Jahresrückblick

Beuys ist also immer noch ein Problem

Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys feierte Deutschland ein Jubiläumsjahr mit üppigem Programm. Viele Ausstellungen fragen, welche Rolle der Künstler für die Gegenwart spielt, leider wurden aber doch wieder die alten Debatten geführt. Eine Bilanz

An einem Abend im Oktober 2021 blinzelt Benjamin Buchloh in die Kamera seines Laptops. Seit zehn Monaten läuft das Beuys-Jubiläumsjahr in Deutschland, allein in Nordrhein-Westfalen haben unter dem Motto "Beuys 2021" rund 20 Museen Ausstellungen zum berühmten Landeskind (1923-1986) auf die Beine gestellt. Jetzt versammelt man sich in Düsseldorf zum Symposium: "Das Problem Beuys" lautet der Titel.

Einsatz Buchloh – wenn es gilt, Joseph Beuys als Problem zu sehen, ist der 80-jährige Harvard-Dozent vorn dabei. Als Redakteur der US-Zeitschrift "October" hat der deutschstämmige Kunsthistoriker den Diskurs über Kunst im 20. Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt – unter anderem mit einem legendären Verriss von Joseph Beuys' großer Ausstellung 1979 im New Yorker Guggenheim. Das Mythische in dessen Kunst sei nichts als eine Art Entwicklungsverzögerung, ahistorisch, rückständig, die Beuys-Jünger verblendet vom gefährlichen Charisma des Meisters, die Beuys-Werke ästhetisch rückwärtsgewandt, der Mann selbst komplett reaktionär, schrieb er damals. Bäm.

Und jetzt, gut 40 Jahre später? Ist offenbar nicht viel passiert. Buchloh bezeichnet Beuys' Anspruch, als Künstler im Sinne einer ökologischen und demokratischen Erneuerung auf die Gesellschaft einwirken zu wollen, als anmaßend und zutiefst autoritär. Dagegen bringt Buchloh den US-Postminimalismus der 1970er-Jahre in Stellung  – Donald Judd, Richard Serra, Eva Hesse, Bruce Nauman –, der von der Kunst analytische Klarheit statt gesellschaftliche Involviertheit gefordert habe. Wäre Eva Hesse, so Buchloh, mit dem Anspruch aufgetreten, dass ihre künstlerische Produktion ein Beitrag zur Aufarbeitung des Faschismus sei, hätte man das als grotesk empfunden. Ein Joseph Beuys, der einem toten Hasen die Kunst erklärt, sei ein trauriger Clown, der zwischen totaler Verdrängung der Geschichte und Spektakel agiere. Er könne, so das Fazit, einen sich als Heilsbringer inszenierenden Beuys nur als "historisches und ästhetisches Monstrum von fatalen Ausmaßen" ansehen. Bäm.

Ein Lehrstück in medialer Selbstwiederholung

Es war faszinierend, wie sich Buchloh bei diesem Vortrag im Oktober 2021 noch ein letztes Mal die Helden des Postminimalismus als Krönung der Kunstgeschichte auf den Sockel stellte, ohne wiederum deren Historizität überhaupt nur zu bemerken. In Buchlohs Argumentation muss jede Kunst, die nicht den modernistischen Dogmen des 20. Jahrhundert folgt, als rückständig bezeichnet werden – der legendäre Kritiker scheint in einer Zeitschleife gefangen. Womit Buchloh aber nicht alleine dasteht. Das Jubiläumsjahr zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys war unter anderem auch ein Lehrstück in medialer Debattenwiederholung.

Dass Beuys' Erzählung vom Absturz an der Krim und der anschließenden Rettung durch "Tartaren" eine Legende ist, ist seit 1980 bekannt und wurde seitdem viele Male ausbuchstabiert. Seit Anfang der Nullerjahre hatten verschiedene Biografien Beuys' Werdegang im Nationalsozialismus und auch das Echo völkischer Motive in seinem Werk recherchiert, Beuys‘ Verbindungen zur anthroposophischen Lehre aufgezeigt, seine Mitgliedschaft in Hitlerjugend und Wehrmacht und auch seine vielen Kontakte zu ehemaligen Nationalsozialisten nach dem Krieg aufgeschrieben. In seinem viel beachteten Aufsatz "Der ewige Hitlerjunge" interpretierte der Kunsthistoriker Beat Wyss 2008 in Monopol den revolutionär bewegten Beuys als schillernden Wiedergänger der 1930er-Jahre, dessen Vorstellung von Politik als sozialer Plastik im Kern patriarchal und dessen Kunst mehr Verdrängungsarbeit gewesen sei als Aufarbeitung.

Diese Thesen sind seitdem ausführlich diskutiert worden, der Hitlerjunge gegen den Radikaldemokraten abgewogen, der Verdränger gegen den Künstler der Krisen, der seine Wunde zeigt. Als Catherine Nichols und Eugen Blume als künstlerische Leitung des NRW-Jubiläumsprogramms ihre Agenda vorstellten, konzentrierten sie sich auf andere Themen. Sie wollten vor allem herausfinden, welche Fragen Beuys an die Gegenwart stellt, zu Ökologie, Demokratie und die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. Was bedeutet es, wenn jeder Mensch ein Künstler ist? Wie verändert sich unser Kunstbegriff, wenn Bäumepflanzen dazu gehört? Was am verstaubten Beuys mit seinem ranzigen Fett können junge Künstlerinnen und Künstler weiterdenken ins 21. Jahrhundert?

Die großen Männer lassen Blumen sprechen

Die Sache mit dem Hitlerjungen sollte im Herbst in besagtem Symposium noch einmal debattiert werden, was zu Jahresbeginn nicht prominent in den Ankündigungen stand. Eine offene Flanke, in die "FAZ"-Kritiker Niklas Maak als erster genüsslich hineinstieß. Wollten die "Beuys 2021"-Macherinnen etwa verschleiern, dass Beuys unter völkischem Verdacht steht? Das Feuilleton kam auf Touren. Breaking News: Beuys war Hitlerjunge und außerdem bei der Wehrmacht. Bäm.

Schade eigentlich, schließlich gab es auch einiges andere zu berichten aus diesem Beuys-Jahr. Die Eröffnungsausstellung "Jeder Mensch ist ein Künstler", die Catherine Nichols und Eugen Blume im K21 in Düsseldorf zeigten, versammelte weniger Werke von Beuys selbst als viele Projekte jüngerer Künstlerinnen und Künstler, die seine Grundfrage heute weiterdenken: wie Kunst in die Gesellschaft eingreifen kann. Das Ergebnis war wimmelnd und zukunftsgewandt wie eine Mini-Biennale. Kunsthistorisch präzise, klar und absolut eindringlich geriet dagegen die Gegenüberstellung von Beuys mit Marcel Duchamp im Kaiser-Wilhelm-Museum Krefeld. Überraschend, wie viele Motive und künstlerische Strategien sich die beiden auf den ersten Blick so gegensätzlichen Künstler teilen, vom Readymade bis zur Freude am spielerischen Wettkampf – der eine im Schach, der andere im Boxen. Sogar die Rose in Beuys‘ Multiples kann man als Reaktion auf Duchamps Alter Ego Rrose Sélavy lesen – die großen Männer der Kunst des 20. Jahrhunderts lassen einträchtig Blumen sprechen.

Wie anschlussfähig Beuys' Kunstfigur des Schamanen heute ist, zeigte die Ausstellung "Technoschamanismus" im Hartware Medienkunstverein in Dortmund, wo unter anderem Johannes Paul Raether per Augmented Reality ins genderfluide Reich seiner Kunstfigur Transformella entführte. Dass wir Raethers ritualhafte Science-Fiction-Performances mittlerweile genauso selbstverständlich als Kunst wahrnehmen wie einen cleanen Kubus von Donald Judd, gehört letztlich ebenfalls zum Beuys'schen Erbe – genauso wie seine braunen Kreuze, die immer wieder schmerzhaft an die Nazi-Ikonografie denken lassen.

Dieser Künstler, so lehrt das Beuys Jahr, lässt sich weder entschlüsseln noch auf einen eindeutigen Begriff bringen, dafür aber in viele Richtungen weiterdenken. Ambiguität, dein Name ist Beuys. Was ihn in einer Zeit der schnellen Urteile geradezu unschätzbar macht.