Veronika Dräxler, Sie beschäftigen sich künstlerisch mit Themen wie Marken, Kapitalismus, Werteffizienz oder Aneignung. Wie reiht sich Ihre aktuelle Ausstellung "Beuys, Rückruf: Dringend!" in diesen Zusammenhang ein? Die Mittel, derer Sie sich bedienen, sind unüblich …
Räumlich beginnt die Ausstellung mit den Flicken der BVG. Noch bevor man den Galerieraum betritt. Die Arbeit trägt den Titel "Wounds of Berlin" und war der Grund, warum ich überhaupt mit der Galerie zusammengekommen bin. Nachdem ich ihr meinen Katalog habe zukommen lassen, waren die auf der Suche nach einer passenden Künstlerin, die einen Dialog mit Beuys führt zu seinem 100. Geburtstag. Und in dieses Spektrum habe ich wohl bestens gepasst.
Sie hatten vorher noch keinen Bezug zu Beuys?
"Wounds of Berlin" war für mich bereits die erste Arbeit, die im Dialog mit Beuys stand, ohne dass ich dazu beauftragt worden wäre. Der Impuls kam für mich 2016, als ich in Medellín, Kolumbien, zum ersten Mal die Arbeit "Zeig mir deine Wunde" von Beuys gesehen habe. Mein gesamtes Umfeld in Kolumbien, meine Freunde und Bekannten, haben einen schamanischen Touch. Damals hat sich damit für mich ein erster Kreis geschlossen, autobiografisch. Zwar kannte ich Beuys schon vorher durch Ausstellungen in der Pinakothek der Moderne oder aus Karlsruhe, aber ich habe seine Arbeiten nicht so gefühlt. Dann war das halt ein Filzanzug oder eine Badewanne oder sonst was. Vorher hatte ich keine richtige Verbindung zu seinem Werk, keinen Zugang.
Es klingt, als wäre Beuys für Sie ein Branding ohne Inhalt gewesen.
Womit ich mich üblicherweise ja gerne beschäftige: Marken, Werbung und Strukturen. Zu dem Zeitpunkt hat mich interessiert, warum das BVG-Muster "Urban Jungle" so einen Hype erfährt, im gesamten Merchandise verarbeitet war, quasi Kultstatus hatte. Da kam beides zusammen. Weil ich mich zur gleichen Zeit mit Kadir Attias Werk auseinandersetzte, habe ich damals Wunden in diesen BVG-Flicken gesehen, symbolisch im Kontext des einst geteilten Deutschlands. Überklebte Wunden, die nicht wirklich verheilen können, aber mit Make-up kaschiert werden.
Und damit war der Grundstein für die Ausstellung gelegt.
Die eigentlich zum Geburtstag von Beuys eröffnen sollte. Wegen der wechselhaften Situation ist das Opening um zwei Wochen verschoben worden.
Was Ihnen wiederum die Möglichkeit gab, den Geburtstag mit dem Jubilar höchstpersönlich zu feiern: Sie haben am 12. Mai Kontakt zu Beuys aufgenommen. In Ausstellungstexten liest man häufiger, dass Künstlerinnen und Künstler "in den Dialog treten" mit etwas oder jemandem. Selten nahm das jemand so wörtlich. Wie ging dieser Jenseitskontakt vonstatten?
Mir war früh klar, dass ich mich dem Thema "Medium" annehme, weil ich als Medienkünstlerin tätig bin – obschon dieser Begriff üblicherweise anders konnotiert ist. In den letzten Jahren stand das Schamanische bei Joseph Beuys im Vordergrund. Dem wollte ich mich ebenso annähern und dann ging es schnell um das Unsichtbare. Deshalb wollte ich zum 100. Geburtstag ein Medium befragen. Aufgrund von Corona ging das aber nicht ohne Weiteres. Da ich das Medium nicht persönlich treffen konnte, habe ich also per Zoom eine Séance gehalten.
Sprich: Ein Medium vor das Medium geschaltet.
Eine coronakonforme Séance, es war sehr 2021.
Und wie war die Begegnung mit dem spirituellen Medium?
Vor der Begegnung hatte ich richtige Paranoia. Ursprünglich bin ich sehr christlich erzogen worden. "Harry Potter" schauen oder "Bibi Blocksberg" hören? No chance, das hat’s in meiner Kindheit nicht gegeben. Im Vorfeld habe ich also ein Buch über Telepathie und Schutzzauber gelesen. Man muss ja für alle Fälle vorbereitet sein! (lacht) Vor der Séance habe ich geduscht und kurz vorher noch einen Bannkreis um mich herum gezeichnet – für den Fall, dass sie ein "Black Medium" ist. Das ganze Programm also!
Im Bannkreis am Macbook sitzend – ein tolles Bild. Haben sich die Bedenken bewahrheitet?
Keinesfalls, meine Bedenken waren unnötig. Mein Medium Ingrid Müller-Farny war sehr sanft und sinnlich. Ich würde sie als "White Medium" beschreiben. Wir hatten ausgemacht, dass ich ihr nicht sage, mit wem ich Kontakt aufnehmen möchte. Sie wusste nur: Es handelt sich um einen Mann.
Wie verflechten sich Ihre persönlichen Bezüge mit dem anonym gebliebenen Beuys aus der Séance?
Nachdem ich das Gespräch mit dem Medium transkribiert hatte, glich ich es mit meinen Archivunterlagen ab. Dabei stieß ich auf dieses besondere Bild, das mir ein befreundeter Fotograf, Thomas Degen, vor vier Jahren schenkte. Beuys ist darauf zu sehen mit ausgebreiteten Armen, weit geöffnet, wie zur Umarmung.
Und das Zitat stammt aus der Séance?
Ganz genau! Darin sagte das Medium: "Ich habe ein Bild. Wie, wie Rio. Du sollst nach Rio gehen, zu dem Jesus. Das war sein Sehnsuchtsort. Da sollst du hingehen. Oder ein Bild nehmen oder dich mit der Energie beschäftigen. Er lacht. Er fühlt sich wie der Jesus in Rio. Wie diese Statue. Mit den ausgebreiteten Armen."
Eine Punktladung zwischen Ihrer christlichen Kindheit und der Beuys-Fotografie.
Eine Punktlandung jagte die nächste. Das Medium leitete ab, dass ich unter Nackenklagen leide. Ein gebeugter Gang staucht den Magen, wo das menschliche Kraftzentrum liegen soll. Sie empfahl mir, Citrin auf den Bauch zu legen, um die Schmerzen zu lindern. Umgangssprachlich wird Citrin auch "Kojotenstein" genannt.
Ein Bezug zur Beuys-Aktion "I like America and America likes Me"!
Verrückt, oder? Im nächsten Schritt, aber auch unabhängig von der Séance ließ ich den Schauspieler Laurean Wagner Joseph Beuys verkörpern. Der nahm sich der Rolle an. Auf diesem Wege wollte ich mit Beuys nochmals vis-a-vis "in den Dialog treten". Auch dabei ergaben sich Überschneidungen, sowohl biografische als auch aus dem Gespräch mit dem Medium. All diese Dopplungen habe ich versucht, als wiederkehrende Strukturen in die Räume zu übersetzen.
Die Ausstellung ist aufgebaut wie eine Wohnung, das "Wohnzimmer" mutet an wie ein Kurort. Was ist der Hintergrund für diese Entscheidung?
Das rührt daher, dass ich circa zwei Monate vor der Ausstellung die Möglichkeit bekam, ein Studio in Frohnau zu beziehen. Frohnau war früher eine Außenstelle der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik und ein Luftkuratorium. Direkt hinter dem heutigen Künstlerhof ist zudem der Mauerweg, eine Narbe aus den Zeiten der deutschen Teilung. Viele der naturbelassenen Objekte, die in die Ausstellung einflossen, habe ich auf meinen Spaziergängen in der letzten, intensiven Vorbereitungsphase vor der Eröffnung dort gesammelt. Der Ausstellungsort ist in meinem Narrativ bewohnt von einer Frau, die ein psychisches Trauma erlebt hat, aber es vermag, sich selbst davon zu heilen. Davon handelt die Performance in der Ausstellung: "Medea".
Ein Gegenentwurf zu Beuys Wannenarbeit "Iason"?
Nicht direkt ein Gegenentwurf, aber sie steht in direktem Bezug dazu. Die Performance fand am Tag vor der Eröffnung statt, die Zinnbadewanne fand ich im Keller meiner Großeltern. Durch die Videodokumentation sollten die Objekte in der Ausstellung belebt werden.
Wie schätzen Sie selbst das Verhältnis zu Beuys ein? Im Rahmen der Arbeit an der Ausstellung, seine Bedeutung für die Gegenwart im Allgemeinen?
Vom Urteil des Mediums ausgehend bin ich ja direkte Erbin von Beuys (lacht). Ich hatte ganz stark den Eindruck, dass sie davon ausgeht, dass es sich bei dem Jenseitskontakt um meinen Vater handelt. Diese halb zufällige, halb provozierte Verwechslung lasse ich aber gerne so stehen. Gerade in der Kunst suchen sich viele Vorbilder, einen "geistigen Vater", einen spiritus rector. Letztlich war es das, was mir ursprünglich den Zugang zu Beuys ermöglicht hat – meine eigene Herkunft, die sich zur Hälfte aus deutschen, zur Hälfte aus ecuadorianischen Wurzeln speist. Einerseits habe ich versucht, einzelne Aspekte, einzelne Themen aus Beuys Oeuvre für die Gegenwart zu aktualisieren. Andererseits war mir wichtig, aufzuzeigen, dass ich ihn als Person nur fragmentiert darstellen kann und nicht ganzheitlich. Wie sollte ich das auch können, ohne ihn je gekannt zu haben, ohne je Zeitzeugin gewesen zu sein? Es ist der Versuch, einen Weg zu finden, sich mit historischen Ereignissen und Personen auseinanderzusetzen, ohne dafür je den Anspruch an Vollständigkeit zu erheben. Aus der Geschichte können wir nur lernen, wenn wir sie nicht als "die" Geschichte begreifen.
Was steht im Vordergrund: Kollektive oder individuelle Wunden?
Kollektive.
Definitiv?
Die aber beim Individuum stattfinden, während sie in ihrer Ähnlichkeit räsonieren im Kollektiv. Als Gesellschaft verarbeiten wir verwandte Traumata. Die Wunden, die wir heute versuchen aufzuarbeiten, sind unweit entfernt von den Wunden, die die Gesellschaft zu Beuys' Zeiten versuchte zu heilen.
Womit wir wohl bei der häufigsten Diskussion gelangen, die im Kontext von Beuys geführt wird: seiner Nähe zum Völkischen.
Ja klar. Das Vokabular, das er bediente, die Wahl der Materialien, die Idee des Bodens ... All das weist eine starke Verwandtschaft zur Anthroposophie auf. Ebenso wie das Schamanische sind das riskante Themen, gerade weil sie von den Nationalsozialisten derart angeeignet wurden. Allein die Idee der Heilung provoziert das Bild von Ganzheitlichkeit, das einen absolutistischen Anspruch erhebt.
Hat die deutsche Seite Ihres Stammbaumes diese Vergangenheit aufgearbeitet? Oder blieb sie eine klaffende Wunde?
Darüber wurde nie gesprochen. Obschon es meiner Familie gut ging, war da immer ein Mangelgedanke, dieses krasse Sparen. Vom Mund absparen. Eine gewisse, eigenartige Reizbarkeit bei Themen. Wut hat eine sehr große Rolle gespielt in meiner Familie. Meine Großmutter ist im letzten Jahr verstorben, mein Großvater einige Zeit davor. Seitdem treten immer neue Fragmente zutage: Feldbriefe, alte Fotografien, Frontberichte und Erzählungen von einzelnen Familienmitgliedern.
Worin sich wiederum eine Parallele in Beuys' Werk abbildet. Auch er hat seine Biografie – teils faktisch, teils fiktiv – in seine künstlerischen Arbeiten einfließen lassen. All diese Aspekte wurden jedoch hundertfach wiedergekaut. Insbesondere in diesem Beuys-Jubiläumsjahr stellte sich auch die Aprilausgabe des Monopol-Magazins die Frage: "Ist er unser Erlöser oder nur ein falscher Prophet?" Für mich stellt sich die Frage: Ist es nicht langsam genug Beuys gewesen?
Offensichtlich ja nicht! Die Ausstellungen werden nicht recherchiert und umgesetzt, um die Programmpläne der Museen und Ausstellungshäuser zu füllen. Augenscheinlich gibt es weiterhin einen Bedarf, sich damit auseinanderzusetzen. Und für mich persönlich bestand der Antrieb darin, meine Historie zu rekonstruieren. Gerade haben wir über das Völkische und den deutschen Teil meiner Familiengeschichte gesprochen, aber es gibt auch die ecuadorianische Seite. Dabei rückte vor allem das Schamanische bei Beuys für mich in den Vordergrund. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis in Kolumbien war es selbstverständlich, bei Unwohlsein auch einen Schamanen aufzusuchen, nicht nur einen Arzt. Dieser persönliche Bezug hat das Thema zunehmend für mich geöffnet. In der Vergangenheit habe ich in anderen Ausstellungskontexten auch Kakaozeremonien angeboten. So bin ich graduell immer weiter in die schamanischen Topoi gerückt und die Anfrage der Galerie hat damit einen abschließenden Höhepunkt erreicht. Oder einen vorläufigen, wer weiß das schon.
Die Rolle wurde Ihnen also zugeschrieben? Von außen?
Das sowieso, bereits vor der Arbeit an der Ausstellung! Auch wenn die indigenen Wurzeln meines Familienstammbaums sehr überschaubar sind, findet diese Zuschreibung immer statt, sobald das Gespräch darum zirkuliert. "Bist du Indianer?" oder Spitznamen wie "Pocahontas" darf ich mir anhören – ganz abgesehen davon, wie problematisch diese Assoziationen sind. Deshalb habe ich begonnen, damit zu spielen, mir diese Zuschreibungen anzueignen. Projektion und Rückprojektion.
Eine interessante Analogie zum gesellschaftlichen modus operandi. Beuys hat sich die Rolle des Schamanen angeeignet, während sie auf Sie projiziert wird. So wie viele gesellschaftliche Erwartungen auf Frauen projiziert werden...
Allein wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich zu exotisieren ... Diese Zuschreibung habe ich wiederholt erfahren, bis es strukturell wurde. Wenn ich irgendwo ein wiederkehrendes Muster sehe, dann benutze ich das einfach. Welche Muster decken sich mit dem, was Beuys bearbeitet hat? Wo komme ich da weiter? Was sind Traumata heute? Wie können wir uns entweder selbst heilen oder sie offenlegen? Vorhanden sind sie ja. Und was ist überhaupt das Unsichtbare? Mir ging es darum, mich damit auseinanderzusetzen, was in unserer heutigen Gesellschaft unbewusst stattfindet. Welche Machtstrukturen unsichtbar sind. Mich hat selbst gewundert, dass die Ausstellung am Ende gar nicht so digital wurde, eigentlich fast gar keine digitalen Medien bediente.
Hat sich Ihr Medienbegriff durch die Arbeit an der Ausstellung verändert?
Abseits aller Medientheorien, abseits von jedem McLuhan oder wem auch immer, hat es die Definition von Laurean in der Rolle von Joseph Beuys für mich am besten auf den Punkt gebracht: "Ein Medium ist Wandler von dem, was im Fluss ist." Ob elektronische Reize fließen, Informationen ins Bild oder Recherche, die man in eine Ausstellung fließen lässt. Das hat für mich alles abgebildet.