Frau Andreae, vor genau 20 Jahren hat sich SPD-Politiker Klaus Wowereit mit den Worten "... und das ist auch gut so" öffentlich geoutet. 2021 taucht das Zitat im Kontext einer Ausstellung in Bonn auf, die sich mit ostdeutscher Kunst befasst. Warum ist das denn gut so, Frau Andreae?
Ich würde zunächst einmal die Schönheit des Zitats hervorheben. Einen Satz mit "... und das ist auch gut so" zu beenden, hat eine wahnsinnige Kraft. Du schließt deine Aussage mit einem ganz klaren Statement ab. Es braucht danach keine weitere Erörterung. Im Fall von Wowereit bezieht sich das Zitat auf seine Homosexualität, im Fall der Ausstellung geht es um die Frage, warum man Ostkunst überhaupt hervorheben muss.
Muss man das?
Es sollte ganz klar sein, dass auch Künstler gezeigt werden, die eben nicht aus dem üblichen Repertoire einer "westdeutschen" Galerie stammen. Insofern ist der Titel auch als kleine Provokation zu verstehen.
Die Galerie Judith Andreae hatte zuvor überwiegend westdeutsche Künstlerinnen und Künstler im Portfolio. Ist die Idee zur Ausstellung aus einer selbstkritischen Beobachtung heraus entstanden?
Das Projekt ist als Langzeitstudie zu betrachten. Ich habe in den vergangenen Jahren in Berlin gelebt und gleichzeitig das Treiben der Galerie in Bonn verfolgt. Dabei sind mir Differenzen aufgefallen. Die Künstler, die wir in Bonn gezeigt haben, hatten meistens an westdeutschen Kunsthochschulen studiert und brachten bereits ein gewisses Standing mit.
Ein Standing, das man hingegen im Osten so nicht erwarten würde?
In Berlin, Leipzig und Dresden gibt es zu mindestens eine vornehme Zurückhaltung der Hochschulabsolventen.
Wie äußert sich diese?
Im Selbstbewusstsein. Es gibt eine kleinere Erwartungshaltung. Man will erst mal auf eigenen Beinen stehen und aus eigener Initiative heraus Projekte umsetzen. Ich hatte das Gefühl, diesen Projekten eine Plattform geben zu wollen.
Die Künstlerin Tiziana Jill Beck spricht im Videointerview der Galerie von einer "ostdeutschen Bescheidenheit". Das heißt wohl, sich mit weniger zufrieden zu geben, wenn man im Osten sozialisiert wurde.
Ja, auch mir ist aufgefallen, dass es da eine vornehme Zurückhaltung der Ost-Absolventen gibt, die aus qualitativer Sicht aber unbegründet ist.
Die Ausstellung zeigt sechs verschiedene Ost-Positionen, die sich visuell wohl nicht stärker voneinander unterscheiden könnten: Von der endlosen Filzstift-Zeichnung über Acne-Handtaschen, die in einer skulpturalen Grafik auftauchen, bis hin zum hyperrealistisch gemalten Frauen-Rücken im Badeanzug. Wie recherchiert man das?
Instagram war sicher ein wichtiger Pool für die Recherche. Ich habe gemerkt, wie sich dort ein gewisses Netzwerk der ostdeutschen Kunststudierenden auftut. Zusätzlich habe ich die Abschlussausstellungen der Rundgänge angeschaut und bin mit Kuratoren und Kuratorinnen in Kontakt getreten. Ich wollte ein Bild davon bekommen, ob es nur mein Hirngespinst ist, dass Künstlerinnen und Künstler aus dem Osten unterrepräsentiert sind, oder ob da wirklich etwas dran ist.
Was versteht die Ausstellung denn überhaupt unter dem Begriff "ostdeutsch"?
Ostdeutsche Kunst meint im Kontext der Ausstellung nicht die Biografie, sondern den Ort, an dem das Studium absolviert wurde. Denn: An einigen ostdeutschen Schulen sehe ich andere Ausbildungsschwerpunkte und Ansätze als im Westen. Das fängt damit an, dass viele Schulen im Osten das Studium Generale anbieten, sodass Studierende erstmal in diverse Bereiche reinschauen können. Auch viele der gezeigten Künstlerinnen und Künstler in unserer Ausstellung haben ursprünglich an einem anderen Punkt angefangen als sie sich heute befinden. Durch das allgemeine Studium wurden sie zu ihrer Kunst regelrecht hingeführt. Victoria Pidust hat zum Beispiel mit der Malerei begonnen und arbeitet jetzt an der Schnittstelle von Fotografie und digitaler Collage, Lisa Pahlke hat eigentlich Bildhauerei studiert und ist am Ende bei der Zeichnung gelandet. Das ist eine gewisse Freiheit, die den Künstlern da eingeräumt wird, mit einem ganz starken Fokus auf die Technik. Es geht darum, jede Technik ein Mal durchzuexerzieren, bis man sagt "das ist meins, und da bin ich gut drin."
Technik? Das ist es also, was ostdeutsche Kunsthochschulen anders machen als Westdeutsche hinsichtlich der Ausbildungsschwerpunkte?
Technik spielt natürlich überall eine übergeordnete Rolle. Nehmen wir aber zum Beispiel die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Die Hochschule hat einen technischen Schwerpunkt, den du in den Arbeiten wiedererkennst. Es ist eine gewisse Aura, die sie umgibt, die anders ist als die der Künstler, die auch wir bisher ausgestellt haben.
Warum ist der Osten in der Kunstwelt bis zu Ihrer Ausstellung fast unsichtbar gewesen?
Ich sehe, dass viele Ausstellungsmacher auf dem Ost-Auge blind sind. Ich glaube, dementsprechend haben es sich viele Kuratorinnen und Kuratoren einfach gemacht à la "Wir haben unseren Pool an Künstlern, warum sollten wir uns etwas ganz anderes dazu holen, etwas, was möglicherweise kein so gutes Image hat?" Darum greift man lieber auf die altbewährten Schulen zu. Im Osten vor Ort zu sein, war für mich hingegen das Aha-Erlebnis. Zu sehen, dass es da total relevante Positionen gibt, die im gesamtdeutschen Kontext auf jeden Fall berücksichtigt werden müssen oder bisher noch nicht berücksichtigt wurden.
Werden Absolventinnen und Absolventen ostdeutscher Schulen generell weniger ausgestellt?
Ich glaube schon, dass man es sich oft leicht macht. Man nimmt ein paar Künstler aus dem Osten mit dazu, denkt aber, dass man das Thema dann mit den Absolventen aus Leipzig abgehakt hat. Aber auch auf Seite der ostdeutschen Künstler gibt es Faktoren, die bremsen. Man bleibt eben gern unter sich. Ich beobachte schon, dass zwar viele Leute von ostdeutschen Kunsthochschulen im Anschluss an die Ausbildung nach Berlin gehen - aber dort angekommen ist die Grenze dann meist auch schon erreicht.
Mangelt es für die Absolventinnen und Absolventen der ostdeutschen Hochschulen zusätzlich auch an prominenten Ausstellungsmöglichkeiten im Osten?
Nein. Natürlich gibt es tolle Häuser und Sammlungen im Osten. Aber der Osten ist anders aufgestellt. Es fehlt, abgesehen von Berlin, dieser große repräsentative Charme. Hinzu kommt aus der Sicht mancher Ost-Künstler der unberechenbare, kapitalistische Westen, der einen plattrollt. Warum das noch immer so ist? Das ist eine Fragestellung, die man ganz offen formulieren kann, weil es offensichtlich ist, dass es nach wie vor starke Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Dabei ist es egal, ob es um Kunst oder gesellschaftspolitische Themen gibt. Irgendwo existiert da noch immer eine Trennlinie.
Diese Trennlinie entsteht vielleicht auch dadurch, dass Ostdeutsche weniger Chancen auf Stipendien haben. Zu mindestens sagt das die Künstlerin Lisa Pahlke in Ihrem Video-Interview.
Das ist natürlich eine persönliche Einschätzung von Lisa Pahlke gewesen. Grundsätzlich hat jeder, der sich auf ein Stipendium bewirbt, dieselben Chancen. Aber auch hier kann es sein, dass das Unwissen mancher Auswahl-Jurys über Professoren, Studiengänge und Studierende aus dem Osten dazu führt, dass sie lieber auf etwas Altbewährtes zurückgreifen.
Wie ist das bisherige Feedback zur Ausstellung? Ist das Interesse für Kunst aus dem Osten überhaupt da?
In der Ausstellung entspricht keine Position dem, was wir bisher hatten. Ost-Kunst ist eben mehr als die Neue Leipziger Schule und Neo Rauch. Er ist diverser als das. Das kam bei den Besuchern supergut an. Dabei ging es explizit nicht darum, dass man als Westdeutscher einen Mythos ausschlachtet. Vielmehr habe ich eine Neugierde bei den Leuten wahrgenommen, die sich die Ausstellung angesehen haben. Ich wurde oft erstaunt gefragt, wie es denn sein kann, dass die Kunst aus dem Osten bislang tatsächlich so unterrepräsentiert war.
Wie muss die Kunstwelt künftig ihren Blick auf "den Osten" ändern?
Ich glaube, man kann sich nicht immer nur darauf ausruhen zu sagen, dass die Qualität im Vordergrund steht. Natürlich sollte das so sein, aber man muss sich auch überlegen, wie man den eigenen Blick, die eigene Sehgewohnheit schärfen kann. Wir kommen an dieser Stelle nicht darum herum, vielleicht sogar über eine Quote nachzudenken.
Was ist Ihre persönliche Lehre aus der Ausstellung für das künftige Treiben der Galerie?
Man sollte sich mehr Zeit für das Scouten nehmen. Ich habe oft das Gefühl, dass die Zeit bei Galerien mit weniger Personal fehlt, um sich die Dinge tatsächlich vor Ort anzuschauen. Natürlich habe auch ich präferierte Kunst-Genres, aber genau deswegen sollte man sich aus seiner Komfortzone wagen und schauen, wie und woran Künstler gerade arbeiten - auch im Osten.