulissen steht die Geschichte einer persönlicher Heilung. Während sie mit ihrem Hit "Born this Way" (2011) Millionen Fans aus der LGBTQ+-Community Mut machte, mangelte es Lady Gaga, bürgerlich Stefani Germanotta, offenbar oft selbst an diesem. Dass sie sich nun, wie sie sagt, selbst lieben kann, verleiht ihr eine Position der Stärke, die aus jedem Tanzschritt und jedem Ton spricht.
"Die Show dokumentiert die vielen verschiedenen Stadien innerhalb der Trauer und die manische Energie daraus, die ich in meinem Leben erlebt zu haben glaube", sagte Lady Gaga am Tag des Tour-Auftakts. Als sie das Album "Chromatica" produzierte, habe sie um ihr Leben gekämpft. Diesen Gedanken nimmt auch ein Gedicht auf, das Gaga in einer Videoinstallation am Ende der Show vorträgt: "Dieses Leben ist nur Kunst am Lebenserhalt, und die Natur ist ein Ritter, kein König oder Hofstaat."
"Eine wunderschöne Abstraktion"
"Aus meiner Sicht war der Chromatica Ball eine ehrliche Darstellung von Gagas ständigem Kampf mit ihrem Trauma, ihrer Identität und ihrer Beziehung zum Ruhm", sagt der Designer und Illustrator Khoa Diep, der ebenfalls seit langer Zeit Fan ist und sich von ihrer Kunst immer wieder zu eigenen Arbeiten inspirieren ließ. "Die Show war eine brachiale Reflexion ihrer Person als Künstlerin durch wunderschöne Abstraktion."
Noch in den Texten zum jüngstem Album besprach Lady Gaga die psychischen Probleme, die durch ihren Ruhm ausgelöst worden waren. Auf ihrer Tour beschreibt sie nun das Lossagen von diesen Schatten. Nach dem beschrieben ersten Akt beginnt sie im zweiten scheinbar den "Kampf um ihr Leben", den sie schließlich im dritten Akt gewonnen zu haben scheint: Gekleidet in einem goldenen Outfit von Alexander McQueen verlässt sie die Bühne und startet eine Siegesparade inmitten der zehntausenden von Fans auf der Tanzfläche.
Nachdem sie dieser Freude im vierten Akt weiteren Ausdruck verleiht, feiert sie zum Abschluss ein euphorisches Finale, in dem sie ihre Fans dazu aufruft, es ihr gleichzutun und die Hoffnung auf eine positive persönliche Zukunft nicht aufzugeben: "Auch Monster können heilen", schrieb sie ihren Fans auf Twitter.
Zeichen der Heilung
Im Sinne dieses Heilungsprozesses stecken hinter vielen der dunkel-brutalen Elemente Zeichen der Hoffnung und der Liebe. Ein Beispiel dafür ist ein blutrotes Chiffonkleid, das Gaga trägt, während sie sitzend auf einer Schräge im Stil einer OP-Liege oder eines Altars ihren Song "Alice" performt. Die Anordnung und raffinierte Vernähung metallisch schimmernder Stoffe in verschiedenen Rot- und Violetttönen lässt das Kleid fleischig, nass-blutig und statisch erscheinen, während das Material aus näherer Perspektive leicht und flexibel ist.
Während der erste Eindruck düstere Assoziationen weckt, verweist das Kleid wohl nicht zuletzt auf Gagas Liebe zu ihrer Familie. Es wurde angefertigt von ihrer Schwester Natali Germanotta, die ein Label namens Topo Studio besitzt. Während der Oscarverleihung 2019 sagte Gaga einst über sie: "An meine Schwester, meine Seelenverwandte, ich liebe dich."
Während Lady Gaga sich bei ihrer perfektionierten stimmlichen Performance nur auf sich selbst verlassen kann, erhält sie bei der visuellen Gestaltung ihrer Show seit vielen Jahren Unterstützung von einem Künstlerkollektiv, das sie leitet. Dessen Name, Haus of Gaga, nimmt Bezug auf die interdisziplinäre Arbeitsweise im berühmten Bauhaus. Auf dem "Chromatica Ball" wolle sie "durch Abstraktionen und Kunst eine Geschichte erzählen", erklärte Gaga ihren Fans auf Instagram. "Die Show zelebriert Dinge, die ich schon immer geliebt habe, wie Kunst und Mode, Musik und Technologie, Poesie – und wie all diese Dinge zusammenwirken."
Gemeinsam entwickelt das "Haus" seit Jahren Werke, die Kunstkenner ebenso abholt wie Millionen Menschen, die sich sonst nie bewusst bildender Kunst widmen. Mit dem "Chromatica Ball" erreicht sowohl die künstlerische Kreation wie auch die Verweise auf bekannte Werke der Kunstgeschichte eine neue Dichte und Qualität.
"Ich habe im Laufe der Jahre viel über verschiedene Künstler sowie Modedesigner und über ihre Kunst gelernt – vor allem, wenn Gaga solche Referenzen in ihrer Musik beziehungsweise ihren Projekten integriert", sagt Fan Lockwood. Sofort fallen ihm viele Beispiele ein. "Während der Artpop-Ära hat sie etwa mit Botticelli experimentiert und ein berühmtes Gemälde in Zusammenarbeit mit Robert Wilson für den Louvre nachgestellt."
Gaga verteilt Anerkennung
Diesen Spagat zwischen Pop und Hochkultur sieht auch Kirill Nguyen von der eigene Angaben zufolge größten Fanpage der Sängerin namens "Gaga Daily": "Lady" und "Gaga", beides sei Teil ihrer Persönlichkeit. Besonders zeige das der ruhigere Klavierteil der Show. "Gaga singt 'Shallow' – ihren wohl größten Publikumshit, der inzwischen ein fester Bestandteil von Hochzeiten und Karaoke-Abenden ist –, während sie als Alien verkleidet ein Bein in die Luft hält", sagt Nguyen. Für ihn sei das die "perfekte Darstellung ihrer künstlerischen Position im Jahr 2022."
Dass es Lady Gaga nur in Zusammenarbeit mit ihren vielen Kolleginnen und Kollegen möglich war, sich in Kunstgeschichte und Kunsterbe einzuschreiben, scheint sie genau zu wissen. Immer wieder spricht sie über Haus of Gaga, als sei das Kollektiv ihr ebenbürtiger Partner. Nach dem "Chromatica Ball" markierte sie eine große Anzahl an mitwirkenden Künstlerinnen und Künstler auf einem Instagramfoto, schrieb: "Ich bin allen so unglaublich dankbar, die mit mir an dieser Show gearbeitet und mir geholfen haben, eine Vision von Freiheit und Freude auszudrücken. Ich werde all die harte Arbeit, die wir als Team geleistet haben, nie vergessen."
Vielleicht ist hier der Grund dafür zu finden, warum Gaga nie in der Form kritisiert wurde, wie etwa Madonna, der Aneignung vorgeworfen wurde, als sie sich dem Vogeuing widmete. Und das, obwohl "der Verdacht der Ausbeutung automatisch größer" scheint, "wenn es sehr erfolgreiche Acts sind", wie Popexperte Christoph Jacke erklärt. Lady Gaga gibt Anerkennung an andere Künstlerinnern und Künstler. Ihr Team ist oft selbst Teil der Community, deren Werke und Praktiken sie zitiert. So gibt sie der Kunst ebenso viel zurück, wie sie ihr entnimmt.