Es gibt bekanntlich die Redewendung bei digitalen Plattformen: Wenn das Produkt umsonst ist, dann bist du das Produkt. Das gilt für Facebook, WhatsApp, Instagram, TikTok, YouTube, Clubhouse und den Großteil aller sozialen Medien, aber auch für Handyspiele, Suchmaschinen, Ausbeutungsservices wie Gorillas und vielem mehr.
Ebenfalls gibt es den mittlerweile patinierten Aufsager: Daten sind das neue Öl. Mit Daten lässt sich Geld verdienen, Investoren geben jungen Start-ups dann Geld, wenn möglichst viele feingliedrige Daten von Usern generiert werden können und wenn auch die Oberflächen sich nicht allzu sehr zu unterscheiden scheinen, werden die Analysemöglichkeiten im Backend immer differenzierter, gerade im Bereich Gesichtserkennung, Spracherkennung und der Interpretation und Kontextualisierung dieser.
Auch in Bereichen, in denen es nicht so offensichtlich ist, lassen sich viele persönliche Schlüsse ziehen. Wenn jemand beispielsweise auf Spotify regelmäßig Yoga- oder Workout-Playlisten abspielt, dann lässt sich ziemlich sicher daraus schließen, dass diejenige Person reges Interesse an der physischen Selbstoptimierung hat. Das gleiche gilt für Playlisten mit konzentrationsfördernder Musik. Oder wer um 5 Uhr morgens noch "Die Drei ???" anmacht, dürfte durchaus Probleme mit dem Einschlafen haben. Auch solche Infos lassen sich wunderbar vermarkten.
Die Exxons und Shells heißen heute Facebook und Amazon
Schauen wir kurz auf Instagram. Hier wird geschätzt, dass jeden Tag 80 Millionen Fotos hochgeladen werden. Das wären pro Stunde über 3,3 Millionen Fotos. Die kann niemand auf der Welt selbst mit Titan-Daumen in Echtzeit scrollen. Aber Gesichtserkennungen können die Fotos einordnen und archivieren und wer auch noch fleißig taggt, gibt zudem preis, wer, wie lange und wo genau in dem Moment mit dabei war. Wenn wir alle sozusagen die Ölquellen der digitalen Gegenwart sind, dann machen wir es den Exxons und Shells, die heute aber Facebook und Amazon heißen, ziemlich einfach. Nach Öl muss ja erst gesucht und gebuddelt werden. Eine Bohrinsel kostet sogar richtig viel Geld.
Wir legen unsere wertvollsten Informationen dagegen gratis vor die Haustür. Das wird dann als Empowerment verkauft, aber wie eingangs gesagt, wir verschenken uns jeden Tag freiwillig. Das hat natürlich Implikationen auf das Ich, auf die Definition von Mensch, Subjekt und Person. Wer oder besser: Was bin ich? – um Robert Lembkes TV-Show mal zu zitieren.
Heute geht es nämlich nicht mehr nur um Produktivität und Effizienz, wie man das im Marx'schen Sinne einzuordnen pflegte. Datenproduzent:innen produzieren passiv Tonnen an Informationen. Welcher Content wird geliked? Welche Story bis zum Ende geguckt? Welcher Typ Frau oder Mann, muskulös oder drahtig, kriegt die meiste Spielzeit? Entsprechend werden die personalisierten Streams bestückt.
Die Gemengelage mit Kunst betrachten
Die Autoren Shumon Basar, Douglas Coupland und der Kurator Hans Ulrich Obrist veröffentlichten 2015 das Buch "The Age of Earthquakes: A Guide to the Extreme Present". Nun ist die Fortsetzung zu dem Band erschienen mit dem Titel "The Extreme Self: Age of You". Der Name sagt, worum es geht. Analog ergänzt wird die Publikation durch Ausstellungen im Museum of Contemporary Art Toronto (September 2019 - Januar 2020) und derzeit im Jameel Arts Center in Dubai (bis 14. August). In 13 Kapiteln werden zentrale Fragen diskutiert. Unter anderem die Themen Gesichter und Ruhm, Individualität, digitale Leere und Einsamkeit, neue Definitionen der Massen, Mikrofaschismus, Post-Arbeit, das Ende der Demokratie und vieles mehr.
Es ist zudem ein zeitgenössischer Querschnitt mit über 70 künstlerischen Positionen, die sich auf der ganzen Welt zu dieser Gemengelage äußern. Anne Imhof, Fatima Al Qadiri, Miranda July, Jarvis Cocker und Sin Wai Kin – nur um einige zu nennen – sind hier sowohl im Buch wie auch in der Ausstellung vertreten.
Die Kunstwelt ist mehr als NFTs und Beuys
Es geht den Machern von "The Extreme Self: Age of You" um eine Menge: Wohin steuert die Welt, auch in Zeiten einer sich vermeintlich in Auflösung befindlichen Pandemie? Ganz zu Beginn wird völlig zu Recht postuliert: "The 20th century was about what belongs to who. The 21st century is about who belongs to what." Für Menschen, die nicht versuchen, im tagesaktuellen Kunstdiskurs zu schwimmen, ist diese Graphic Novel aber auch eine Konsolidierung eines existierenden kritischen Common Sense in der internationalen Kunstwelt und ein Signal, dass es in der Kunst eben nicht nur um hochgejazzte NFT-Auktionen, Beuys-Geburtstage, Tourismus, Öffnung-oder-Nichtöffnung geht.
Gerade der visuelle, pastiche-ige Ansatz lässt Raum für Assoziationen und sorgt für einen Plural an Touchpoints. Anders als bei einem theoretischen Sammelband mit dichten Texten interagieren Leserinnen und Leser mit den einzelnen Seiten und lassen Assoziationen zu, die manchmal cringy sind, nicht immer euphorisierend, oft gar dystopisch frustrierend. Aber so ist es eben IRL. Das Buch lädt zur Selbstreflexion ein, hinterfragt unsere Routinen, gibt der Kunstwelt im Allgemeinen eine starke Stimme und beweist, dass vor dem Wandel immer zuerst fundierte Kritik und die richtigen Fragen stehen müssen.