1. Affirmationen und Achtsamkeitssprech
Laut Googles Jahresrückblick suchte die Welt 2021 mehr nach Affirmationen als jemals zuvor. Das gebetsmühlenartige Wiederholen von bekräftigenden Sätzen wurde im zweiten Jahr der Pandemie und aller mit ihr einhergehenden psychischen Belastungen zur flächendeckenden kulturellen Praxis. Affirmationen passten wunderbar in jene zeitgenössische Form der Spiritualität, die Achtsamkeit mit Selbstoptimierung und Leistungsdenken verknüpft. Dabei nahmen sie teilweise derart absurde Züge an, dass beim Auftauchen der Instagram-Seite Afffirmations zunächst Uneinigkeit darüber herrschte, ob es sich um Satire handelt.
Mehrfach täglich teilt die Seite von kitschigen Stock-Fotografien untermalte Affirmationen, die von standardgemäßem Mantra-Sprech ("I’m really grateful for my stable sleeping pattern", "I was born to be an entrepreneur") über ironische Nivellierung ("I am protected from Saturday Psychosis", "My phone addiction is not a mental disorder") bis hin zu purem Internet-Dada ("I AM CRAZY BURGER", "My portfolio is CHUNKY") reichen. Das Format fand bald Nachahmerinnen und Nachahmer, darunter unter anderem eine brillante und tatsächlich erstaunlich erbauliche Affirmations-Seite für DJs. Gemein war allen Memes, dass sie mit ihrer halb ernst gemeinten Satire einen Mittelweg fanden zwischen toxischer Positivität und jenem Doomer-Nihilismus, der zahlreiche Formate der vergangenen Jahre prägte. All ihrer Satire und Übersteuerung zum Trotz ließen uns Affirmationen in vereinzelten Momenten mit neu gefundenem Selbstbewusstsein vom Bildschirm aufblicken und andächtig wiederholen: "I AM ECHO ENCHANTRESS".
2. Lady Macbeth als Girlboss
Der semantische Wandel des Begriffs "Girlboss" lässt sich am eindrücklichsten anhand einer gleichnamigen Serie aus dem Jahr 2017 nachvollziehen. Die Netflix-Show basiert auf der Biografie von Sophia Amoruso, die Forbes 2016 als eine der reichsten Selfmade-Frauen der Welt listete. “Girlboss” inszeniert die Gründerin des Fast Fashion-Labels Nasty Gal als unkonventionelle Unternehmerin mit frechem Führungsstil, eine Ikone des neoliberalen Feminismus, die Anzugträger aus der Chefetage verbannt und die Arbeitswelt jeden Tag ein wenig inklusiver macht.
Dass die Realität anders aussah, entpuppte sich noch vor Ausstrahlungsbeginn: Nach einer Anklage aufgrund der mutmaßlich illegalen Entlassung von schwangeren Mitarbeiterinnen und zahlreichen Beschwerden über ein toxisches Arbeitsumfeld, trat Amoruso aus dem Vorstand von Nasty Gal zurück. Spätestens seitdem steht “Girlboss” für eine privilegienblinde Pseudo-Ermächtigung à la Gwyneth Paltrow, deren Lifestyle-Marke Goop zweifelhafte alternative Heilmethoden und Vagina-Kerzen zum Preis von 79 Dollar verkauft. Als Pendant zu “Live, Laugh, Love”, dem Wandtattoo-Slogan der im vergangenen Jahr omnipräsenten Sozialfigur Karen, erhielten die manipulativen Boss-Babes 2021 mit “Gaslight, Gatekeep, Girlboss” ihren eigenen Leitspruch. Der auf Tumblr entstandene Slogan verhalf dem Begriff zu neuer Omnipräsenz und erweiterte seinen Gebrauch auf halbironische Selbstzuschreibungen sowie Bezeichnungen für gleichsam rücksichtslose und ikonische Figuren wie Anna Delvey oder Lady Macbeth.
3. Midwest-Emo-Intros
Midwest-Emo ist ein dem Grunge und Hardcore entsprungenes Musikgenre der 90er-Jahre, das in den 2010er-Jahren ein Revival feierte. Mit wahlweise geschrienen oder gehauchten Vocals besingt Midwest-Emo einen Themenkomplex aus Depression, Herzschmerz und der Ennui des Vorstadtlebens. Als Song-Intro dient häufig ein emotionaler Ausbruch des Sängers, der von sanften Gitarrenriffs begleitet wird – weibliche Stimmen tauchen meist nur an der Grenze zum Emo-Rap in der Form von Field Recordings auf.
Jahre nach der Renaissance des Midwest-Emo ging dann 2020 ein Video eines Streits viral, in dem ein Mann seinen brüllenden Monolog mit den Worten “I’m never good enough” beendet und begleitet von einem langgezogenen Schrei auf einem Moped davonfährt. Ein YouTuber erkannte die Midwest-Emo-Energie der dramatischen Auseinandersetzung und untermalte die Szene mit Gitarrenriffs. Ein neues Meme-Format war geboren. So richtig an Fahrt nahm es 2021 auf, als dutzende Musikerinnen und Musiker die Duett-Funktion von Tiktok nutzten, um dramatische Wutausbrüche musikalisch zu begleiten. Erhöht zum Song-Intro wird die seltsame Theatralität der meist frontal zur Smartphone-Kamera ausgerichteten Gefühls-Explosionen offenbar. Anders als die eher unfreiwilligen Akteure in Videos öffentlicher Ausraster, bieten die neuen Midwest Emo-Sängerinnen und -Sänger bereitwillige Performances persönlicher Abgründe, gespeist von dem Wissen um die Viralität extremer Emotionen – eine Art "American Gothic" der aufmerksamkeitsökonomischen Gegenwart.
4. NFT-Screenshots
Ihr rasanter Aufstieg, die astronomischen Summen, für die sie gehandelt wurden und die hitzigen Debatten um ihren Status als legitime Kunstwerke machten Non Fungible Tokens (NFTs) zum idealen Meme-Sujet. Der Clou an NFTs ist, dass sie reproduzierbare Inhalte, wie Audio- und Bilddateien mit einem individuellen Zertifikat versehen und so einem alleinigen Inhaber zuschreiben. Die Form des Eigentums, die durch NFTs ermöglicht wird, ist kompliziert. Ebenso wie auf der Blockchain basiert sie auf einem Glauben daran, dass man Inhalte wie Memes und Tweets überhaupt besitzen kann.
Eine beliebter Witz über die NFT-Community ist die absichtlich simplifizierte Behauptung, man hätte eine erworbene NFT auch einfach screenshotten können. Die Worte “this pic goes hard feel free to screenshot”, mit denen ein User der Plattform iFunny eine digitale Zeichnung eines kiffenden Affens im Weltall untermalte, wurden zum Slogan der NFT-Trolls. Bald fand sich der Spruch auch unter zahlreichen anderen Bildern, doch der Erfolg des Meme beruhte auf dem cringe-Faktor des Originals. Joint und Raumfahrt-Kulisse sind Marker einer akzelerationistischen Business-Bro-Online-Kultur; der anthropomorphisierte Affe weckt die Assoziation der für mehrere hunderttausend Dollar als NFTs verkauften "Bored Ape Yacht Club"-Avatare. In einem jener rekursiven Online-Humor-Loops malte schließlich der australische Street Art-Meme-Künstler Lush Sux eine Version des Meme mit einem Bored Ape an eine Wand und verkaufte das ganze als NFT.
Und als wären wir nicht bereits viel zu oft mit der deprimierenden Profanität der Affen konfrontiert worden, bescherte uns der Dezember ein allerletztes Meme. Die Worte “All My Apes Gone”, mit denen ein NFT-Sammler den Verlust seiner Bored Apes durch einen Hacking-Angriff beklagte, wurden zum zahlreich rekontextualisierten (“All my apes are gone / and the sky is grey”) Schlusswort des NFT-Jahres. Mögen sie zur Prophezeiung für 2022 werden.
5. Shot by Juergen Teller
Die Form, in der Juergen Teller amerikanische Schauspielerinnen und Schauspieler für das Cover des “W Magazine” ablichtete, sorgte Anfang 2021 für Kontroversen. Es war nicht das erste Mal, dass der deutsche Fotograf das Internet irritierte. Vielleicht lag es daran, dass die Bilder diesmal tatsächlich etwas willkürlich wirkten, vielleicht an der Aussage von Riz Ahmed, dass sein Shoot nach zwei Klicks und 20 Sekunden schon wieder vorbei war.
Jedenfalls führte die Irritation erstmalig zu einem eigenen Meme. "Shot by Jurgen Teller for W Magazine" schrieben die Menschen über virale Bilder und obskure Paparazzi-Fotos: Keanu Reeves’ einsames Snacken eines Sandwichs, Hillary Clintons geschockter Blick beim Betreten einer Sozialwohnung, Shaquille o’Neals erfolgloser Versuch, sich hinter einem mageren Baumstamm zu verstecken. Das beste an diesen Posts war, dass die Schnappschüsse mit ihrer rohen Unmittelbarkeit und ihrem leichten Hauch von Surrealismus tatsächlich perfekt die Essenz eines Juergen-Teller-Werks trafen. Man darf mutmaßen, dass Teller bei einigen von ihnen wohl tatsächlich gern die Person hinter der Kamera gewesen wäre.
6. Soft Launching
Der aus der Ökonomie stammende Ausdruck "Soft Launching" wurde 2021 auf Beziehungen erweitert. Durch Inhalte wie Fotos eines romantisch dekorierten Restauranttischs mit zwei Gedecken oder Selfies aus einem den Followerinnen und Followern bis dato unbekannten Schlafzimmer wird in den sozialen Medien angeteasert, dass es da eine neue Person im eigenen Leben gibt, ohne sie direkt zu zeigen.
Ähnlich wie die Vorab-Präsentation eines Produkts vor einem kleineren Testpublikum, dienen derartige Posts als ein Öffentlichkeits-Testlauf für eine noch nicht klar definierte Liebschaft. Der “Soft Launch September” wurde aufgrund eines verstrickten Bewusstseins über die Absurdität der Anwendung von Marketing-Strategien auf die eigene Beziehung zur Meme. Doch der Ausdruck fand über reine Satire hinaus seinen Weg in den alltäglichen Sprachgebrauch.
Wer erklärt, die aktuelle Partnerin nach anfänglichen Startschwierigkeiten zunächst in einer ephemeren Instagram-Story für enge Kontakte zu soft launchen, der navigiert mit ironischem Grinsen die spezifischen Herausforderungen von Liebesbeziehungen im Zeitalter sozialer Medien. In einem Artikel für “The Atlantic” vergleicht Kaitlyn Tiffany "Soft Launching" mit der Anwendung des Terms "Plot Twist" auf reale Geschichten. Beide Ausdrücke entstammen jenem halb ernstgemeinten Begriffskatalog, der die zeitgenössische Narrativierung und Mediatisierung des eigenen Lebens zur Sprache bringt.
7. The feminine urge to
Als soziales Konstrukt beeinflusst Gender die Strategien, Erwartungen und Verlangen, mit denen wir der Welt begegnen. Das Ausmaß dieser Umstände beleuchteten 2021 diverse Vollendungen der Worte "the feminine urge to". Ob sie reaktionäre Genderrollen reproduzierten, Geschlechterungleichheiten kritisierten oder hyperspezifische Szenarios ersponnen: die bald durch maskuline und nonbinäre Perspektiven ergänzten weiblichen Bedürfnisse illustrierten das breite Spektrum zeitgenössischer Genderrollen und den spielerischen Umgang, den die Generation Z mit ihnen pflegt.
8. Yassification
Was früher stundenlange Photoshop-Arbeit bedeutete, erledigen Gesichtserkennungs-Filter heute in Sekunden: endlos lange Wimpern, größere Lippen, messerscharfe Kieferpartien und zur Maske weichgezeichnete Gesichtshaut. Dank ihnen teilen Influencerinnen und Influencer, dysphorische Teenager und Prominente, deren ohnehin schon vorteilhafte Fotos von Fan-Accounts bis zur Unkenntlichkeit gefiltert werden, mit vielen anderen jenes "singuläre, cyborghafte Gesicht", das Jia Tolentino Ende 2019 "Instagram Face" taufte.
Als Reaktion auf öffentliche Kritik verkündete die Plattform damals, alle Filter, die den Effekt von Schönheitsoperationen nachahmen, zu verbannen. 2021 schien diese Maßnahme ausgedient haben, die Filter kehrten kommentarlos zurück. Mit sich brachten sie ein Meme, das die Filter-Verschönerung ab absurdum führte. Bei der "Yassification" werden Gesichter mehrfach durch den “Beauty”-Filter der russischen Bildbearbeitungs-App Faceapp bis ins "Uncanny Valley" gejagt. Am meisten yassifizierte der Twitter-Account Yassification Bot. Ob Slavoj Zizek, Sigmund Freud oder die Schauspielerin aus “Un Chien Andalou”: niemand war vor ihm sicher. Wie zahlreiche zeitgenössische Online-Slang-Ausrücke entstammt der bewundernde Zuruf Yas übrigens der queeren und größtenteils afroamerikanischen Ballroom-Kultur der 1980er-Jahre. In diesem Kontext lässt sich Yassification as eine virtuelle Form des Drag verstehen, die uns die Künstlichkeit gängiger Schönheitsvorstellungen vor Augen führt und sie in ihrer übersteigertsten Form zugleich zelebriert. If nature is unjust, yassify it!