Designer Dieter Rams wird 90

Die Ordnung der Dinge

Sachliches, rationales Design, das einem Denken in Systemen verpflichtet ist, dafür steht Dieter Rams seit Jahrzehnten. Jetzt feiert er seinen 90. Geburtstag

Ein Lebenszeichen! Auf der Homepage von Vitsoe – ein mittlerweile englisches Unternehmen, das 1959 in Frankfurt gegründet wurde, um Möbelentwürfe von Dieter Rams zu produzieren – findet sich ein neues Statement des großen Designers, der seit Jahren schweigt. Hier ist zu lesen: "Auch wenn wir Menschen immer länger leben, ist ein 90. Geburtstag keine Selbstverständlichkeit. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal meine Sorge um die Gestaltung unserer dinglichen Welt betonen. Der heutige Tag markiert weniger die Tatsache, dass ich neunzig Jahre alt bin, als vielmehr mein Glück, dass ich seit mehr als siebzig Jahren als Gestalter arbeiten darf. In meinem Leben war dies oft ein Glücksfall, aber noch viel mehr dank der vielen Menschen, mit denen ich die Gelegenheit hatte, Vorschläge für eine etwas bessere Welt zu machen."

Keine Selbstfeier also, sondern ein Ausdruck der Sorge – verbunden mit Dankbarkeit. In der Tat begann schon seine Karriere mit einem glücklichen Zufall: Ein Freund hatte gelesen, dass ein kleiner, nur regional bekannter Frankfurter Elektrogeräte-Hersteller einen Innenarchitekten suchte. Rams, der in seiner Heimatstadt Wiesbaden gerade ein Architekturstudium abgeschlossen hatte, sagte der damalige Firmenname Braun Radio nichts. Doch beide Freunde antworteten auf die Anzeige und machten aus der Bewerbung eine Wette. Rams wurde zum Vorstellungsgespräch geladen und gleich mit einer Aufgabe betraut. Er sollte das Interieur für einen Ausstellungsraum entwerfen. Der 23-Jährige skizzierte den Showroom mit sicherem Strich und wenigen, sparsam gesetzten Farben. Die Zeichnung ist erhalten. Was sie design-historisch spannend macht: Im hinteren Raumbereich hat er ein Wandregal angedeutet, das es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab. Erst fünf Jahre später kam das modulare Regalsystem 606 bei Vitsoe auf den Markt, das erweiterbar und auf vielfältige Weise zu ergänzen ist. Bis heute.

Ebenso folgenreich war Rams' Zusammenarbeit bei Braun mit führenden Köpfen der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Auch dort war man angetreten, in Bauhaus-Tradition der neuen Zeit eine neue Form zu geben, die prägend und bessernd auf die Gesellschaft wirken sollte. Und zwar "vom Löffel bis zu Stadt", wie es der erste Rektor der Hochschule, Max Bill, formulierte. Es ging darum, nach dem Kitsch, den Lügen und Grausamkeiten der Nazizeit, ruhige, klare und ehrliche Dinge zu entwerfen.

Eine neue, betont schlichte Gestaltungslinie

Für den Bereich Produktdesign war der Ulmer Dozent Hans Gugelot zuständig. Gugelot war es, der Mitte der 1950er-Jahre die ersten Plattenspieler und Radios für Braun entwickelte, die eine einheitliche formale Sprache besaßen und damit den Grundstein für ein "Systemdesign" legten: das Radio Tischsuper G-11, der Plattenspieler G-12 und der Fernseher FS-G gelten als erste konsequent aufgebaute Komponenten-Anlage. Helle Hölzer, die Betonung des rechten Winkels und ein bewusstes Zurschaustellen der Technik (statt diese als Möbelstück zu verhüllen) – all dies machte diese Geräte-Familie zur Blaupause für eine neue, betont schlichte Gestaltungslinie. 1956 kam es dann zu jenem Entwurf, der auf Jahre zu einem Emblem des Braun-Designs werden sollte: Der kastenförmige Phonosuper SK4, auch bekannt als "Schneewittchensarg", war die erste Plattenspieler-Radio-Kombination mit Plexiglas-Haube. Fotos früher Vorstudien zeigen, wie um diese Form gerungen wurde, wie sie Schritt für Schritt Gestalt annahm.

1961 wurde Rams Designchef, die spannendste Dekade seines Wirkens hatte begonnen. Jetzt erreichte das Braun-Design – mit dem Verzicht auf Holzverkleidungen – jene rein technische Schönheit, die bis heute mit Ausstellungen und Publikationen weltweit gewürdigt wird. Künstler wie Richard Hamilton, Johannes Wohnseifer oder Donald Judd drückten mit Statements und Arbeiten ihre Wertschätzung des deutschen Designers aus, empfohlen sei hier etwa Judds Text "It's hard to find a good lamp" von 1993. Und auch Isa Genzkens wunderbare "Weltempfänger"-Serie (schlichte, graue Betonklötze mit hochaufragenden Antennen) spielt mit den Konventionen eines betont technischen Designs.

Nehmen wir zum Beispiel das 1959 von Rams gestaltete Geräte-Trio studio 2, bestehend aus dem CS 11 (Steuergerät mit Plattenspieler), dem Empfänger CE 11 und dem Endverstärker CV 11: Die Frontplatte des CS 11 aus dickem Aluminiumblech war sichtbar an vier Stellen verschraubt, einfache Kippschalter ließen an ein Funkgerät oder die Instrumententafel eines Hubschraubers denken. Nur einer der drei Bausteine trug das Braun-Logo – ein heute undenkbares Understatement. Der Verstärker hatte auf der Front nichts als eine leere Fläche und seine Breite war identisch mit der des Receivers, die Maße beider ergaben die Breite des Plattenspielers, so dass man diesen auf die zwei unteren Geräte stellen konnte. "Gutes Design ist so wenig Design wie möglich" – hier findet sich das spätere Diktum von Rams bereits kantig und kompromisslos umgesetzt.

Die studio 2 wies Braun den Weg in die 1960er-Jahre, die reich an Höhepunkten waren, darunter der an technischer Finesse und formaler Brillanz kaum zu überbietende Weltempfänger T 1000, der 2018 mit einer Briefmarke gewürdigt wurde. Auch die Kompaktanlage audio 1 von 1962 ließ den "Schneewittchensarg" plötzlich ziemlich alt aussehen – und sie wurde in den folgenden Jahren sogar noch Schritt für Schritt verbessert. Das letzte Modell der Serie mit robustem Metall-Gehäuse, audio 310 von 1971, besaß eine Ausgewogenheit und Perfektion in den Details, dass keine Steigerung möglich schien. Dass diese Anlage exakt in die Regal-Elemente des 606 von Vitsoe passte – typisch Rams!

Etiketten verdecken seinen Innovationsgeist

Es gibt ein Phänomen, das – bei aller Unterschiedlichkeit – bedeutende Werke der Kunst und große Designentwürfe verbindet: Je häufiger sie ausgestellt und publiziert werden, desto mehr gerät in Vergessenheit, dass eine Vielzahl von Entscheidungen zu ihrer Form geführt haben – Entscheidungen für bestimmte Proportionen, Raster, Perforationen, Farben, Materialien, Texturen. Diese Findungsprozesse am finalen Objekt nachzuvollziehen, heißt: ein Design zu lesen. Nicht wie ein Kunstwerk – aber mit der gleichen Genauigkeit und Aufmerksamkeit. Denn auch das, was uns längst selbstverständlich und vertraut erscheint, war einst work in progress, Wagnis, eine Bewegung auf dünnem Eis.

Wenn am 20 Mai der deutsche Industriedesigner Dieter Rams 90 Jahre alt wird, könnten wir ihn und uns vielleicht damit beschenken, noch mal einen ganz neuen Blick auf die von ihm und seinem Team gestalteten Dinge zu werfen. Denn allzu musealisiert und kanonisiert erscheint mittlerweile dieses Werk – wir glauben längst alles verstanden zu haben, was daran zu verstehen ist. Etiketten wie "Funktionalismus", "Sachlichkeit" oder "Minimalismus" verdecken heute mithin den Innovationsgeist, der einst Rams' Entscheidungen für oder gegen einen Grauton, einen Radius, eine Schalterform begünstigt, ja erst ermöglicht hat.

Seit deutlich wurde, wie stark das Braun-Design der Rams-Ära jenes von Apple beeinflusst hat, verehren ihn manche wie einen Guru der Guten Form. Pusten wir lieber den Weihrauch weg – vor einem Radio muss niemand niederknien. Aber diese Lebensleistung beeindruckt sehr. Und sie wird auch in 90 Jahren nicht vergessen sein.