Wenn sich neuerdings Jung und Alt zu Strick- und Häkelzirkeln treffen und der heutige Craft-Aktivismus das Handwerk als politisches Statement versteht, verwundert es eigentlich nicht weiter, dass ein Kurator wie Udo Kittelmann den wiederentdeckten Lifestyle des Selbermachens mit der Ausstellung "Wert und Wandel der Korallen. Christine und Margaret Wertheim" in den aseptisch weißen Richard-Meier-Bau des Museum Frieder Burda in Baden-Baden einziehen lässt.
Schon am Eingang blühen einem an der Wand psychedelische Korallenriffe entgegen und lassen keinen Zweifel daran, dass manuelle Techniken längst den Sprung von der verpönten Heimarbeit in den Kunst-Diskurs geschafft haben. Stellte eine Rosemarie Trockel ihre Strickbilder noch maschinell her, kommt die gehäkelte Kunst der in Kalifornien lebenden Australierinnen Margaret und Christine Wertheim aus dem Wollkasten vieler Hände. Die Zwillinge verdienen nicht nur den noch zu stiftenden Preis für die effektivste Publikumspartizipation. Sie transferieren auch überaus verspielt die zugleich perfekte und unprofessionelle, verstaubte und neuartige, funktionale und unnütze Handarbeit ins Untextile und Komplexe der Klimakrise.
Während sich die neue Bundesregierung Zeit lässt mit der Energiewende, nimmt das Korallensterben dramatische Ausmaße an. Fischfang, Plastikmüll und die Ozeanerwärmung hinterlassen Spuren an den Tentakelwesen, die seit Jahrmillionen existieren. Weswegen man die über drei Stockwerke wuchernde künstliche Untersee-Welt als Epitaph lesen könnte, das nochmal in Erinnerung ruft, was gerade verloren geht. Wären da nicht die schreiend bunten Farben, die für ein entwaffnend lebensfrohes Porträt eines Wunderwesens sorgen, für das ein Jules Vernes das Etikett "Sozialisten der Meere" erfand, da in der Kolonie jede einzelne Nahrungsaufnahme dem ganzen Gebilde zugute käme. Das gilt auch für die Entstehung der Schau.
Tausende Menschen haben rund 40.000 Korallen für das Projekt gehäkelt
Dem Aufruf des Museum Frieder Burda, nach Vorlagen selbst gehäkelte Korallen beizusteuern, folgten Schulklassen und ganze Familiengenerationen, insgesamt 4000 begeisterte Häkel-Afficionados, die Mehrheit von ihnen Frauen – offenbar trotz aller Gender-Diskurse immer noch im Vorteil in Sachen kunsthandwerkliche DNA.
Die nicht selten von Erfahrungsberichten begleiteten Einschickungen haben die Schwestern neben eigenen Korallen-Skulpturen zu Sattelitenriffen gefügt. Einige Tentakeln wagen erfreulicherweise einen historischen Bogen zu den kunstvollen wissenschaftlichen Darstellungen der Korallen von Ernst Haeckel, oder den Glasmodellen von Leopold und Rudolf Blaschka.
Man stößt auch auf Mustertücher fürs Sticken, "Nadel-Malereien" der Firma DMC, Namenslisten der beteiligten Häkel-Kollektive und in den Ausstellungstexten auf biografische Hinweise über die Zwillinge, die einem Zweig der deutsch-jüdischen Wertheim-Familie entstammen. Dieser eroberte mit seinen Nähmaschinen den australischen Markt, weswegen schon die Kinder Christine und Margaret ihre Kleider selbst zu nähen wussten.
So elegant lässt sich geschwisterliche Konkurrenz umschiffen
Nur über ihr "Institute for Figuring" hätte man gerne noch mehr erfahren. Es widmet sich den ästhetischen Randgebieten der Wissenschaften, etwa der Nicht-Euklidischen Geometrie mit ihren hyperbolischen Formen, die man in Korallen und Seeschnecken studieren kann. Margaret, Physikerin und Wissenschaftsautorin, fand dabei heraus, dass das Häkeln mit seinen exponentiell zunehmenden Maschen die einzige Art ist, wie man hyperbolische Geometrie im Alltag jenseits von Computermodellen visualisieren kann. Christine, Dichterin, Malerin und Lehrende am California Institute of the Arts in Los Angeles, übernahm die Übertragung der Ideen ihrer Schwester ins Kunsthandwerk.
So elegant lässt sich geschwisterliche Konkurrenz umschiffen und dabei ein auf Ausstellungsstationen rund um die Welt verlässlich wachsendes Kunstprojekt erschaffen.