Londoner Kunstszene

Die Zeichen stehen auf Sinnlichkeit

Die britische Kulturszene erwacht nach dem Corona-Lockdown wieder zum Leben, und überall spürt man die Lust auf physische Begegnung mit Kunst. Ein Rundgang zu den Londoner Highlights

Das erste, was man in der Goodman Galerie tun möchte, ist die Haarskulpturen von Kapwani Kiwanga anzufassen. Die langen, blonden Fasern der Sisal-Agave glänzen im Licht der Neonstrahler weich, wie ein einladendes Nest. In Wahrheit sind sie strohig, robust und widerspenstig, selbst wenn man daran zieht. Die Fasern stammen aus Tansania, als Fabrikationsmaterial für Seile, Teppiche und andere Textilprodukte spielten sie in der Wirtschaftsgeschichte des Landes eine wichtige Rolle. Kiwanga verarbeitete die Fasern mal konzeptueller, streng gekämmt und aufgereiht, und mal surrealer, als täuschend flauschig, vaginale Hohlskulptur. Weder die Lichtreflektion, die Täuschungskraft des Materials, noch andere Wesensmerkmale wären in einem Online-Viewing-Room transportiert worden. Die Sinnlichkeit der Kunsterfahrung scheint in diesen Tagen in London an vielen Orten bewusst in den Mittelpunkt zu rücken.

Währenddessen öffnen auch die Pubs und Restaurants wieder, sogar in den Innenräumen. Die Straßen sind voll, am Museumseingang, im Taxi und am Kaffeestand wird der mutig einreisende Tourist angestrahlt, als wäre er ein alter Schulfreund, den man endlich wieder trifft.


Auf dem Weg in die Serpentine Gallery begegnet man hungrigen Eichhörnchen. Britische Gerüchte lassen gerne verlauten, dass die Eichhörnchen in New York viel aggressiver seien. Im Hyde Park sind sie freundlich, darauf sind die Briten extra stolz. Neben der Retrospektive des britisch-ghanaischen Fotografens James Barnor zählt die Einzelausstellung von Jennifer Packer in den Serpentine-Hallen zu den Highlights in der Stadt. Ihre Arbeiten aus den letzten zehn Jahren zeigen dunkelhäutige Männer, alltägliche Wohnungsansichten und Stillleben aus Blumen. Eine Mischung aus niederländischer Vanitas des 16. Jahrhunderts, aus Peter Doigs schimmernden Farblandschaften und einer lockeren, gestischen Porträtmalerei, die die Darstellungsmodi von schwarzer Haut in der Kunstgeschichte befragt.

Im Großen Saal führt das Leuchten der nass fließenden Farbe über die Treppe hinunter aufs Sofa, über den schlafenden Mann, seine trainierte Wade hin zum aufgestellten Bügeleisen. Packers Malerei ist eine bewusst emotionale, die die Sinne auf verschiedene Weisen anspricht. Über den leicht bekleideten Körper verteilt, feuert Packer eine breite Variation an Malstilen, Maserungen und Gesten ab, die auf jedem Zentimeter von neuem von ihrer malerischen Souveränität überzeugen.


Als direkte Fortsetzung bietet sich Lynette Yiadom-Boakyes Retrospektive in der Tate Britain an. Ganz anders sind ihre Gemälde: deckend, licht- und farbreduziert, gezeichnet durch einen bauschigen Farbauftrag. An einigen Stellen zieht die Materie wie ein Himmel auf und lässt gröbere Gesten ihren Raum. Im Dunkeln blitzen kleine weiße Lichter auf, mal als Tennissocke, als Augapfel, Unterhose oder Zahnreihe. Yiadom-Boakyes Portraits von jungen Cliquen und Einzelgängern finden in der Tiefe der Dunkelheit eine melancholische Anmut. Nach Packer und Yiadom-Boakyes fragt man sich, was Künstlerinnen und Künstler so lange an der weißen Haut zu schaffen hatten, entpuppt sie sich doch als hemmend für malerische Lösungen. Auch abseits von politischen Fragen hätten mehr dunkelhäutige Figuren der ästhetischen, formalen Entwicklung mehr qualitative Möglichkeiten geschenkt. Die weiße Vormacht war gleichzeitig auch ein Verpassen an malerischen Chancen.

Beim Hinausgehen kann man in der ständigen Sammlung die Gemälde von Jadé Fadojutimi und Rose Wylie entdecken – die junge, Abstrakte und die ältere, Wilde. Beide zählen zu Englands Vorzeigekünstlerinnen, vereint durch die "Vogue" und die Tate Britain. Auch in diesen Tagen bestätigt sich in London mal wieder, was seit vielen Jahren klar ist: wer als dunkelhäutiger Künstler oder Künstlerin in Europa Karriere machen will, weiß, dass die Chancen hier am besten stehen. In Punkto Diversität, Gleichstellung und Sichtbarkeit ist London anderen Kunststätten wie Paris oder Berlin institutionell und auf dem Kunstmarkt weit voraus.

Auf den ersten Blick ein aktueller Gegensatz: Die britische Kultur als omnipräsenter Kult, als konservatives Identifikationswerkzeug und als Brexit-gelabeltes Konservierungsmittel. Gleichzeitig ein Ort, an dem kulturelle Vielfalt im Kunstsystem nicht nur fortschrittlich gedacht, sondern auch umgesetzt wird. Das kann man den Briten trotz EU-Ausstieg nicht absprechen. Oder steckt dahinter doch eine Art von Symbiose an nationalem Festhalten und bereits gelebter Öffnung?

Eine Anti-Bewegung zur illustrativen Street Art

Wer von Lynette Yiadom-Boakyes eine Arbeit erwerben will, findet sie im untergeschossigen Sales Room der neuen Saatchi Yates Galerie in der Cork Street. In deren musealen Ausstellungsräumen im Erdgeschoss präsentiert das junge Galeristenpaar Allez la France, eine Gruppenausstellung von französischen, noch gänzlich unbekannten Malern. Hams Klemens, Kevin Pinsembert, Mathieu Julien und Jin Angdoo sind frühere Graffitisprayer und Autodidakten. Sie brachten sich ihr Können auf der Straße bei, illegal, und bildeten eine Anti-Bewegung zur illustrativen Street Art.

Die vier fanden eigene Wege in die abstraktere, unsaubere und gestischere Malerei. Saatchi Yates ermutigte sie ganz direkt ihre Wandbilder auf großformatige Leinwände zu übertragen und dabei ihre rauen Gesten und Formen von Draußen nicht zu verlieren.  


Eleganter Vandalismus liegt auch in der Gagosian-Galerie in der Luft. Die Londonerin Rachel Whiteread installierte hier zwei zerfallene Hütten, die sie komplett weiß übermalte. Die Dramaturgie der Formsprache spricht auf diese Weise umso stärker. Darunter scheint sich Wellblech, Holzlatten, Äste und Baumstämme zu verbergen. Das Einstürzende und das Zerschlagene dienen als bildhauerische Formgestaltung für eine fast grafische Zeichnung im Raum. Am Eingang stehen Sicherheitsmänner im Anzug, die aus einem "Terminator"-Film stammen könnten und überaus höflich sind.


Genau gegenüber, bei Almine Rech, sieht man Helden der Popkultur. Die figürliche Malerei von Sam McKinniss wirkt aus der Nähe leicht schief und naiv. Countrystars wie Lyle Lovett, Sängerinnen wie Shania Twain mit einem Pferd oder Mariah Caries Weihnachtsalbum von 1994 sind darunter. Der Kitsch wird durch die unperfekte Malerei gebrochen, die schönen Gesichter entpuppen sich aus der Nähe als unheimliche Fratzen.


In der Lévy Gorvy Galerie fragte der Mitarbeiter am Schreibtisch die Besucherinnen, wie sie die Blumengemälde von Francesco Clemente finden. Direkte Ansprachen sind selten, aber hier angenehm. Mit seinen eigenen Gedanken hält er sich ebenfalls nicht zurück, "Winter Flowers III" sei seine liebste Arbeit – laut ihm wie ein Ultraschallbild der anderen. "Winter Flowers IV" zeige hingegen die lockerste Handarbeit auf.


Danach empfiehlt er Besuche bei der Konkurrenz, wie Frank Bowling bei Hauser & Wirth. Auch das ist selten. Der Konkurrenzkampf im Londoner Galerienviertel Mayfair scheint enorm. Darüber gesprochen wird nicht viel, doch man merkt die vordergründig versteinerte, dahinter alarmierte Stimmung, sobald der Name eines Kollegen fällt.

Die Gemälde von Frank Bowling stammen aus 50 Jahren Schaffensgeschichte. Bowling wuchs in Guyana auf, zog 1953 nach London und studierte am Royal College auf Art. Viel Zeit seines Lebens verbrachte er zwischen den Kunstszenen von London und New York und zog aus beiden Kulturen seine Inspiration. Englische Landschaftsmalerei und amerikanische Abstraktion spiegeln sich in seinen bunten aquarellartigen Universen.


Was die Galerien und Künstler auch nach Ende des Lockdowns missen, sind die ausländischen Sammlerinnen und Sammler, die aufgrund der Corona-Reisebeschränkungen kaum Möglichkeiten für einen Besuch haben. Trotzdem zeichnet sich eine klare Übereinkunft ab: Nicht die Werkgattungen, die in Online Viewings Rooms am besten zu vermitteln wären, wie Fotografie, Video oder digitale Kunst, dominieren, sondern Malerei und Skulptur. Die Londoner Kunstszene, von Institutionen zu kommerziellen Galerien, setzt auf die klassischen, sinnlich erfahrbaren Medien: Gemälde, an die man nah heran gehen kann, um überraschende Details zu entdecken, und Werke bei denen Lichteinfälle und Betrachterperspektiven eine Rolle spielen.

Die aktuellen Ausstellungen werden gerade durch das körperliche Gegenübertreten und die direkte Erforschung der Werke und der Räume rezipiert. Zwangsläufig sind die Galerien auf Plattformen wie "Galleriesnow.net" mit aktualisierten OVRs vertreten, doch das scheint nur ein nebensächliches Werkzeug zu sein, wie die Kaffeemaschine im Büro. Die Zeichen stehen wieder auf analoge Erfahrbarkeit, den direkten Besuch, das persönliche Gespräch, die kleinen Feiern nach Feierabend. Es scheint, als hätte sich durch den monatelangen Lockdown doch nicht viel verändert. Und dass die führende Kunstmetropole auf dem europäischen Kontinent schwarzen Künstlerinnen und Künstlern eine so große Sichtbarkeit gibt, sollte auch anderswo als wegweisendes Beispiel gelten.