André Thomkins in Berlin

Flucht ins Absurde

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Der Maler und Dichter André Thomkins schuf vielgestaltige Gegenwirklichkeiten, die auch in den heutigen Krisen willkommene Fantasieräume öffnen. Eine Berliner Ausstellung stellt den Schweizer Surrealisten vor

Zwischendrin hilft nur die Flucht ins Absurde. Anders sind die Schreckensnachrichten vom Krieg schwerlich auszuhalten. Der Schweizer Künstler André Thomkins (1930-1985) hatte verschiedene Methoden, sich die Zumutungen des Realen vom Leib zu halten. Er war ein Homo ludens der Kunst, besessen von Sprachspielen und Buchstaben-Vertauschungen wie vor ihm Marcel Duchamp und die Surrealisten um André Breton.

Angeblich entdeckte Thomkins in Paris das Straßenschild einer "Rue la Valeur", das vorwärts wie rückwärts gelesen denselben Wortlaut ergibt. Die Adresse (die allerdings weder in Paris noch anderswo existierte) nimmt Thomkins zum Anlass, Straßenschilder zu entwerfen, die seine Palindrome enthalten. "NIE REIME, DA KANN AKADEMIE REIN", "OH CET ÉCHO", "NEE, DIESE IDEEN" und andere Schilder prangen auf einer Ausstellungswand – Auflagenobjekte vom Kunstmuseum Liechtenstein, das den Nachlass des Künstlers betreut und mit dem die staatlichen Berliner Museen bei der aktuellen Thomkins-Werkschau in der Sammlung Scharf-Gerstenberg kooperieren.

Ein Museum für das Unbewusste

Ein paar Worte zu diesem einzigartigen Museum, das sich auf Surrealismus, Symbolismus und ihre Vorläufer konzentriert, auf eine Kunst, die das Unbewusste zum Gegenstand hat, dem Schrecken in seinen vielen Gestalten nicht ausweicht und vielleicht deshalb zurzeit einen besonderen Nerv trifft. Ob Piranesis schwindelerregende "Carceri"-Radierungen oder Goyas bissiger "Los Caprichos"-Zyklus – wie durch einen Spiegel erblickt man die eigene zerrüttete Zeit.

Max Ernst, ein ebenfalls in der Sammlung vertretener Künstler, sprach vom Krieg als "Trampeltier, das alles, was ihm in den Weg kommt, zerstört und vernichtet". Die Rede war von der "Hausengel"-Allegorie des Surrealisten. Eine der drei 1937 von Max Ernst unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs geschaffenen Gemäldeversionen hängt bei Scharf-Gerstenberg. Dieser "Hausengel (Zweite Version)" zeigt nur den Kopf des zähnefletschenden Monsters, das sichtbare Auge zugekniffen, ein Urbild blindwütiger Aggression.

Im Treppenhaus des östlichen Stülerbaus ist zusätzlich noch bis Ende April eine animierte "Vierte Fassung" (2019) des französischen Gegenwartskünstlers Cyprien Gaillard zu sehen. Entsprechend den beiden Ganzfigur-Gemälden projiziert Gaillard das stumm tobende, in grellbunt umherflatternde Tücher gehüllte Ungeheuer auf einen Ventilator. Nur aus einem bestimmten Winkel ist die Epiphanie des Bösen in Aktion zu sehen. Wer nicht gezielt hinschaut, hört und sieht bloß einen sirrenden Luftquirl.

Spielwitz und Erfindungsreichtum

Im Erdgeschoss des Museums, in der Sonderschau "Kopfarbeit – Handarbeit. Tag und Nacht. André Thomkins 1930–1985" durchdringen sich düstere und komische Momente. Thomkins hatte ein schwaches Herz, daher starb er früh. Doch bis zuletzt ließen ihn sein Spielwitz und Erfindungsreichtum nicht im Stich.

Sein wie er in Luzern geborener Freund Serge Stauffer, bekannt durch seine Übersetzungen von Duchamp-Texten, nannte Thomkins nach dem Erfinder, Techniker und Künstler der griechischen Mythologie "Daedalus meandertaler". Thomkins war einer, der sich stilistisch und technisch nicht festlegte und daher bis heute unter dem Radar der Kunstöffentlichkeit "mäandert", ein Künstler, von dem sein Lehrer an der Kunstgewerbeschule in Luzern einmal treffend bemerkte, sein Werk ähnele dem Nachlass eines klassischen Malers, dessen Hauptwerke verloren gegangen seien.

Rund 170 Zeichnungen, Malereien und Objekte sind in der Berliner Retrospektive des zweimaligen Documenta-Teilnehmers zu sehen, der ab 1952 im Ruhrgebiet lebte und in den frühen 1970ern Professor an der Düsseldorfer Akademie war. Das letzte Foto zeigt ihn im Gespräch mit Joseph Beuys auf der Jahresversammlung der Berliner Akademie der Künste am 9. November 1985. Am selben Abend bleibt Thomkins’ Herz stehen. Er wurde nur 55 Jahre alt.

Gewaltige Bildwelten auf kleinstem Raum

Er liebte die Miniatur. Vor allem seine hochkomplexen Aquarelle zeigen, wie er auf kleinstem Raum gewaltige Welten entwerfen konnte. Als Nachfolger der Surrealisten der Vorkriegszeit schuf er traumklare Bildräume, deren Gesetzmäßigkeiten und Bedeutungen nur ansatzweise zu entschlüsseln sind. Für seine Verhältnisse ungewöhnlich groß ist mit 80 Zentimetern Durchmesser das Ölbild "Die Mühlen" von 1962. In dem Rundbild kombiniert Thomkins wie in einer Riesenblase autobiografische Stationen mit zeitgeschichtlichen Nebensächlichkeiten, vom Hochsprungrekord bis zum Autorennen. In der malerischen Präzision und formalen Anlage schließen "Die Mühlen" an Hieronymus Bosch’ Weltdarstellung in Segmenten des "Madrider Altars" (Ende des 15. Jahrhunderts) an.

Das Mühlen-Symbol taucht wiederholt in der Ausstellung auf, so in Gestalt eines kuriosen Objekts "Mühlen-Mahl-Gebet Inspiration", dessen aus Hartweizennudeln konstruiertes Mahlwerk durch einen Blasebalg in Gang gesetzt werden kann.

"Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann", gemäß diesem Spruch von Francis Picabia zelebrierte Thomkins das irrlichternde Denken, einen hakenschlagenden Arbeitsprozess, ein ständiges Umgießen des Banalen und Absurden in verschiedenste Formen. Ende der 1950er beweist der mit Dieter Roth und Daniel Spoerri eng befreundete Künstler mit Nadel und Faden, dass man Knöpfe an Hühnereier nähen kann, entwickelt Zeichnungen aus den Schattenwürfen des "Knopfeis" oder porträtiert diese sinnfreien Objekte in verschiedenen Umgebungen – wie es der Surrealist Hans Bellmer ähnlich in den 1930er-Jahren mit einer Puppe im Wald praktizierte.

Abstraktes verschwimmt mit Figurativem

Aus Thomkins’ Experimentierwerkstatt stammen auch die sogenannten "Lackskins". Die Technik entdeckte der Künstler beim Pinselreinigen. Wenn Lack auf Wasser schwimmt, ergibt sich eine Haut, auf der sich Zufallsbilder abzeichnen. Thomkins schuf monochrome und farbige, kleine und große und gegen Ende seines Lebens sogar riesige Lackskins.

Ein Dokumentarfilm zeigt die Praxis des Künstlers, wie er mit Lackfarbe tröpfelnd, mitunter auch pustend, den Zufall lenkt. Die reichhaltig ausgestellten Ergebnisse der Lackskin- und der ähnlichen Rollage-Technik zeigen eine unheimliche, mit den Geschichten von E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe verwandten Welt. Besonders die Lackskin-Serie der "Astronauten" lässt das Abstrakte mit dem Figurativen verschwimmen und spottet der Schwerkraft.

Thomkins schuf sich mit bildnerischen wie sprachlichen Mitteln eine fantastische Gegenwirklichkeit. In der Krise brauchen wir solche Fantasieräume mehr denn je: "STRATEGY: GET ARTS"