Künstlerin Alexandra Grant

"Könnte Avantgarde nicht bedeuten, eine Frau zu sein?"

Die US-Künstlerin Alexandra Grant, die ab Samstag in Berlin ausstellt, beschäftigt sich mit Mythen und der Macht von Worten. Im Interview spricht sie über antike Vorbilder, Feminismus im Kunstbetrieb und Liebe in Zeiten von Hass und Hetze


Alexandra Grant, seit wann sind Sie in Berlin?

Ich bin am 1. Juni angekommen und bleibe bis Ende August. Letztes Jahr war ich für fünf Monate hier. Und davor sechs Wochen in Potsdam. Ich mag es, öfters mal den Standort zu wechseln. Das klappt gut, weil ich viel auf Papier arbeite und meine großformatigen Bilder oft erst am Ende zusammensetze, manchmal sehe ich sie erst im Ganzen, wenn sie in der Galerie installiert sind. Ich brauche kein großes Atelier, ich arbeite hier in der Wohnung, auf dem Fußboden, an der Wand.

Als Tochter einer Diplomatin sind Sie schon während Ihrer Kindheit viel umgezogen, haben in unterschiedlichen Ländern, auf unterschiedlichen Kontinenten gelebt.

Ja, wahrscheinlich bin ich deshalb so flexibel und offen für Veränderung. Ich kann einfach meine Sachen zusammenpacken, in einer neuen Stadt ankommen, auspacken, und finde mich meist auf Anhieb zurecht. Klar kriege ich auch mal Kulturschocks. Man weiß ja nie, was eine neue Umgebung mit einem macht. Aber ich erlebe Berlin, den Rhythmus der Stadt, gerade als extrem angenehm. Ich habe auch das Gefühl, dass man der Kunst hier mit einer größeren Ernsthaftigkeit begegnet. Und ich genieße es, in einer anderen Zeitzone zu sein.

Los Angeles, Ihre eigentliche Wahlheimat, hängt dem globalen Tagesgeschehen hinterher. Das betont auch Mathew Hale, der die Gruppenausstellung "The Youngest Day" bei der Galerie Carlier Gebauer kuratiert, in der eins Ihrer großformatigen Bilder zu sehen sein wird. "Bis Südkalifornien aufwacht, ist sonstwo in der Welt das meiste Wichtige schon passiert", schreibt er in seinem Ausstellungstext.

Genau. Mir gibt das hier Ruhe. Kaum jemand ruft an, wenn ich arbeite, weil drüben in Amerika noch alle noch schlafen. Perfekte Arbeitsbedingungen!

Die Ausstellung bringt künstlerische Positionen aus Los Angeles nach Berlin. Wie würden Sie Ihre Beziehung zu L.A. beschreiben?

Ich habe einen großen Teil meiner Kindheit damit verbracht, zwischen Mexiko und den USA umzuziehen, habe zeitweise auch in Frankreich und Spanien gelebt. Sehr international also, mit doppelter Staatsbürgerschaft, Eltern mit unterschiedlichen Nationalitäten. L.A. ist schön warm und nah an der mexikanischen Kultur. Ich bin das erste Mal 1995 hingezogen, dauerhaft dann 2001. Damals war die Stadt noch sehr günstig, und ich war beeindruckt von ihrer Großzügigkeit. Außerdem habe ich mich immer sehr für Language Art interessiert, in L.A. waren Leute wie John Baldessari oder Barbara Kruger, es gibt dort eine reiche Geschichte der konzeptuellen Malerei. Ich mag auch die Macher-Mentalität der Menschen, sie glauben an ihre eigenen Möglichkeiten. Ein anderer wichtiger Grund, warum ich damals nach L.A. wollte, war der, dass ich dort niemanden kannte und ganz auf mich allein gestellt war.

Ist das ein Vorteil?

Meine Eltern waren gut vernetzt, es hat sich für mich immer so angefühlt, als wenn wir überall Leute kennen, egal wo wir hingehen. Ich musste aber wissen, dass ich es allein schaffen kann. Gegen alle Widerstände. Ich habe mit 21 Jahren meinen ersten Heiratsantrag bekommen. Dieser Mann hat mir damals gesagt: Du bekommst ein großes Atelier, in Italien. Hätte ich mich darauf eingelassen, hätte ich wohl nie ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt.

Ich würde gern mit Ihnen über Sprache sprechen, die ja ein wichtiger Aspekt Ihrer Arbeit ist. Aber eben auch eine Form von Heimat, Mittel der Selbstfindung, Selbst- und Vergangenheitsbewältigung. Ein wichtiger Gedanke in der Theorie von Hélène Cixous, mit der Sie zusammengearbeitet haben ...

Ich glaube, der Drang zu schreiben resultiert häufig aus dem Gefühl, dass die Welt, die man in sich trägt, in der äußeren Welt nicht – oder zumindest nicht ausreichend –repräsentiert ist. Ich habe Hélène immer sehr bewundert, wir ergänzen uns gut. Durch sie habe ich gelernt, wie man die Geschichten anderer Menschen erzählt, ohne ihren Raum einzunehmen. Es geht auf ihre Definition von Telepathie zurück – davon handelt auch das Buch, das wir gemeinsam gemacht haben: Während Empathie ein gewisses Machtgefälle impliziert, basiert die Telepathie auf Gleichwertigkeit.

Ihre Arbeit, die bei Carlier Gebauer gezeigt wird, gehört zu einer Serie, die die Geschichte von Antigone aus der antiken Tragödie von Sophokles aufgreift. Sie arbeiten immer wieder mit diesem einen Zitat: "I was born to love, not to hate." Eine aktuelle Botschaft in Zeiten von Hasskommentaren und Cybermobbing. Seit wann beschäftigen Sie sich mit Antigone?

Sie taucht schon in einem Notizbuch von mir auf, das fast 30 Jahre alt ist. Die Werkserie habe ich vor sieben Jahren begonnen, also noch in Zeiten von Obama, bevor die Rhetorik des Hasses weiträumig zur Waffe gemacht wurde. Die Rolle der Kriegerin, die sich für die Verstoßenen und Geächteten einsetzt, hatte für mich schon immer einen großen Reiz. Mein Name, Alexandra Grant, bedeutet "große Beschützerin, Verteidigerin".

Was ich im Kontext dieser Ausstellung interessant finde, in der es zum einen um einen Ort geht (Los Angeles), zum anderen um die Verlagerung künstlerischer Positionen an einen anderen Ort (Berlin), ist Antigones Hintergrundgeschichte: Als Ödipus' Tochter begleitet sie ihren blinden, verbannten Vater ins Exil. Sie fungiert als eine Art Fluchthelferin.

Das stimmt. Aber es geht weniger um den Impuls, wegzulaufen, als darum, der eigenen Intuition zu folgen. Ich glaube übrigens, das ist auch ein Grund für viele Leute, nach L.A. zu ziehen: Sie sind auf der Suche nach ihrer Intuition. Antigone verkörpert für mich diesen inneren Glauben an eine höhere Wahrheit, an einen persönlichen Werte- und Moralkodex, der über dem Gesetz steht.

Das hat heutzutage einen seltsamen Beigeschmack ...

Natürlich zeigt sich in all den Verschwörungstheorien, die durchs Internet geistern, dass solche Ideen und Begriffe leicht manipuliert werden können. Spiritualität, auch spirituelle Sprache, ist gefährlich geworden – ob es nun QAnon, Impfgegner, oder diese neuen Yogi-Nazis sind, die sie für ihre Zwecke verwenden. Im Fall von Antigone ist die Antiautorität etwas sehr Authentisches, sie beruht auf einem profunden philosophischen Standpunkt, der ebenso universell wie radikal ist. Das ist ja auch interessant, in dem Zusammenhang: Was bedeutet es eigentlich, sich über das Gesetz zu stellen, sich über Regeln hinwegzusetzen? Wann dürfen oder sollten wir es tun? Wann muss die Ordnung gestört werden? Das ist ein ständiger Aushandlungsprozess, der auch in meinen Bildern stattfindet.

Die haben zunächst eine positive Energie. Aber ja, man erkennt auch kämpfende Kräfte, einen gewissen Clash.

Darum geht es auch, um den Antagonismus. Auf der einen Seite das Chaos, das etwas Naturgewaltiges hat. Dann die geraden Linien, eine gewisse Harmonie. Strukturen, die aber immer wieder gebrochen werden müssen.

Mit der Sprache als Machtstruktur scheint es ähnlich zu sein.

Absolut. Ich bin stark von der feministischen Sprachetheorie geprägt, insbesondere von der französischen der 1968er, wie auch Hélène Cixous sie vertritt. Wie sehr kontrollieren uns unsere sprachlichen Strukturen, und wie können wir über solche Mechanismen hinwegkommen? Wie können wir uns Sprache zu eigen machen? Antigone trägt ihren Satz wie eine Waffe, im Kampf für das Gute. Wir müssen uns fast immer der Sprache bedienen, wenn wir für etwas eintreten wollen und speziell das weibliche Für-sich-selbst-eintreten muss durch die Sprache geschehen. Aber es ist natürlich nicht nur die Sprache. Auch in Antigones Geschichte ist es am Ende nicht die Sprache selbst, die das Drama ausmacht, sondern ihre Handlung.

Wie nehmen Sie die Debatte über geschlechtergerechte Sprache wahr? Immerhin ist Englisch ist etwas weniger männlich geprägt, als Deutsch oder Französisch, weil es nicht so viele geschlechtsspezifische Wörter gibt...

Im amerikanischen Englisch haben wir Ausdrücke wie "guys!" oder "dude!". Sehr kalifornisch. Die Alternative wäre sowas wie "y’all", aber wie ein Südstaatler möchte man auch nicht klingen, schon wegen des dort tief verwurzelten Rassismus. Dann gibt es all diese genderneutralen Wortneubildungen, wie "LatinX". Und die "they/them" Pronomen, das ist ein großes Thema. Die Diskussion und auch das Unbehagen, das sie bei vielen hervorruft, ist wichtig – wir befinden uns in einer entscheidenden Übergangsphase. Aber es müssen unbedingt zur gleichen Zeit andere Dinge passieren. Es gibt keine soziale Gerechtigkeit, solange es keine wirtschaftliche gibt. Für mich als Künstlerin bedeutet das konkret: Solange es keinen wirklichen Wandel gibt, wer in dieser Branche die Gelder kontrolliert, kann sich kaum entscheidend etwas ändern. Zahlen lügen nicht.

Welche finden Sie besonders bemerkenswert?

"Artnet" hat vor einiger Zeit eine Erhebung gemacht, über einen Zeitraum von zehn Jahren, von 2009 bis 2019: Nur 11 Prozent der Neuankäufe amerikanischer Museen sind Werke von Künstlerinnen. Ich glaube wir machen gerade viele optische Korrekturen in der Gesellschaft, aber schaffen wir wirklich Veränderung? Die Antwort ist: definitiv nicht genug. Deshalb hören auch viele Künstlerinnen irgendwann auf, weil sie nicht mehr gegen diese Widrigkeiten ankämpfen wollen oder können. Wenn man trotzdem weitermacht, obwohl man den äußeren Druck spürt, dann ist das für mich eine Geste, die damit vergleichbar ist, sich als queere Person in der Öffentlichkeit zu zeigen. Sich als andersartiger Körper in einem ablehnenden Umfeld zu behaupten, ist immer radikal. Ich war vor Jahren in einem Panel mit dem Kurator Dan Cameron und zwei sehr netten männlichen Künstlern im Orange County Museum. Schon der Titel der Show, um die es ging, war absurd: "The Avantgarde Collection". Und diese drei Männer redeten dann so vor sich hin, nach dem Motto, die Avantgarde ist tot, es ist alles gesagt in der Kunst. Und ich fragte: "Könnte 'Avantgarde sein' nicht bedeuten, eine Frau zu sein?" Da war Stille auf der Bühne. Bis das Publikum zu klatschen begann.

Und dann? Hat sich keiner der Diskussionsteilnehmer dazu geäußert?

Danach ging die Unterhaltung weiter als sei nichts passiert. Auch hinterher beim Dinner hat es niemand thematisiert. Man spürte bloß diese angespannte Stimmung.

Der Elefant im Raum... Kommt sowas häufiger vor?

Es gibt schon schräge Momente. Vor einigen Jahren stand ich auf dem Podium des Pasadena Museum of California Art, um über eine Ausstellung zu sprechen, die ich mit Steve Roden gemacht hatte. Die erste Frage aus dem Publikum war die, was ich für ein Kleid anhabe. Grundsätzlich habe ich häufig das Gefühl, mich als Frau für alles was ich künstlerisch mache, irgendwie erklären oder rechtfertigen zu müssen. Als müsste ich mir von irgendjemandem die Erlaubnis einholen, um tun zu dürfen, was ich tue ...

Ich habe in Vorbereitung auf unser Gespräch ein Buch der Kulturkritikerin und Buchkünstlerin Johanna Drucker aus dem Regal genommen, mit der Sie kürzlich auf einem Panel waren: In einem Kapitel mit dem Titel "Writing with Respect to Gender" betont Drucker, dass die Entscheidung, zu schreiben anstatt zu sprechen, einen Selbstbehauptungsinstinkt offenbart, da das Schreiben substanzieller, beständiger, kontrollierbarer und respektierter ist als das gesprochene Wort. Das lässt sich vielleicht auch auf die Malerei übertragen. Erscheint Ihnen das geschriebene Wort verlässlicher als die abstrakte Form? Hat das etwas mit Ihrer Entscheidung zu tun, mit Sprache zu arbeiten?

Wenn ich über das Zitat nachdenke, erinnert es mich zunächst an die gestischen Markierungen im Graffiti, an diesen Drang zu sagen: Ich war hier. Ich bin hier. Ihr könnt mich nicht ignorieren. Sobald das geschriebene Wort in einem Bild ist, kann man es auch nicht ignorieren. Wenn in meinen Bildern die Worte nicht wären, wären sie zu schön. Es ist die Sprache, die in ihnen Unbehagen und Spannung erzeugt. Sie stehen als Störfaktor im Raum, der sich nicht einfach abschreiben lässt. Andererseits können sie einen Einstiegspunkt bieten, in die abstrakteren Ideen.

Das Panel, in dem Sie mit Drucker waren, hatte Künstlerbücher zum Thema. Seit 2017 betreiben Sie und Ihr Partner, der Schauspieler Keanu Reeves, den Kleinverlag X Artists' Books. Warum Bücher?

Ich finde, dass nicht jede Ausstellung eine Ausstellung sein muss und manche Ideen besser in Buchform gebracht werden sollten. Bücher bieten Möglichkeiten, besonders auch für Künstlerinnen und Künstler, die noch nicht so etabliert sind. Natürlich ersetzen sie keine Ausstellungsprojekte, aber sie können ein Konzept sein, ein Keim im Sinne von Saatgut, das man in die Welt bringen kann, damit Größeres daraus entsteht. Das ist meine Motivation, mit Künstlerinnen und Künstlern an Büchern zu arbeiten. Ich möchte ihnen eine Plattform geben, einen Ausstellungsraum zwischen zwei Buchdeckeln. Wenn man keine Museumsshow hat, kann ein Buch zu einer führen. Ich kenne Beispiele. Es geht natürlich auch um das Buch als Objekt, aber oft ist es vor allem ein Anfang.

Wie gehen Sie mit dem ganzen Wirbel um, der von der LACMA-Gala 2019 ausging? Immerhin war das Ihr Arbeitsessen, zu dem Sie von Ihrem Partner begleitet wurden. Die Presse ging scheinbar vom Gegenteil aus...

Es gab eine Menge Kommentare zu meinen Haaren, nicht zu meiner Kunst. Als Künstlerin, berufstätige Frau und Feministin ist mir wichtig, wie weibliche Biografien erzählt werden. Der Wunsch, dich auszuradieren, ist sehr real. Besonders online. Womit ich vorher eher auf der akademischen Ebene gekämpft hatte, wurde plötzlich sehr viszeral und persönlich. Es ist anstrengend, eine weibliche, öffentliche Person zu sein, die sich nicht anpasst. Aber am Ende kommt wieder Antigone ins Spiel: "I was born to love not to hate."


Die Gruppenausstellung "The Youngest Day" bei Carlier Gebauer läuft vom 24. Juli bis 8. September. Neben Alexandra Grant sind folgende Künstlerinnen und Künstler dabei: Nancy Buchanan, Jedediah Caesar, Fiona Connor, Tacita Dean, Thomas Demand, Fred Eversley, Morgan Fisher, Aaron Fowler, Nikita Gale, Piero Golia, Mathew Hale, Margaret Honda, Luchita Hurtado, Joey Kötting, Sharon Lockhart, Nicole Miller, Eamon Ore-Giron, Laura Owens, Glen Rubsamen, Eddie Ruscha, Betye Saar, Asha Schechter, Rosha Yaghmai. Die Schau wurde von Mathew Hale kuratiert.