Während in Petrit Halilajs Heimat 1999 der Kosovo-Krieg wütet, findet der damals 13-Jährige in dem albanischen Flüchtlingslager "Kukës II" durch den Psychologen Giacomo "Angelo" Poli zum Zeichnen. Es ist Petrit, der kurz nach der Begegnung mit Angelo eingeladen wird, dem damaligen UN-Sekretär Kofi Annan bei seinem Besuch im Krisengebiet eine Filzstift-Zeichnung zu überreichen. Darauf abgebildet sind kriegerische Gräueltaten, verübt durch die jugoslawische Armee Slobodan Miloševićs neben traumhaft-bunten Landschaften. Petrit Halilajs Biografie, verwoben in die große Erzählung des Kosovo-Krieges, ist Ausgangspunkt seiner Ausstellung "Very vulcanic over this green feather" in der Tate St Ives im englischen Cornwall.
Petrit Halilaj, der Kosovo-Krieg ist der jüngste kriegerische Konflikt Europas, in dem die Nato durch das Abwerfen von Bomben militärisch intervenierte. Ab 1999 wurde Ihre damalige Heimat Serbien angegriffen, um die jugoslawische Armee vor dort zu vertreiben und Menschrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung zu beenden. Wie erlebten Sie die Situation, die auch den Ausgangspunkt Ihrer Ausstellung in der Tate St. Ives bildet?
Ich bin 1986 im Kosovo geboren und in einer Zeit aufgewachsen, in der ich offiziell nicht einmal meinen Namen in unserer Sprache schreiben durfte. Die kosovarisch-albanische Bevölkerung lebte in einer Art Apartheid-Status. Von der jugoslawischen Regierung, die über unser Territorium herrschte, wurden wir als Terroristen bezeichnet. Die Nachbarländer ignorierten unsere friedlichen Versuche, den Zustand der Segregation, der sich mitten in Europa manifestierte, zu beenden. Es schien als warte die Welt auf Opfer, um eingreifen zu können.
Wurden Sie selbst Zeuge von Übergriffen auf die Bevölkerung?
Die serbische Armee und Polizei begannen 1999, schon während der Nato-Bombardements, unser Dorf Kostërrc niederzubrennen. Alle Familien wurden in die dreistöckige Schule getrieben. Frauen, Alte und Kinder mussten sich von den Männern verabschieden. Sie drohten uns: Wer weinte, dessen Vater würde man schlagen. Es war ein Abschied ohne Tränen. Ein Verwandter, der wie ein Mädchen aussah, bekam ein Kopftuch von einer alten Frau übergehängt. Wir sagten uns, warum versuchen wir nicht, ihn zu verkleiden, sie werden wahrscheinlich sowieso alle töten. Meine Mutter, Geschwister und mein Großvater gelangten in ein Flüchtlingslager.
In der Ausstellung erfährt man, dass hier der Grundstein für Ihre künstlerische Laufbahn gelegt wurde. Wie kam es dazu?
Ich war der Älteste unter meinen Geschwistern, der Großvater über 70, meine Mutter weinte oft, weil sie nicht wusste, wo mein Vater als Kriegsgefangener hingebracht wurde. Ich musste bei unserer Versorgung mithelfen. Es ging dieses Foto von Andrew Testa von mir um die Welt, das mich inmitten einer Schlange von Frauen zeigt, die um Brot anstanden. Irgendwo da, wo Essen verteilt wurde, sah ich ein Schild mit einem Angebot für einen Zeichenkurs. Dann erinnere ich mich nur an ihn, Angelo. Als er sich vorstellte, trug er all diese farbigen Stifte bei sich. Das Camp war unübersichtlich, über 5000 Menschen lebten hier, ich hätte Angelos Programm leicht übersehen können. Aber nichts existiert ohne Ursache. Bevor Angelo in seine Heimat Italien zurückging, gab er mir seine E-Mail-Adresse. Sobald es ging, schrieb ich ihm. Ein italienischer UN-Soldat übersetze meinen Brief. Es ist eine lange Geschichte, aber mit 18 nahm er mich in seinem Zuhause auf und das Unglaubliche wurde wahr: Ich begann mein Studium an der Akademie der schönen Künste in Mailand.
Was genau haben die Kinder in diesem Programm im Flüchtlingslager gemacht?
Angelo war ein Psychologe aus Norditalien, der die Helfer im Lager unterstützen sollte. Als er sah, dass die Kinder nur Hilfe für die grundlegendsten Bedürfnisse erhielten, initiierte er den zweiwöchigen Zeichenkurs. Kunst ist sehr effektiv, um Traumata in eine andere Art von Sprache zu übersetzen. In zwei Wochen habe ich 38 Zeichnungen produziert, die den Ausgangspunkt für die Ausstellung in der Tate St Ives bilden. Zwei Zeichnungen übergab ich damals dem UN-Botschafter Staffan de Mistura, die er zum Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien mitnahm. Dieses Haager Tribunal, ab 2002 eine ständige Einrichtung, bestand seit 1993 und war für die Verfolgung schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Jugoslawienkriege zuständig. Die Zeichnungen wurden als Beweis für Kriegsverbrechen verwendet.
Neben der Hauptausstellungshalle in der Tate St Ives gibt es einen angrenzenden Raum. Hier dokumentieren Sie die Begegnung mit Angelo, das Tagebuch Ihres Großvaters ist hier ausgelegt, man erfährt von anderen Wegbegleitern und Situationen, die für Ihre Lebensgeschichte essenziell wurden. Durch einen BBC-Film ist dokumentiert, wie Sie Kofi Annan bei seinem ersten Besuch im Krisengebiet eines Ihrer Bilder überreichen. Wie fühlte sich das an?
Meine Geschichte ist es wert, durch eine Ausstellung als Teil eines kollektiven Narrativs erzählt zu werden, weil vieles an dem, was passierte, surreal war, wie eben Kofi Annan in einem Camp gegenüberzustehen und Teil der kollektiven Geschichte zu werden. Ich empfand die Situation als eine Chance von 20 Sekunden, um zum Ende des Krieges beizutragen. Ich wusste drei Tage vorher, dass Annan kommt und ein einfaches A4-Bild wollte ich ihm nicht geben. Ich schuf am Boden auf dem Zelt ein großes Bild, das wir auf Karton legten, weil es im Zelt so matschig war.
Wie fiel die Reaktion Annans aus?
Man spürt als Kind sehr gut den Unterschied zwischen belangloser und wahrhaftiger Aufmerksamkeit. Journalisten, Helfer und Annan sahen in der Zeichnungen Beweise für den Krieg. Ich spürte den Nutzen des Dokumentierten. Kofi Annan bat um das Bild, um es in der Woche darauf dem UN-Sicherheitsrat in New York vorzulegen, aber ich wollte es ihm nicht geben.
In der großen Galerie der Tate St Ives zeigen Sie nun Fragmente der originalen Kinderzeichnungen als Vergrößerungen. Darauf zu sehen sind die Grausamkeiten des Krieges und Fantasiewelten eines Kindes voller Vögel und fantastischer Visionen.
Jedes Mal, wenn wir uns erinnern, verändern wir die Erinnerung. Der individuelle Blick in die Vergangenheit, genauso wie die Vorstellung von der Zukunft, sind immer fragmentiert, weil sie sich aus einzelnen Bildern im Kopf zusammensetzen. Kunst ist die perfekte Darstellungsform für eine fragmentiert gedachte Realität. Es ist faszinierend zu sehen, dass ich damals gleichzeitig Soldaten zeichnete und bunte Pfauen. Diese Tiere hatte ich noch nie gesehen. Mein Großvater glaubte nicht an meine Hoffnung, die ich mit dem Bild für Kofi Annan verband. Als ich zwischen Annan und dem albanischen Präsidenten vor den ganzen Medien stand, spielte sich die Szenerie wie auf einer öffentlichen Arena ab. Mein Großvater sagte, das alles sei nur ein politisches Spiel. Das erklärt vielleicht, warum die Ausstellung viele Elemente aufweist, die von der Theatersprache abgeleitet sind.
Die Besucher der Ausstellung können den Hauptraum in zwei Richtungen durchschreiten. Zunächst begegnen sie den bunten Landschaften. Beim Zurückgehen trifft man schließlich auf die Situationen, die auf den Krieg hinweisen. Das einzige beidseitig sichtbare Motiv ist ein kleiner Junge.
Der kleine Junge aus der Kofi-Annan-Zeichnung thematisiert das sogenannte Racak-Massaker. Dieser Junge steht symbolisch für den Überlebenden, der von den Mördern vergessen wurde. Selbst im Holocaust und in allen großen Tragödien und Kriegen gibt es die Überlebenden, die davon berichten, was geschehen ist. Nichts lässt sich auslöschen. Denn auch die Auslöschung hinterlässt Spuren.
Bereits als 13-Jähriger glaubten Sie an das aktivistische Potenzial Ihrer Zeichnungen. Auch in Ihren überdimensionierten Blumenskulpturen, eine Gemeinschaftsarbeit mit Ihrem Mann Alvaro Urbano, sind extreme Vergrößerungen echter Blüten das Mittel, dem natürlicherweise Kleinen und wenig Augenscheinlichem zu einer materiellen Präsenz zu verhelfen.
Meine Skulpturen sind mehr als formale Kunstwerke. Die Arbeiten in der Tate St Ives und die Blumenskulpturen ähneln sich insofern, als dass sie Überbringer einer humanitären Nachricht sein möchten. Die Blüten, alles Blumen, die Alvaro mir im Laufe unserer Beziehung geschenkt hat, sind Zeichen homosexueller Liebe und Zuneigung. Wir haben die Blumen jüngst und zum ersten Mal in Pristina gezeigt – nicht in einem Museum, sondern in einer öffentlichen Bibliothek. Kosovo tut sich schwer damit, Gleichberechtigung für die LGBTQI+ zu garantieren, trotz der derzeitigen Gesetzeslage gegen Diskriminierung. Alvaro und ich waren dementsprechend nervös. Doch dann geschah etwas Unglaubliches. Für eine so junge Nation mit einer sehr jungen Bevölkerung haben wir eine großartige Pride Week geschaffen. Sogar der kosovarische Premierminister Albin Kurti kam zur Eröffnung, gemeinsam mit der Party- und Schwulenszene Pristinas und politischen Aktivistinnen und Aktivisten. Albin Kurti sagte zu mir: "Ich habe mir in meinem Leben immer Blumen von oben angesehen und jetzt sehe ich, dass etwas so Zerbrechliches so groß sein kann und auf mich schützend niederblickt." In gewisser Weise repräsentieren beide Werke durch ihre Vergrößerungen und das Ausschnitthafte individuelle Erfahrungswelten, die dann repräsentativ werden. Die Blumen, wie auch die Zeichnungen, haben das Potenzial, Perspektiven zu ändern und am Ende vielleicht sogar Gesetze.