Gruppenschau "ARS22" in Helsinki

Wenn Kunst mit dem Erzählen aufhört

Alle fünf Jahre präsentiert Helsinki mit "ARS" die größte internationale Kunstschau Finnlands. Nach der Pandemie sollte die Ausgabe Optimismus verbreiten. Dann aber zettelte das Nachbarland einen Krieg an

Finnland ist ein Nachbar Russlands. Das betont man dieser Tage hier, in Helsinki, immer wieder. Außerdem, dass das skandinavische Land mehr als 1000 Kilometer Grenze mit dem Nachbarn im Osten teilt. Während die Ausstellung "ARS22: Living Encounters" eröffnet, sind NATO-Außenminister in der Stadt, um über einen Beitritt Finnlands zu dem Staatenbündnis zu sprechen. Die Kunstwelt gerät unweigerlich in einen Bedeutungszusammenhang mit geopolitischen Ereignissen.

"Living Encounters" ist die zehnte Ausgabe der ARS-Serie, die ungefähr alle fünf Jahre in Helsinki stattfindet, seit den 1990ern im Kiasma, dem innen und außen kühn geschwungenen Museumsbau von Steven Holl. Das Haus, an das sich die Fahrrad-Highways in der Innenstadt schmiegen, wurde eben erst renoviert. Das ist die erste Schau nach der Neueröffnung, sie wird von einem Performanceprogramm mit Publikum begleitet.

Man bekommt den Eindruck, dass das eine hoffnungsvolle Ausstellung sein will, und dass sie das erleichterte Ende einer dunklen Zeit – Sie wissen schon, die Pandemie – markieren soll. In der Zwischenzeit ist gegenüber, unter dem Lasipalatsi, einem 1936 eröffneten Glasbau mit Kino, das Amos Rex in die Erde gewachsen. Das Privatmuseum beherbergt in organisch-runden Räumen, die sich wie Blasen im Innenhof an die Oberfläche drängen, eine Privatsammlung, die einst von dem Medienmogul Amos Anderson begründet wurde. Shopping über der Erde, Kunst im Untergeschoss, ein Museum neuen Typs, vielleicht. Mit diesem Programm steht die Konkurrenzinstitution im Kontrast zum Kiasma, das als fließender Museumsbau konzipiert wurde und allein diesem Zweck dient.

"Wir lesen historische Arbeiten durch die Gegenwart"

Städtische Kontexte ändern sich, aber eben auch die politischen. Deutlich ablesbar ist das an der Arbeit des russischen Künstlers Evgeny Antufiev, der im Kiasma eine eigens in Auftrag gegebene Installation plus Performance zeigen sollte. Aber nach der Invasion fühlte er sich damit nicht mehr wohl, sagte, er wolle sein eigentliches Werk nicht zeigen, bis der Krieg zu Ende sei. Stattdessen steht jetzt in großen, schwarzen serifenlosen Buchstaben an der Wand "No War", ganz einfach. In dem weiten, Loggia-artigen Raum unter dem Dach des Kiasma ist diese Forderung weithin zu sehen.

Die Kunstschau wird in diesem Jahr von João Laia mitgeleitet, der schon die vierzehnte Baltic Triennial im vergangenen Jahr ko-kuratiert hat. Eigentlich mit Vilnius im Fokus steht sie für eine Art von Projekt, das einerseits ganze Regionen in den Blick nimmt – Finnland, die baltischen Staaten, bis nach Polen – und sich zugleich die großen Narrative um Ökologie und Ökonomie vorknöpft. Dabei werden Ländergrenzen als poröse Gebilde begriffen, die Schauen versuchen, den globalen Kunstbetrieb und regionale Belange zusammenzubringen. Balkan und Kaukasus, Finnland, Zentral- und Osteuropa finden hier ihren Platz, und es ergibt auch genau so Sinn, denn kulturelle Beeinflussungen und Abhängigkeiten machen ja nicht an Staatsgrenzen Halt.

Neben den unerwarteten Nachbarschaften lassen sich verborgene Zeitgenossenschaften finden, auch bei "ARS22". "Wir lesen historische Arbeiten durch die Gegenwart", sagt Kurator Laia, "und zeitgenössische Werke blicken in Richtung Vergangenheit." Die Schau in Helsinki greift außerdem auf Werke aus vergangenen Ausgaben der Reihen zurück. Ein Gemälde von Kimmo Kaivanto von 1973 zum Beispiel, aus der Frühzeit der Ökologiebewegung, das klar umrissene Seerosen bis zum Horizont zeigt, kommt wie eine Botschaft aus dem Gestern zu uns. Kaivanto nahm 1968 an der Venedig-Biennale teil und beschloss, seine Kunst müsse fortan politischer werden – heute würde man das aktivistisch nennen. Oder die Videokünstlerin Mervi Kytösalmi-Buhl, die Mitte der 70er von Finnland nach Düsseldorf ging, um bei Nam June Paik zu studieren, was man ihren Arbeiten ansieht. Sie befassen sich mit Themen wie Körper und dem Verstreichen von Zeit, und damit hat Kytösalmi-Buhl genau verstanden, wofür sich das noch junge Medium eignete.

All das kann hier koexistieren mit 15 neuen Auftragsarbeiten und einer Liste von Künstlerinnen und Künstler, die sich liest wie ein Best-of der internationalen Biennalen der letzten Jahre. Arthur Jafas beeindruckender Film "akingdoncomethas" von 2018 ist zu sehen, auch Cyprien Gaillards hypnotische Videoarbeit "Ocean II Ocean" von 2019, Grada Kilombas Neuerzählung des antiken Dramas "Antigone". Eine Skulptur des kürzlich verstorbenen Jimmie Durham – "Arc de Triomphe for Personal Use" von 1996 – steht gegenüber von Annika Erikssons Videos, eines über Straßenkatzen in Istanbul (2010), das zweite über streunende Hunde (2013).

Laure Prouvost ist ein weiterer solcher Name, allerdings hat sie eigens für die Ausstellung eine Arbeit gemacht. "For Four Beauties" ist ein plüschiger, überheizter Innenraum – "Schmelzen Sie schon?", fragt die französische Künstlerin –, in dem ein Video läuft, darin zeigt sie nackte Frauen und einen Säugling, Tentakel, eine Sauna an der Küste Finnlands. Das alles begleitet die wacklige Kamera und das sanfte ASMR-Flüstern, gelegentlich wird gesungen, wie um einen Effekt maximaler Intimität und Intensität herbeizuführen. Eine Auseinandersetzung mit zyklischen, zeitlosen Erzählungen könnte man hier vermuten, darunter antike Stoffe (Kilomba) und Fragen von Spiritualität (Jafa), Mensch-Tier-Verhältnisse in Großstädten (Eriksson), Geburt und neues Leben (Prouvost).

João Laia kennt sich aus in der Region um die Ostsee, und so ergibt es sich, dass auch die Künstlerinnenliste der Baltic Triennial und von "ARS22" eine gewisse Schnittmenge aufweist. Der Maler Vojtěch Kovařík war schon in der Triennale. Sein großformatiges Triptychon "The Three Fates" greift in gefälliger Art das uralte mythologische Bildthema auf, die Schicksalsgöttinnen sind hier androgyn und schön gemalt. Überhaupt, gegenständliche Malerei taucht immer wieder auf, so zum Beispiel in Joel Slottes extrem statischen Gemälden mit ihrer Pflanzensymbolik und ihren pop- und subkulturellen Referenzen, die an die Detailversessenheit der altniederländischen Malerei erinnern, und dabei die Gegenwartskultur nach Tumblr kristallisieren.

Dabei liegt in der Ausstellung vielleicht doch so etwas wie ein utopischer Horizont verborgen, zum Beispiel bei Pia Camils Arbeit "A Pot for a Latch", von 2016, die eine Ökonomie entwirft, in der Dinge nach persönlicher Bedeutung und Geschichte bewertet werden. Daraus wird dann eine bunte Installation, die an minimalistische Skulptur erinnert.

Alternative Formen des Bauens erprobt die "Sámi Architecture Library", die sich der Dokumentation von und der Forschung über indigene Architektur auf der ganzen Welt verschrieben hat. Joar Nango, der Mitinitiator des Projekts sagt, es hätte bisher wenig Material zu Bauten der Sámi in Lappland, der Ureinwohner in Nordamerika oder anderswo gegeben, und wenn, dann sei das ziemlich folkloristisch gewesen, und ja, es ist gut, dass das Museum einen Platz für all diese vielgestaltigen Formen des Wirtschaftens und Bauens gibt.

Neben der komplizierten Verschränkung der Zeiten und Orte ergibt sich ein seltsamer Effekt. Kunst, die gerade erst ein paar Jahre alt ist – Gaillard, Jafa, die Klimaoper "Sun & Sea: Marina" von Rugilė Barzdziukaitė, Viva Grainytė und Lina Lapelytė, die auf der letzten Venedig-Biennale den Goldenen Löwen gewonnen hat –, diese Arbeiten wirken plötzlich historisch. Wollte man von hier aus die Gegenwart definieren, fiele das schwer, denn sie scheint manchmal hoffnungsvoll, oft kompliziert, aber fast immer uneindeutig. Die Welt befände sich jetzt, so zitiert Laia im Katalog den Kulturwissenschaftler Max Haiven, in einer Krise der Vorstellungskraft.

Das klingt noch harmlos, denn die Gegenwart ist brutaler, und dabei hilft keine Vorstellungskraft. Sie bricht herein, eigentlich fast buchstäblich überschreitet sie die Schwelle ins Museum im fünften Stock, wo, so sah es der Architekt vor, der Austausch von Museum und Stadt passieren sollte. Jetzt steht da nur noch die hilflose Forderung "No War".

"Dieses Mal", sagt der Kurator João Laia, "waren wir an einer Konversation interessiert, und weniger an einem übergreifenden Narrativ." Aber gerade darin liegt vielleicht die Gefahr. Wenn die Kunst nämlich das Erzählen aufgibt, übernimmt die Welt drumherum die Narrative.