Im Jahr 1987 hatte der sowjetische Architekt Sergej Barchin eine Idee. In allen Großstädten dieser Welt könnten auf den zentralen Plätzen entschärfte Waffenraketen aufgestellt werden, die man zu Wohntürmen umbauen würde, um so einen Wohnraum für obdachlose Menschen zu schaffen. Als Tintenzeichnung hielt er seinen Einfall fest, am Beispiel einer unbestimmten "europäischen Stadt": Der Vollmond steht am Himmel, die Raketen-Bewohner winken aus ihren großzügigen neuen Fenstern heraus, und ihre neuen Nachbarn winken ihnen freundlich zurück.
Genügt solch ein Geistesblitz, um die Welt zu verändern? Ist das Zeichenbrett der Architektur wirklich so mächtig? Womöglich überschätzte Barchin seinen Berufsstand, als er sich diese kitschige, pauschale Lösung ausdachte und dabei wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse echter Menschen nahm (wer würde schon in einer Kriegswaffe leben wollen?). Seit damals haben Architektinnen und Architekten das Thema Obdachlosigkeit in ihrer Forschung ziemlich vernachlässigt. Das Architekturmuseum der TU München verpasst ihnen mit der Ausstellung "Who’s next?" dafür jetzt einen Denkzettel. Die an der Ausstellung beteiligten Studierenden finden, dass die Wohnungskrise eine Aufgabe sei, die endlich wieder mehr ins Bewusstsein der Disziplin rücken müsse; nicht zuletzt, weil die Architektur eine Mitschuld an der Krise hat. Mit sozialem Wohnungsbau lässt sich weniger Geld verdienen, doch profitable Aufträge, die gern als "Aufwertungen" oder "Revitalisierungen" bezeichnet werden, tragen über die Gentrifizierung direkt zur Verdrängung von Alteingesessenen bei.
Diese Menschen, die mittlerweile immer öfter auch Berufstätige oder Familien sind, brauchen einen Ort, an den sie ausweichen können. Ein beliebter Irrtum der Politik ist bis heute, dass jede noch so schäbige Behausung helfe oder sogar zur Abschreckung dienen könne. Wenn Unterkünfte die gesundheitliche und berufliche Rehabilitierung der Bewohner verhindern, ist der entstehende Schaden jedoch manchmal größer als der Nutzen. So fand man im Corona-Lockdown für Wohnungslose vielerorts nur Notlösungen, die eine Abwärtsspirale bewirkten. Die Pandemie hat weltweit Menschen auf die Straße gesetzt und einen schon vorher erkennbaren Trend zu steigender Wohnungslosigkeit weiter verschlimmert.
Ins Zentrum statt an den Stadtrand
Die Zahlen könnten nochmals ansteigen, sobald aufgeschobene Mietzahlungen fällig werden. Und während Moskau oder Mumbai das wahre Ausmaß ihrer Obdachlosigkeit vertuschen, finden selbst Städte wie New York City oder London, wo dieser Missstand regelmäßig thematisiert wird, einfach keine effektiven Gegenmaßnahmen. "Das ist ein gesellschaftliches Versagen", sagt Museumsdirektor Andres Lepik.
Für die Ausstellung "Who’s next?" wurden deshalb 23 Projekte zusammengetragen, die man sich zum Vorbild nehmen könnte. Gemeinsam ergeben sie keine pauschale Zauberformel (Kurator Daniel Talesnik erschaudert jedes Mal, wenn ein Journalist nach den Gemeinsamkeiten der 23 fragt), sondern sie betonen, wie vielseitig die Verantwortung der Architektur eigentlich ist und wie zahlreich ihre Auswirkungen sind.
Dass die Unterkünfte aus preiswertem Material sein müssen, liegt auf der Hand. Doch die Bedeutung von Techniken wie der Modulbauweise geht darüber hinaus. Dank der Module lässt sich eine Unterkunft schnell an einen neuen Standort umziehen, sodass sie nicht geschlossen werden muss, wenn eine Fläche anderweitig gebraucht wird. Nachverdichtung bedeutet derweil, auf ein bestehendes Gebäude zusätzliche Stockwerke für obdachlose Menschen zu setzen. Das schafft eine gute Anbindung an Geschäfte und Hilfsdienste; es ermöglicht, die Menschen im Stadtzentrum zu verankern, anstatt sie an den äußersten Rand abzuschieben.
Die Erkenntnis, dass Obdachlosigkeit nicht selbstverschuldet ist
Viele Projekte versuchen einen Spagat zwischen Unabhängigkeit einerseits und Gemeinschaftsgefühl andererseits. Das kann etwa über zwei Wohnungseingänge aus verschiedenen Richtungen umgesetzt werden, die jedem und jeder die Wahl lassen, ob sie gerade auf Nachbarn treffen möchten oder nicht. In einem alten Biedermeier-Haus in Wien wird das Gemeinschaftsgefühl besonders groß geschrieben: Hier wohnen ehemals wohnungslose Menschen mit Studierenden in Dreier-WGs zusammen, um vom Leben der jeweils anderen etwas mitzubekommen.
Je mehr sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Obdachlosigkeit nicht selbstverschuldet ist (noch zur NS-Zeit waren die "Asozialen" für ihr gesellschaftliches Versagen mit einem eigenen Stern gebrandmarkt worden), desto selbstbewusster wird der architektonische Auftritt dieser Unterkünfte. Manche Objekte in den USA haben bereits Elemente in Knallfarben: leuchtend rote Balkone oder gelbe Waschküchen, die sich ganz bewusst von den Nebenhäusern abheben, von Weitem sichtbar sind und im Stadtbild die Existenz der Sozialwohnungen betonen sollen. Auch das ist mitunter eine Gratwanderung.
Dabei können schon weit unauffälligere Details einen großen Unterschied machen. "Mit der Art, wie ich den Türanschlag setze und in welche Richtung sich die Tür öffnet, entscheide ich mit über die Lebensbedingungen der Bewohner", sagt der österreichische Architekt Alexander Hagner. Er hat sich in Wien für nach außen öffnende Türen entschieden, um Menschen mit Traumata mehr Sicherheit zu geben. In Los Angeles haben die Maltzan Architects statt einer zentralen Waschküche viele kleine Räume eingerichtet und damit einen positiven Effekt erzielt. Von solchen Erkenntnissen, die sich oft erst aus der Praxis ergeben, sind sogar Experten wie Kurator Daniel Talesnik noch überrascht. Nicht zuletzt daher kommt die Idee zu sogenannten partizipativen Projekten: Wenn die Erfahrung der Architekten an ihre Grenzen stößt, hilft es in Zukunft vielleicht, die Wohnungslosen in die Projekte mit einzubeziehen. Und zwar nicht als Bauarbeiter, wie seit jeher üblich, sondern von vornherein als kreative Beraterinnen und Berater der Architekten. In der Ausstellung in München lässt sich die nötige Demut für diesen gemeinsamen Schritt finden.