Gerechtere Geschäftsmodelle in der Kunst

"Wir brauchen Unbehagen, um uns zu verändern"

Die Künstlerinnen Sung Tieu, Marianna Simnett und Verena Issel setzen sich für fairere Strukturen in der Kunst ein. Hier sprechen sie über neue Geschäftsmodelle, Transparenz und "Ghosting" 

Eine erfolgreiche Künstlerin zu sein, bedeutet nicht, im System der Kunstproduktion nur funktionieren zu wollen. Sung Tieu, kürzlich nominiert für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst, plädiert mit der Initiative Case für gerechtere Ökonomien im Galeriemarkt. Verena Issel, demnächst mit einer Einzelausstellung in der Kunsthalle Mannheim vertreten, prangerte öffentlich das "Ghosting" in der Kunstwelt an, und Marianna Simnett, die aktuell auf der Biennale in Venedig ausstellt, zeigt auf, wie sie Abhängigkeiten rund um die Vermarktung ihres Werks umgeht. Hier erläutern sie ihre Forderungen für mehr Fairness im Kunstfeld.

Verena Issel, Marianna Simnett und Sung Tieu, Sie haben gemeinsam, dass Sie Strukturen im Kunstfeld neu verhandelt wissen möchten. Verstehen Sie Ihre Vorschläge als Selbstermächtigungsstrategien gegenüber der Welt, in der Sie tätig sind?

Marianna Simnett: Mein Einkommen als Künstlerin generiert sich aus vielen Quellen: Verkäufen, Aufträgen, Lehrtätigkeiten, Vorträgen, meinem Patreon-Kanal und einem Online-Shop. Durch diese Art der Diversifizierung versuche ich, Abhängigkeiten gegenüber einzelnen dominanten Strukturen innerhalb des Kunstsystems zu umgehen.

Verena Issel: Wir brauchen Unbehagen, um uns zu verändern. Bei Künstler:innen existiert meist eine rein positiv ausgerichtete Außenkommunikation. Man informiert über neue Shows, Reviews und zeigt eigene Werke. Mein Impuls, kritisch über gewisses systemisches Betragen in unserer Branche zu kommunizieren, hat mit einer Reihe schlechter Erfahrungen begonnen. Das mündete schließlich in einen wütenden Post auf meinem Instagram-Account.

Konkret ging es um eine Kommunikationspraxis in der Kunstwelt, die Sie als "Ghosting" bezeichnen. Was meinen Sie damit?   

Issel: Darunter verstehe ich eine auf einmal ausbleibende und auch nach mehreren Nachfragen nicht weitergeführte Kommunikation mit Kurator:innen oder Galerist:innen, die mich gebeten hatten, aufwendige Portfolios für Ausstellungsbeteiligungen zu erstellen, oder Werke für Messen zu verschicken. Diese "Tinder-Mentalität", einfach nicht weiter zu antworten und die Person auszublenden, ist unangenehm und verunsichernd. Sie drückt eine Machtdynamik aus, derer sich die Akteur:innen im Kunstfeld bewusst sein sollten.


Sung Tieu, Ihre Vorschläge, die Sie gemeinsam mit dem Studio for Propositional Cinema und dem Kurator Nicholas Tammens entwickelt haben, betreffen alternative Vermarktungsansätze, welche die Gewinne aus Verkäufen in kommerziellen Gruppenausstellung gerechter umverteilen sollen. Auf welche Schieflage reagieren Sie?

Tieu: Wir als Künstler:innen stehen vor einer Situation, in der Stipendien und Zuschüsse gekürzt werden, in der öffentliche Einrichtungen immer weniger Mittel erhalten und gleichzeitig immer abhängiger von kommerziellen Unternehmen oder Mäzenen werden, die einen großen Teil der künstlerischen Produktion bezahlen. Diese Tendenzen führen dazu, dass Künstler:innen zunehmend auf den Verkauf ihrer Werke angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Daher haben wir die Plattform Case initiiert. Das Ziel ist es, gerechtere Ökonomien innerhalb unserer komplizierten und oft unausgewogenen Branche aufzubauen. Auf einer Open Source Plattform, die sich gerade im Aufbau befindet, bringen wir Vorschläge ein, wie die Märkte des Privatsektors, wie beispielsweise Galerieausstellungen, überdacht und anders entwickelt werden können.

Case, was eine Abkürzung von "Communal Artist Sharing Economy" ist, geht von einem Gemeinschaftsgefühl aus. Anstelle einer individualisierten Künstlerexistenz wird die Idee des kollektiven Zusammenschlusses gesetzt. Was genau schlagen Sie vor?

Tieu: Etablierte Vereinbarungen wie eine 50/50-Verteilung beim Kunstverkauf zwischen einer Galerie und den Künstler:innen können heutzutage überdacht werden, um zum Beispiel Modellen Raum zu geben, die stärker von der Gemeinschaft getragen werden. Case möchte vorerst kleine Veränderungen umsetzen und sich in kleinen Schritten hin zu etwas Größerem vorarbeiten. Ganz konkret schlagen wir vor, dass fünf oder zehn Prozent jedes Verkaufs in kommerziellen Gruppenausstellungen von Künstler:innen- und Galerieseite in einen gemeinsamen Topf fließen. Und dieser Topf wird unter allen, die an der Ausstellung teilnehmen, neu verteilt.


Warum ist das sinnvoll?

Tieu: Ich denke wir müssen anerkennen, dass innerhalb einer Gruppenausstellung in Galerien oft Künstler:innen in unterschiedlichen Stadien ihrer Karrieren gezeigt werden, und dass es Wege geben sollte, wie wir uns gegenseitig unterstützen können. Das haben wir bereits für unsere Ausstellung "Stars Down to Earth" in der Galerie von Barbara Weiss so umgesetzt. Wir würden mittelfristig gerne eine Liste von Galerien auf unserer Website haben, die bereit sind, unsere Vorschläge anzunehmen und umzusetzen. Darüber hinaus existieren bereits neue Galeriemodelle, die auf eine Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur abzielen, zum Beispiel indem die vertretenen Künstler:innen zu Anteilseignern gemacht werden.

Dabei geht es Ihnen auch um die Enttabuisierung grundlegender Fragen und Antworten zur Finanzierung von Kunst- oder Ausstellungsproduktionen von Initiatoren-Seite. Also um Transparenz von Budgets und offengelegte Rahmenbedingungen, unter denen man als Künstler:innen an einer Ausstellung teilnimmt. Ist Intransparenz ein Machtinstrument im Feld der Kunst?

Tieu: Case möchte auf seiner Plattform grundlegende Fragen und Antworten offenlegen, die bei jeder Ausstellungsproduktion auftauchen. Oftmals trauen sich Künstler:innen nicht, bestimmte Fragen zu stellen. Zum Beispiel: Wie hoch ist mein Honorar? Wie viel kann ich für die Produktion meiner Arbeit ausgeben? Werden Neuproduktionen überhaupt finanziert? Wie viel monetäre und zeitliche Investition erwartet der Ausstellungsinitiator oder die Institution von meiner oder auch von Galerie-Seite?

Issel: Wir sind in der Kunstwelt voll von verinnerlichten Strukturen. Die Geschäfte sind oft eine Mischung aus privaten Interaktionen, die zu geschäftlichen Interaktionen werden und umgekehrt. Es existieren keine Verträge, und Deals werden per Handschlag abgewickelt. Man erklärt sich einfach so bereit, 30 Gemälde zu übergeben, oder etliche Arbeitsstunden für ein Proposal zu einer Ausstellungsbeteiligung zu investieren. Für konservative Dinge wie ein Lieferangebot muss ich oft kämpfen. Ich denke, viele Akteur:innen vermischen einfach absichtlich die beiden Sphären, weil es sich als vorteilhaft für sie erweist


Für Sie, Verena Issel, liegen hinter der Intransparenz und der Routinen im Kunstfeld tieferliegende soziale Realitäten und Strukturen, von denen das Kunstfeld durchdrungen ist, und die ebenfalls nicht kommuniziert werden. Was wird verschwiegen?

Issel: Die meisten deutschen Kunststudent:innen kommen aus wohlsituierten Verhältnissen und versuchen gleichzeitig eifrig, dies zu verbergen. Ich wünsche mir eine Künstler:innengemeinschaft, die sich der individuellen Hintergründe bewusst ist und Privilegien teilt. Ich habe es satt, dass Millionärstöchter sich als unterprivilegiert ausgeben. Ich komme aus Norwegen, und wer meinen vollen Name Verena Issel Skatt jetzt googelt, hat Zugang zu meinem Kontoauszug und erfährt, wie viel ich irgendwann erben werde. Wenn wir in Geldfragen nicht transparent sind, können wir nicht über die damit verbundenen Privilegien sprechen.

Marianna Simnett, wenn ich es richtig verfolgt habe, sind Sie schon lange damit befasst, sich nicht nur auf klassische Vermarktungssysteme wie zum Beispiel Galerien und Messen zu stützen. Sie haben sich ein eigenes Vertriebssystem rund um Ihre künstlerische Praxis aufgebaut. Wie hat sich das entwickelt?   

Simnett: Bis Mitte 2021 überlebte ich als Künstlerin ohne Galerie, obwohl ich bereits umfangreiche Ausstellungen in etablierten Institutionen wie dem New Museum in New York oder dem MMK in Frankfurt realisierte. Mein Impuls, neue Modelle zu entwickeln, war zunächst also eine Notwendigkeit, um überhaupt überleben zu können. Ich war damals bankrott. Mein Einkommen reduzierte sich auf die oft niedrigen artist fees und ein paar gelegentliche Verkäufe. Irgendwann wurde ich mir meines Wertes bewusst. Ich konzentrierte mich nicht nur auf meine Kunstwerke, sondern auch auf die Strukturen, von dem sich ihr Wert ableitet. Ich erdachte mir einen Weg aus vielen Einnahmequellen, damit ich nicht an eine einzige gebunden blieb.

Wie gingen Sie vor, um diese Diversität der Einkommensquellen zu erreichen?

Simnett: Ich wusste, dass sich nichts ändern würde, wenn ich es nicht selbst ändern würde. Mit dem wenigen Geld, das ich hatte, stellte ich einen Studiomanager ein, und gemeinsam bauten wir ein neues Modell auf. Wir lancierten eine Website mit Online-Shop für Editionen und Merchandise und entwickelten ein Patronage-System. Heute ist es mir möglich, verschiedene Marktwertsysteme parallel zu bedienen. Einige meiner Arbeiten werden von meiner Galerie zu "Kunstmarktpreisen" verkauft, aber ich biete auch günstigere Editionen auf meiner Website an. Alles, was ich hier verkaufe, kostet weniger als 250 Euro. Diese Systeme schließen sich also gegenseitig nicht aus. Sie können sich tatsächlich ergänzen.


Bei Ihrem mitgliederbasierten Patronage-System geht es um weit mehr als um ein reines Finanzierungsmodell. Ist nicht auch hier der Beteiligungs-, Enthierachisierungs- und Kollektivgedanke eine wichtige Komponente?

Simnett: Diese Plattform bildet nicht meine Sammler:innenbasis, es ist eher ein "Only-Fans"-Club. Meine Förderer können über Live-Video-Sessions direkt mit mir kommunizieren und erhalten erste Einblicke in alles, was ich künstlerisch leiste. Jede Session wird von mir mit einem Flötensolo eingeleitet. Ich schaffe einen sicheren Raum, in dem wir uns frei und ehrlich austauschen. Per Post versende ich regelmäßig kleine Zeichnungen oder Geschenke, unabhängig wie viel jemand monatlich überweist. Studierende und Blue-Chip-Sammler:innen sind gleichberechtigt. Dies ist anders als bei einigen Patronage-Systemen, bei denen die Spender:innen umso mehr bekommen, je mehr sie bezahlen. Ich bitte die Menschen, ihren eigenen Wert und Beitrag selbst einzuschätzen.

Ist es Ihnen wichtig, gewisse Inhalte und Einblicke exklusiv zu halten?   

Simnett: Ich finde es richtig, wenn man den Zugang zu den eigenen Inhalten mit einem Ticketpreis versieht. Künstler:innen leisten sehr viel unsichtbare Arbeit, die dann in den Ausstellungen verherrlicht wird. Hinter den Kulissen gibt es sehr viel Interessantes zu entdecken. Ein Euro im Monat reicht aus, um Teil meines Patronage-Systems zu werden. All das ist ein Versuch, die Stimmen zu dezentralisieren, die den Austausch künstlerischer Ideen dominieren. Es geht mir darum, eine Gemeinschaft von Menschen zu schaffen, denen meine Arbeit am Herzen liegt, jenseits der wankelmütigen "Likes" der sozialen Medien.

Vieles an dem, was Sie beschreiben, hinterfragt die passive Rolle der Künstler:in innerhalb des Kunstmarktes und möchte Verantwortliche neu zusammenbringen. Sie zeigen und kritisieren, wie viel Künstler:innen investieren müssen: gedanklich, wirtschaftlich, materiell und handwerklich, bis ein Kunstwerk realisiert ist und in die Sichtbarkeit gelangt. Sie sprechen offen über Risiken, denen Sie ständig ausgesetzt sind. Möchten Sie das Feld reformieren, weil es sich für Sie zum Nachteil verändert hat?

Issel: Nur 20 Minuten nach meinem wütenden Post, bekam ich Nachrichten von Kurator:innen, die sich offensichtlich angesprochen fühlten und mir auf einmal meine Bilder zurückschicken wollten. Natürlich war Angst der Motor ihres Agierens. Aber müssen wir wirklich die Möglichkeit der öffentlichen Beschämung in Aussicht stellen, um uns richtig zu verhalten? Gleichzeitig erhielt ist eine enorme Resonanz auf diesen Beitrag. Über 100 Leute haben mir geschrieben oder den Post kommentiert.


Offensichtlich konnten viele Ihren Ärger nachvollziehen.

Issel: Viele Künstler:innen dachten, sie seien mit derartigen Erfahrungen allein und bezogen die regelmäßig ausbleibende Kommunikation auf sich. Als ich erkannte, dass es sich beim "Ghosting" um ein umfassenderes Phänomen handelte und dies eine normale Art der Kommunikation von Menschen in Machtposition ist, spürte ich Erleichterung. Ich möchte noch ergänzen, dass ich wirklich kein Problem habe, falls mein Vorschlag nicht zum kuratorischen Konzept passt. Das passiert. Aber einfach nicht mehr zu antworten oder die Werke nicht zurückzugeben, das ist unfair. Und ja, ich denke, es ist ein symptomatisches Verhalten.

Simnett: Ich wünsche mir einen offenen Raum, in dem ich die operative Realität eines Künstler:innenlebens teilen kann. Von Künstler*innen wird erwartet, dass sie eine obszöne Menge an unbezahlter Arbeit leisten. Meine Idee ist es, diese unsichtbare Arbeit auf eine Weise sichtbar zu machen, die für alle fruchtbar ist. Meine Plattform arbeitet gegen die Vorstellung, dass sich ein Kunstwerk, aus dem Nichts materialisiert, sofort perfekt verarbeitet. Ich zeige meine Realität als Künstlerin, wie sie ist. Wie es manchmal gut läuft, manchmal schlecht, wie ich gewinne und verliere. Es ist unterhaltsam, die eigenen Beschäftigungen derartig offenzulegen und dabei viele großartige Menschen zu treffen, die ähnliche Ideen und Gefühle über diese Welt teilen.

Tieu: Systemischen Innovationen sind am stärksten, wenn sie von den Künstler:innen kommen. Letztendlich habe ich das Gefühl, dass wir wirklich darauf drängen können, dass nicht nur die Galerien reformiert werden, sondern auch die Institutionen und das Gebaren der Akteur:innen. Muss man als Sammler:in routinemäßig nach Rabatten fragen? Rabatte sind zum Standard geworden und sogar zu einer Prestige-Sache. Je mehr Rabatt gegeben wird, desto wichtiger fühlt man sich. Stattdessen könnten diese zehn oder 20 Prozent an alle Künstler:innen zurückfließen. Das würde schon so sehr viel ändern.