Villa-Massimo-Stipendiat Carsten Saeger

"Ich brauche kein Spektakel"

Carsten Saegers Arbeit zielt auf die Konstruktion individueller und kollektiver Erinnerungen. Als Villa-Massimo-Stipendiat realisierte der Künstler jetzt eine Performance im Römischen Nationalmuseum. Die Proben sind Teil des Werkes. Unsere Autorin begleitete den Prozess über die letzten Monate

Es ist regelrecht Platzangst, die Carsten Saeger spürt, als er sein Atelier auf dem Gelände der Villa Massimo zum ersten Mal betritt. 900 Quadratmeter Grundfläche, neun Meter Deckenhöhe. Zehn Monate bleiben ihm, um die Leere zu füllen. Der Künstler gehört zu den sogenannten "Rom-Preisträger:innen" der Bundesrepublik Deutschland, denen ein Aufenthalt in der deutschen Akademie in Rom Inspiration und künstlerische Orientierung ohne finanzielle Engpässe ermöglichen soll. Monatlich gibt es 2.500 Euro, ein Atelier mit angrenzender Wohnung und die Option, dass die Bundesbehörde die Kosten für Neuproduktionen trägt. Das Stipendium ist das beliebteste und prestigeträchtigste Deutschlands, auch weil Lebenspartner und Kinder nicht nur geduldet, sondern explizit willkommen sind.

Abgesehen von diesen – im Vergleich zum normal-prekären Dasein von Künstlerinnen und Künstlern – paradiesischen Bedingungen reizt Carsten Saeger die Stadt. Er verehrt italienische Filme, "Pasolini war für mich schon immer eine interessante Persönlichkeit." Im Januar 2020, noch vor Beginn der Pandemie, hat er die Bewerbung abgeschickt. An einem lauen Sommertag klingelt sein Handy: Er gehört zu denen, die nach Meinung der hochkarätigen Jury in den Bereichen Bildende Kunst, Architektur, Literatur und Komposition über außergewöhnliche Qualifikationen und großes Talent verfügen und im September 2021 nach Rom ziehen dürfen.

Manche nutzen die Luxus-Zeit, um sich lang aufgeschobenen Projekten zu widmen. Endlich den Roman fertig schreiben, die Komposition beenden. Carsten Saeger will eine neue Arbeit entwickeln. Wasser soll eine Rolle spielen. Wir verabreden, uns regelmäßig über seine Zeit in der Villa auszutauschen. Die Produktion ist in seinem Werkverständnis explizit Bestandteil des finalen Produkts und er ist gern bereit, andere an diesem Prozess teilhaben zu lassen.

Carsten Saeger, geboren 1988 in Halle an der Saale, studierte Kommunikationsdesign an der Burg Giebichenstein und machte sein Diplom im Bereich Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Dort haben wir uns vor ein paar Jahren kennengelernt. Als er 2019 den Bundespreis für Kunststudierende gewann, schrieb ich für den Katalog einen Text über seine bisherigen Installationen und Performances, die Körper, Identität und Erinnerung thematisieren. Historisch aufgeladene Orte sind oft Ausgangspunkte seiner Arbeiten, ob Denkmäler zur Völkerschlacht in Leipzig oder die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, von 1945 bis 1989 der größte Grenzübergang an der innerdeutschen Grenze. Dort stellte er Gesten eines Grenzsoldaten nach. Es war der Versuch, mit seinem Körper an die Erfahrungen seines Vaters anzuknüpfen, der als Grenzsoldat täglich dem Szenario ausgeliefert war, einem Schießbefehl Folge leisten zu müssen. Der Körper ist für Carsten Saeger Schnittmenge und sozialer Katalysator, ein Vermittler zwischen gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Wirklichkeiten.

Nun also Rom. Noch in Deutschland hat er angefangen zu recherchieren und ist auf eine Verbindung nach Sachsen-Anhalt gestoßen: Im Gartenreich Dessau-Wörlitz, ein 1765 nach englischem Muster angelegter Park, liegt das Abbild der Nymphe Egeria. Vorbild war das antike Nymphäum der Egeria an der Via Appia in Rom, ein beliebtes Ausflugsziel im 18. und 19. Jahrhundert. Sogar die zuständige Konservatorin des Gartenreiches hatte er schon getroffen. Doch kaum in Italien angekommen wird klar, dass das Original ihn künstlerisch nicht weiterführt. Wie der Zufall so will, bezieht die Villa Massimo ihr Wasser von der Egeria-Quelle und lässt sich die Glasflaschen in blauen Kästen direkt aufs Gelände liefern. Carsten Saeger bestellt 50 Stück á 12 Flaschen. Wenn er jeden Tag zwei Liter trinkt und ab und zu eine Flasche verschenkt, sollten diese 600 Liter seinen Wasserverbrauch für die kommenden zehn Monate abdecken. Die Kästen sind zugleich temporäre Installation und seine persönliche Wasseruhr für das komprimierte Elite-Leben auf Zeit. Und sie füllen den leeren Atelierraum, mit dem er noch nichts anzufangen weiß.

Er braucht etwas, um die Institution kennenzulernen und deren spezielle Beziehung zwischen repräsentativer Behörde und Künstlervilla zu verstehen. Plötzlich ist er Staats-Künstler. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident a. D. Christan Wulff schauen mehr oder weniger spontan vorbei. Und bei aller Freiheit, die die Villa Massimo ihren Preisträgerinnen und Preisträgern ermöglicht, geht das Stipendium auch mit gewissen Erwartungen einher. "Closed Studios Welcome" heißt es am 28. Oktober 2021. Pandemiebedingt dürfen Gäste die Ateliers nicht betreten, sondern nur durch die geöffneten Türen hineinschauen. Carsten Saeger nutzt die Gelegenheit für ein erstes Statement und stellt diese seine Bühne einem italienischen Drag-Performer zur Verfügung, den er im Nachtleben kennengelernt hat. "Für mich war das ein schöner Moment, die Großzügigkeit des Studios zu teilen. Da habe ich mich gleich wohler gefühlt."

Perla Madonna stellt dann doch noch die Verbindung in den deutschen Osten her: Als Nymphe verkleidet gibt sie italienische Schlager zum Besten. Auch den Song "Alexanderplatz", den Milva, die Grand Dame der italienischen Disco-Musik, 1988, dem Geburtsjahr von Carsten Saeger, im Palast der Republik in Ost-Berlin performt hat. Eine Überlagerung von Bildern der Vergangenheit und der jetzigen Situation, ein Spiel mit dem Modus des Entertainments, während Gäste mit dem Sektglas in der Hand von Studio zu Studio laufen. Auch Community und Safe Space sind Themen. Denn auf den Bildern und zwischen den Skulpturen in Roms Kirchen laufe zwar ein regelrechter Erotikfilm, "aber die Gesellschaft ist doch relativ zugeknöpft und die queere Community führt eher ein Schattendasein". Carsten Saeger ist es wichtig, die Stadt von Beginn an auch aus dieser Perspektive wahrzunehmen und das Gelände der Villa regelmäßig zu verlassen. Das ist gar nicht so leicht: Der schlechte öffentliche Nahverkehr in Rom verführt dazu, vor allem die Ruhe der etwas außerhalb des Zentrums liegenden Anlage mit großem Garten zu genießen.

Am 1. Februar 2022 ist Halbzeit. 15 Uhr Anruf in Rom. Carsten hat sich einen Kaffee gekocht und freut sich über die Sonne, die durch die verglaste Front ins Atelier scheint. Ich sitze im grauen Winterwetter in Leipzig. Die Pandemie ist in unser beider Alltag noch immer präsent. Über den Jahreswechsel gingen in Rom die Zahlen hoch, viele waren mit sich selbst beschäftigt. Auch Carsten erwischte Corona und er musste sich in Quarantäne begeben. Nach der energieaufgeladenen Atmosphäre der ersten Monate plötzlich so extrem mit sich selbst konfrontiert zu sein, "das war schon ein Wendepunkt."

In den ersten Monaten hat er sich in die Sicherheit des Aufenthalts fallen lassen. Er brauchte Zeit, sich einen Alltag aufzubauen: Montags und mittwochs fährt er nun zur Sprachschule und verbindet die Tour immer mit einem Museumsbesuch. "Die Sprache zu lernen war wichtig, um noch näher am Lebensgefühl dran zu sein und nicht als totaler Außenseiter durch Rom zu wandeln." Zu Beginn hat er Rom mit Samthandschuhen angefasst. Jetzt stürzt er sich rein, geht spazieren, ist angekommen. Mit dem Rad, das unabgeschlossen vor dem Studio lehnt, geht es am Trevi-Brunnen vorbei. Die Touristenattraktion ist nun Alltagskulisse und die Polizisten, die das Radfahren hier verbieten, nervige Banalität.

Mitte Mai sitze ich im Flieger nach Rom. Für eine Woche hat Direktorin Julia Draganović mich in die Villa Massimo eingeladen. Länger sollen Besuchende laut Hausordnung hier nicht verweilen, um den Studienbetrieb nicht zu beeinträchtigen. Die Anlage ist paradiesisch schön. Die eigenen vier Wände zu verlassen bedeutet, die Bühne zu betreten: Potenziell trifft man bei jedem Gang übers Gelände einen der Mit-Stipendiaten oder eine der 13 Mitarbeitenden. Dreimal überlege ich, ob ich mein kleines Gäste-Appartement im Haupthaus ungeschminkt und in Flip-Flops verlasse, um über die Straße einen schnellen Espresso zu trinken. Die Größe und Weite der Studios stehen für mich vor allem im krassen Kontrast zur Nähe dieser Reihenhaussiedlung, an die die direkt aneinandergrenzenden Studios erinnert. Auf dem Kiesweg hört man jeden Schritt. Steht die Studio-Tür offen, steckt sicher auch bald jemand den Kopf herein.

Das Thema Wasser lässt Carsten Saeger nicht los. Er ist fasziniert von der Infrastruktur, die im Stadtbild noch erkennbar ist, den Quellen, Brunnen und Aquädukten. Beim Besuch der Diokletiansthermen sieht er vor dem inneren Auge sofort, wie sich da Körper bewegen, dass er als Künstler etwas hinzufügen kann, auch im Sinne eines Beitrages für die Stadt. Im Herzen Roms, gegenüber dem Hauptbahnhof Termini, liegen die einst größten Thermen der Antike, in die Michelangelo die Kirche Santa Maria degli Angeli e dei Martiri integrierte. Wo Menschen im 4.000 Quadratmeter großen Wasserbecken badeten, die Sauna und die Bibliothek besuchten oder Sport trieben, lassen die Mauerreste die Dimensionen heute nur noch erahnen.

Bei knapp 30 Grad stehen wir in diesem eigenartigen Mix aus Museumsdisplay und archäologischer Ausgrabungsstätte, der zum Römischen Nationalmuseum gehört. Ich kann Carstens Faszination nachvollziehen: Diese Thermen legen die Frage nahe, was unter der Oberfläche ist, was ein Ort wie dieser, einst Erholungs- und Begegnungsraum, mit der Gegenwart zu tun hat. Während hier zu aktiven Zeiten Tausende von Menschen nackt herumliefen, ist das Museum heute leer und still. "Von dieser Atmosphäre ausgehend wollte ich eine Arbeit entwickeln, die die eigentliche Identität des Ortes kommentiert", erklärt Carsten. Abwesenheit sei zwangsläufig Thema: Die Thermen sind Ruine, die einstige Marmorverkleidung abgeschlagen, die ausgestellten Objekte zum Teil von anderen Orten hierher transformiert. Das ehemalige Becken ist leer, die Körper sind abwesend, aber die gigantischen Dimensionen noch in der Bauweise und in der Form spürbar. Seine Arbeit soll eine Antwort sein, auf diesen Ort. Wie kann er ihm etwas hinzufügen? Wie die historischen Dimensionen sichtbar machen?

"Jetzt macht alles Sinn"

Carsten Saeger geht es in seinen Werken nicht um die Vermittlung historischer Fakten oder eine Kritik an etablierten Formen der Erinnerung. Vielmehr nutzt er vorgefundene Narrative, Objekte und Settings, um die Beziehung zwischen der Identität von Räumen und den Ritualen ihrer Nutzung infrage zu stellen. Dafür schafft er dokumentarische Frames, sampelt verschiedene Zeitebenen. Professionelle Tänzerinnen und Tänzer sollen den Schichten der Thermen etwas Fluides entgegenbringen. Tanz als Ausdrucksmittel ist für ihn naheliegend. Er tanzt selbst gern und möchte mit Menschen arbeiten, die es gewohnt sind, Bewegungen über mehrere Stunden zu wiederholen. Es geht ihm auch um diese Form des Körpergedächtnisses. Er will abbilden, was Tanz bedeutet, wie er die Persönlichkeit und unterschiedliche Erfahrungslevel reflektiert. Ein erstes Konzeptpapier hilft, sein Vorhaben zu fassen: "Wir folgen den Körpern, und wie sie im Tanz ihre Form wandeln und ihre Haltung den Gegebenheiten der Architektur der Thermen anpassen oder diese herausfordern."

Direktorin Julia Draganović hat inzwischen Kontakt zum Nationalmuseum und zur Oper hergestellt, erste Treffen sind verabredet. "Man merkt an vielen Enden, dass man uns unterstützen möchte." Eine Betreuung, die Carsten Saeger sehr zu schätzen weiß. Doch trotz der prestigeträchtigen Akademie, die für ihn die Türen öffnet, ist viel Geduld gefragt. Die italienischen Kulturbehörden ticken anders – ein Nein muss nicht unbedingt ein Nein bleiben. Und irgendjemand hat auch immer Corona.

Carsten will mit einem diversen Cast arbeiten, mit verschiedenen Zugängen und individuellen Geschichten. Ein Open Call geht an die nationale Tanzakademie, Vereine und Tanzstudios. Menschen aus dem queeren Kontext sind explizit eingeladen, sich zu bewerben. Über 30 Leute haben sich gemeldet. Zwölf hat er zum Casting eingeladen und mit ihnen darüber gesprochen, wo sie herkommen, warum sie in Rom sind, wie sie sich ausdrücken. Einen Tänzer hat er direkt auf einer Party angesprochen. Ab März wird er mit fünf Tänzerinnen und Tänzern in seinem Atelier arbeiten, es zum Tanzstudio umformen. "Jetzt macht alles Sinn. Der Raum, in dem ich stehe, bekommt eine Funktion."

Auf den Boden klebt er mit Maskingtape eine Struktur, die einem Mosaik in den Thermen ähnelt. In einer der großen Hallen, die als Wasserspeicher diente, thematisieren die zusammengesetzten Steinchen aus Kaiser Neros Villa in Anzio einen Kampf zwischen Herkules und dem Flussgott Acheloss. Der Kampf scheint bereits geschehen. Symmetrisch angelegte Ranken füllen die Komposition mit Bewegung. Die Länge des Mosaiks entspricht zufälligerweise der Länge seines Ateliers in der Villa. Und das vereinfachte Rankenmuster gibt den Tänzerinnen und Tänzern während der Proben eine Bewegungsrichtung vor. "Mich reizt die körperliche Wiederholung dieses Motivs, das sich über die individuelle Bewegung verändert oder abbrechen kann und sich dann über diesen Museumskomplex verbreitet."

Von März bis Mai probt Carsten mit den Tänzerinnen und Tänzern, zunächst noch in Zweier- oder Dreiergruppen, mindestens zweimal die Woche. Gemeinsam entwickeln sie Gesten und Abläufe. Was sind eher männliche, was eher weibliche Bewegungen? Wie wird man gelesen? Wie wahrgenommen? Ist man als Tänzerin, als Tänzer zwangsläufig Unterhaltungsobjekt? Im Studio üben sie mit Musik, teilweise gleichen die Proben kleinen Partys. Eine Probe ist immer auch eine soziale Situation, ein Vertrauensort. Man kann Dinge ausprobieren und lernt sich gegenseitig kennen. Wieder ist ein Drag-Performer dabei, diesmal als Choreograf. Germoglio ist auf den High-Heel-Dance spezialisiert. Alle Tänzerinnen und Tänzer, auch Carsten, tragen hohe Schuhe und schauen, wie sich die Haltung verändert: "Ich frage mich, warum nicht mehr Männer Heels tragen, weil die so viel Körperspannung bringen."

Zunehmend spielen in der Entwicklung der Choreografie die Persönlichkeiten und individuellen Tanzstile eine Rolle. Der Blick aus der Fensterfront des Studios hinaus ins Grüne in den Garten der Villa Massimo, er ist auch für die Tänzerinnen und Tänzer motivierend. Nach zwei Jahren Pandemie sind sie mit der Frage konfrontiert, wer sie sein wollen, welche Aufträge sie annehmen, jetzt, wo wieder mehr Anfragen kommen. "Die schönsten und emotionalsten Momente sind während der Proben entstanden. Die haben meine Zeit in Rom strukturiert und bleiben im Herzen."

Physisch war Carsten Saeger bisher in den meisten seiner Arbeiten präsent: als Regisseur, als Kameramann, aber auch als Performer, Interviewer, als Gastgeber – und wie in Rom als Leiter der Probe. Für die geplante Performance gibt es kein Drehbuch und keine Skizzen. Es sind innere Bilder und Erinnerungsfetzen, die er einbringt. Am Ende der Probenphase steht kein durchchoreografierter Tanz, sondern fragmentarische Sequenzen.

Das Nationalmuseum hat der Performance inzwischen zugestimmt. Die Objekte, die unter freiem Himmel in den Ruinen der Badeanstalt stehen, sind nicht umzäunt, laden zum Draufsetzen und Abhängen ein. Eine Frage des Displays – bei den Objekten im Innenraum käme man kaum auf die Idee, den pflastermüden Körper darauf auszuruhen. Carsten hat sich mit der Konservatorin des Hauses getroffen, um festzulegen, was möglich ist. Erfreulicherweise viel: Anfang Mai klettern die Tänzerinnen und Tänzer auf die Steine, respektvoll, die einzelnen Stücke eher aktivierend und in den Fokus stellend. 50 Minuten lang sind sie in Aktion, stellen sich und ihren Tanzstil vor, verharren auf den Steinen und füllen antike Becken mit Wasser aus einem Schlauch, der im Museumsalltag zur Reinigung der Objekte benutzt wird.

Über 200 Besuchende sind der Einladung zur Performance "He whom I love with all my thoughts." gefolgt. Carsten steht aufgeregt im Publikum und ist selbst fasziniert von der Energie, die auch schon bei den Proben greifbar war. Die Zuschauenden sind im besten Sinne Nebensache. Es geht um die Beziehung zwischen den Tänzerinnen und Tänzer, dem Ort und den Objekten. Die Performance ist kein Theaterstück, sondern ein eigenständiges Kunstwerk, in Form einer erweiterten räumlichen Erfahrung. Entsprechend unspektakulär findet sie mitten am Tag um 16 Uhr 30 statt. Es gibt keine Scheinwerfer, keine Bühne und – darum bittet Carsten Saeger explizit: keinen Applaus! "Ich brauche diesen Moment des Spektakels nicht, aber er setzt andere Kräfte frei und bedeutet Zeugenschaft."

Die größte Herausforderung ist, die intensiven Probenmomente in die Performance zu übertragen. "Eine Methode von mir ist zu sagen: Ihr macht das für euch, indem ihr den Safe Space, der während der Proben entstanden ist, aufrechterhaltet." Die Probensituation wird in der Performance nachgebildet, indem die Tänzerinnen und Tänzer das Publikum ein Stück weit verweigern. "Ich wollte anbieten, den Persönlichkeiten zu folgen, sie anzuschauen und dabei auch manchmal enttäuscht zu werden." Er möchte keine Bilder im Raum erzeugen, sondern Beziehungen zwischen den Tänzerinnen und Tänzer finden, deren Erzählung man folgen kann. Dennoch bleibt so manche Szene als starkes Bild im Kopf, etwa wenn eine der Tänzerinnen vor blauem Himmel auf einem der überdimensionalen Sarkophage thront.

Ohne Musik findet die Gruppe in den Thermen ihren über Wochen erarbeiteten Rhythmus. Zugleich ist der Ort sehr musikalisch: Das Grundrauschen der Stadt bildet den Soundtrack. Die Autos im Kreisverkehr vor dem Museum. Das Kreischen der Vögel. Tanzende Turnschuhe auf Kies. Dass es Carsten Saeger nicht nur um die Aktivierung eines historischen Ortes, sondern auch um Fragen von Identität und Geschlechterzugehörigkeit geht, unterstreichen die Kostüme der Tänzerinnen und Tänzer. Mode-Künstlerin Ruth Vieren, die er während seines Auslandssemesters an der Royal Academy of Fine Arts im belgischen Gent kennengelernt hat, war im November und Dezember mehrere Wochen in Rom. Ihre eigens angefertigten Textilarbeiten haben eine skulpturale Präsenz und orientieren sich an den dargestellten Motiven und Materialien in den Thermen. Schnitt und Kostüme unterstreichen die Persönlichkeiten der Tänzerinnen und Tänzer, die einzelnen Teile sind auf ihre Bewegungsabläufe zugeschnitten. Das Oberteil der Tänzerin Siria gleicht der Kettenrüstung eines Gladiators und betont ihre athletische Figur. Tänzer Vincenzo, dessen Statur an einen Matador erinnert, trägt eine Art Jackett, das viel Haut zeigt. "Wir spielen mit dem Rollenverständnis, die Körper sind sehr sichtbar, Schnitte offen, weder sehr weiblich noch sehr männlich."

"He whom I love with all my thoughts." ist keine didaktische Arbeit über Geschlechterfragen im 21. Jahrhundert oder Diversität in Rom – einer Stadt, in der Carsten seinen Verlobten offiziell nicht ehelichen darf. Seine Haltung schreibt sich indirekt ein in die Auswahl der Tänzerinnen und Tänzer, in ihr halbnacktes und damit durchaus auch provokativ lesbares Auftreten. Persönlicher als die Performance wirkt ein Video, das zum Abschluss seiner Zeit mit dem Künstler Frank Holbein entstanden ist. Gemeinsam sind sie noch einmal an die Orte gefahren, die Carsten in den vergangenen Monaten fasziniert haben: Nach Tivoli, zur Tibermündung, ans Meer, in die Villa d‘Este, zur Villa Gregoriana mit ihren künstlich herausgearbeiteten Höhlen, in das Restaurant, in dem Pasolini seinen letzten Abend verbrachte, bevor er am 2. November 1975 brutal ermordet wurde. Eine kleine Hommage an den von Carsten geschätzten Regisseur. Die verschiedenen Stationen des Wassers gleichen einem Bilderbuch, ergeben in Summe eine Traumlandschaft aus Sequenzen und Erinnerungsfetzen, die behaupten, Szenen zu sein. Müll treibt im Wasser, hinterfragt die Unberührtheit der Natur. "Das ist ein sehr persönlicher Blick auf Rom geworden, das sind Erinnerungen, die verblassen werden. Wie das Wasser, das sich nicht festsetzt, sondern wegfließt." Die Geräusche von Wasser, Meer, Regen, Fluss, Quellen und Vögeln sorgen für eine nahezu meditative Grundstimmung. Mal tritt die Frage nach Körper und Identität in den Vordergrund, mal die römische Alltagsrealität, dieses Leben im größten Freiluftmuseum der Welt.

Zwei Wochen intensiver Videoschnitt liegen hinter Carsten, als der Beamer uns den Rohschnitt an die weiße Studiowand projiziert. Auch als Kino eignet sich das Atelier hervorragend. Auszüge aus den Proben der Performance tauchen als Parallelerzählung auf. Als Zwei-Kanal-Installation angelegt, wird im Dialog der Bilder so manche Inspirationsquelle deutlich: Etwa die halbnackten Frauenfiguren am Brunnen auf dem Piazza della Republica, gelegen direkt vor den Thermen. Während die im öffentlichen Raum mit Wasser vollgespritzt werden, sind sie Zeuginnen aller großen Demonstrationen in Rom, die hier beginnen, etwa dem Marsch zum internationalen Frauentag am 8. März. Auch Carsten demonstrierte da für Frauenrechte, für die Ehe für alle, für ein Abtreibungsgesetz.

Video und Performance sind keine dokumentarischen Arbeiten über Drag-Queens in Rom, keine persönliche Reise durch zehn Monate in der Villa Massimo. Sie sind der Versuch, das Thema der Erinnerung in einen ästhetischen Raum zu bringen und auf einer anderen Ebene erfahrbar zu machen. Am Ende des Stipendiums wird Carsten Natur und Kultur, Wasser und Tanz, Probe, Performance und Video sowie die Städte Rom und Dresden zu einer neuen großen Arbeit verwoben haben. Jetzt stellen die Rom-Preisträgerinnen und -Preisträger der vergangenen zwei Jahre im Japanischen Palais direkt am Ufer der Elbe in Dresden aus. Carsten Saeger wird die fertiggestellte Videoinstallation präsentieren und performativ die Brücke zurück nach Deutschland schlagen: Drei der Tänzerinnen und Tänzer aus Rom bespielen im Juli für eine weitere Performance den Neptunbrunnen im Park eines Krankenhauses, der ein Relief von "Romulus und Remus" trägt. Es ist seine erste Arbeit im öffentlichen Raum, die Menschen mit der gegenwärtigen Beziehung zur Geschichte konfrontiert, die keine rein geistige, sondern immer auch eine körperliche ist.


Die Autorin bekam für Recherchen in Rom eines der Gästeapartments der Villa Massimo gestellt