Soziale Medien haben in den vergangenen Jahren die Art und Weise, wie wir uns Informationen beschaffen, massiv verändert. Nicht immer zum Guten. Soziale Medien schaffen Filterblasen, sind selten reflektiert, oft wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen und die meisten kennen das zermürbende Gefühl und die Mattheit, wenn man wieder Stunden am Handy verbracht hat, um auf dem Stand zu bleiben, wenn in der Welt (mal wieder) irgendwas Schlimmes passiert ist.
Doomscrolling nennt man das seit einigen Jahren und das Wort trifft die Sache eigentlich ganz gut. Mit jedem Swipe auf dem Smartphone rollt man tiefer ins Verderben. Wie beim Bergbau wird das Tageslicht immer ferner und die Luft immer heißer und dünner. Die Anschläge in Hanau, die Pandemie, Schwurbler-Proteste und nun die Invasion Russlands in die Ukraine – Beispiele fürs Doomscrolling gab es in jüngerer Vergangenheit zur Genüge.
Einerseits freuen sich Plattformen wie Twitter über so viel Screentime, andererseits hat zu intensives Doomscrolling für viele negative Auswirkungen auf die Psyche. Als wäre das, was in Wirklichkeit passiert, nicht schlimm genug, ziehen wir uns freiwillig auch noch runter. Die süchtig machenden, perfide entwickelten Mechanismen des endlosen Scrollens und developing Katastrophen-Stories gehen eine kongeniale, aber auch finstere Ehe ein.
Doomscrolling schafft zunächst ein Sicherheitsgefühl
Bereits in den 1970er-Jahren sprach man vom Gemeine-Welt-Syndrom (mean world syndrome), wenn Menschen zu viel Gewalt im Fernsehen sahen und dies dazu führte, dass die Betroffenen zunehmend unter Angst und Depressionen litten. Auch weil sie glaubten, dass die Welt da draußen durch zu viel Gewaltdarstellung gemeiner sei, als sie vielleicht in Wirklichkeit ist. Diese Theorie wurde durch den ungarisch-amerikanischen Medienpsychologen George Gerbner geprägt, der als Begründer der Kultivierungsanalyse gilt.
Heute laufen in Kriegssituationen wie diesen Nachrichten auf dem Fernseher, Radio, Facebook, Twitter, TikTok, Instagram und Telegram parallel. Da bleibt keine Zeit zu hinterfragen, ob ein grausames Foto oder verwackeltes Video verifiziert ist oder nicht. Horror-News und besonders wilde Theorien gehen in unruhigen Zeiten besonders gut und oft haben sie auch die Macht zur mentalen Manipulation, wie man bei den Impfgegner:innen und den sogenannten Corona-Protesten in der letzten Zeit gut gesehen hat.
Denn oft schafft Doomscrolling zunächst ein Gefühl der Sicherheit. Man lungert auf der Couch mit Rotwein in den eigenen sicheren vier Wänden, während draußen die Welt untergeht. Zeit nebenbei Toilettenpapier bei Amazon zu bestellen. Dieses trügerische Gefühl der vermeintlichen Sicherheit kann aber auch zu Abhängigkeiten führen. Die Folge sind indes Stress, Angst, Depression und der Hang zur verstärkten Isolation. Bereits vor zehn Jahren fanden Forscher:innen an der University of Pennsylvania heraus, dass übermäßiger Konsum schlechter Nachrichten direkten Einfluss auf das psychische Wohlbefinden hat. Aber auch die Produktivität bei der Arbeit würde dadurch beeinträchtigt.
Bewusst mal abschalten
In diesen Tagen merkt man gut, wie sehr man in diesen Kräften gefangen ist. Natürlich will man als erstes wissen, wann die nächste Eskalation erreicht ist. Nachrichtenmedien spielen dabei ebenso eine Rolle. Liveblogs, Livestreams, neue Snippets, die im Minutentakt hinzukommen. Ich habe mich beim "Recherchieren" des tagesaktuellen Konflikts dabei erwischt, wie ich versuchte ARD, Twitter, Russia Today (man will ja auch die "andere Seite" hören) und CNN auf drei Bildschirmen gleichzeitig zu konsumieren, aber sobald ich auf einem Bildschirm war, schon wieder den nächsten Inhalt und die nächste Sensation gesucht habe.
Richtige Informationen bleiben da natürlich nicht hängen. Das Phänomen des Doomscrolling wird ganz bestimmt so bald nicht verschwinden. Aber bewusst mal abschalten, an die frische Luft, an was anderes denken, eine Kolumne schreiben oder sich Zeit fürs Kochen nehmen – klingt einfacher als es ist. Es scheint profan, aber einen kühlen, reflektierten Kopf zu behalten, dürfte für alle das Wichtigste sein, was uns in diesen unguten Zeiten bleibt.
Ich gehe dann mal mein Kopfkissen anbrüllen.