Gilbert & George über Freiheit

"Wir glauben, dass das Paradies schon hier ist"

Sex, Religion, Brexit: Das Künstlerduo Gilbert & George hat sich an den Reizthemen der letzten Jahrzehnte abgearbeitet. In ihren neuen Bildern widmen sich die beiden nun dem Paradiesgarten. Eine Begegnung


Gilbert, George, ich würde gerne über Ihre Ausstellung in der Galerie Sprüth Magers in Berlin sprechen. Sie scheinen sich ganz in der Pflanzenwelt zu verlieren, fast ein bisschen hilflos in all der Flora. Aber trotzdem heißt die Ausstellung "Paradisical Pictures".

George: Diese Bilder sind vor der Pandemie entstanden und wurden 2019 schon in Los Angeles gezeigt. Jetzt werden sie aber ganz anders gesehen. Mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung glaubt an ein Leben nach dem Tod. Und in der Zwischenzeit sind so viele Menschen vor ihrer Zeit gestorben.

Gilbert: Dabei glauben wir selbst nicht ans Paradies. Aber wir glauben, dass wir hier auf der Erde eins haben können. Wir haben schon eine Weile tote Blumen gesammelt. Blumen, die uns geschenkt wurden, haben wir in den Vasen trocknen lassen. Das war paradiesisch für uns, und deshalb haben wir uns in den Bildern zu einem Teil davon gemacht – dem Phänomen von Leben und Tod.

George: Wir glauben, dass das Paradies schon hier ist, und zwar wegen der Kraft der Kultur. Die Privilegien, derer wir uns erfreuen, gibt es eigentlich nur in Europa, Nordamerika und Australasien, wo man alles sagen und tun kann. Man kann jedes Buch lesen, alle Filme schauen, zum Ballet und in die Oper gehen. Wir glauben nicht daran, dass das eine Erfindung der Politiker oder der Religion ist. Das ist die Macht der Poeten, Autorinnen und Künstlerinnen.

Gilbert: Verglichen mit der Vergangenheit haben wir das Paradies geschaffen. Ganz außerordentlich!

George: Wir glauben, dass der Schlüssel zum Paradies Freiheit und Sicherheit sind. In vielen Teilen der Welt sind die Menschen nicht sicher und frei. In Lateinamerika sind sie im Griff der Kirche, in Russland sind sie nicht frei und in China auch nicht. Aber wenn Sie sich das Paradies ansehen, dann sehen Sie auch einen Garten. Und ein Garten hat eine Mauer, der ist nicht für alle da, sondern ein umschlossener Raum.

Gilbert: Wie der Garten Eden! Wo die Menschen zum ersten Mal gesündigt haben.

Nun gibt es Leute, die sich wünschen, dass zum Beispiel Großbritannien so einem Garten ähnelt: innen rein und unschuldig und mit einer Mauer drumherum.

George: Daran glauben wir nicht. Wenn man Englisch ist, hat man in England die gleichen Privilegien wie in Ontario oder in Melbourne. Überall in der angelsächsischen Welt ist es genau gleich. Eine enorme Freiheit.

Gilbert: Englische Gärten sind berühmt dafür, dass sie allen offen stehen.

George: Wenn wir morgens aus dem Haus treten, dann gehen wir nicht nach England oder das East End. Wir betreten eine französische Straße. Sie war die Straße der Hugenotten.

Fournier Street, die im 18. Jahrhundert von exilierten Hugenotten besiedelt wurde.

George: Die Straße ist auf dem Gelände eines alten Römerfriedhofs erbaut, und es ist auch der Bezirk, wohin die versehrten Kreuzfahrer zurückkehrten. Wir sind nahe der Brick Lane, wo man bis vor kurzem fast nur Jiddisch sprach. Dort waren auch die russischen Dampfbäder, und dort ging auch Oscar Wilde in eine chinesische Opiumhöhle. Es gibt hier eine globale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir kaufen Datteln, genießen sie, und nachdem wir den Kern ausgespuckt haben, wächst ein Baum.

Gilbert: Wir machen Kunst daraus.

Die Datteln auf ihren Bildern sind aus der Nachbarschaft?

George: Die muslimischen Läden verkaufen sie zu Ramadan.

Gilbert: Und die trockenen Pflanzen färben wir ein, sodass sie wieder lebendig werden.

George: Viele davon sind von der Straße. Der Löwenzahn – dent de lion – sprengt das Straßenpflaster. Die Freunde der Ökologie würden das auch gerne tun. Löwenzahn ist sehr mächtig. Deshalb glauben wir an die lokale Flora, das Unkraut und die Pflanzen.

Gilbert: Wir arbeiten gerade an einem Gilbert & George Centre. Dafür wollen wir einen schönen Garten im Hof der Stiftung anpflanzen, der voller sonderbarer Blumen ist. Alles ist fantastisch, dann betritt man die Ausstellung und wird von Gilbert & George-Bildern geschockt.

George: Wir pflanzen wahrscheinlich einen Gingko.

Gilbert: Für den britischen Pavillon auf der Venedig-Biennale 2005 haben wir schon eine Serie namens "Gingko Pictures" gemacht. Wir wollten dafür den ältesten Baum der Welt, den Gingko aus dem Fernen Osten. Seine Blätter sind in ständiger Bewegung.

George: Sie haben etwas Menschliches.

Gilbert: Im Herbst ist er so golden.

George: Wir haben in New York zum ersten Mal Gingkos gesehen und alte chinesische Damen im Park beobachtet, die die Samen aufgehoben haben, um daraus Tee zu kochen. Dann haben wir viele Blätter eingesammelt, aber festgestellt, dass es nicht erlaubt ist, Pflanzen auszuführen. Deshalb haben wir die Blätter zwischen Magazinseiten gelegt.

Gilbert: Schmuddelhefte!

George: Das waren Erotikmagazine. Wir wussten nicht, wofür wir mehr Ärger bekommen: Die Hefte oder die Blätter. Jedenfalls, als wir in der Fournier Street angekommen sind, haben wir den Koffer zu Hause gelassen und sind zum Abendessen gegangen. An der Ecke sahen wir dann ein Gingkoblatt auf dem Trottoir. Wie kam das aus unserem Koffer hierher? Unmöglich! Wir schauten uns um, und auf unsere Straße standen fünf Gingkobäume, die wir in 45 Jahren nie bemerkt haben.

Gilbert: Mysteriös!

Blätter, Blumen, Ihre Motive erinnern an ein Herbarium. Aber eigentlich erinnern mich all Ihre Bilder seit den 70ern an ein Herbarium des Londoner Lebens. Sie sammeln Bilder, pressen sie flach und konservieren sie.

Gilbert: Wir nennen London die globale Stadt. Das predigen wir schon seit 30 Jahren.

George: Wir sind in Laufweite von dem Friedhof, wo John Bunyan begraben liegt, Autor von "The Pilgrim’s Progress", das am wenigsten gelesene Buch. Wir können die Gräber von William Blake und Daniel Defoe sehen. Das sind die Menschen, die unseren Leben Bedeutung gegeben haben. Wir sind stolz und fasziniert zugleich. Selbst auf der Brick Lane, einer jungen, multikulturellen Gegend, gibt es eine Plakette, die kaum jemand beachtet. Sie erinnert an Thomas Fowell Buxton, einem Brauer, der sich gegen den Sklavenhandel eingesetzt hat. Alle wollen politisch korrekt sein, aber die Plakette für den Mann, der sein Leben der Abschaffung der Sklaverei gewidmet hat, sehen sie nicht.

Sie haben über die Freiheit in der angelsächsischen Welt gesprochen. Denken Sie, das ist einmalig auf der Welt? Ist dieser Teil der Welt der einzige Ort für Freiheit?

George: Fuck you ist ziemlich international und angelsächsisch.

Das ist Freiheit für Sie?

George: Oh ja!

Gilbert: Wir haben eine Arbeit gemacht, die "Fuckosophy", zehntausend Mal fuck. Dazu haben wir Postkarten drucken lassen: "Fuckosophy for All". Das hat die Menschen ganz außerordentlich glücklich gemacht.

George: Man kann die Konventionen aus der Kindheit abwerfen, indem man sich vorstellt, von den Benimmregeln frei zu sein.

Denken Sie, das schockiert heute noch jemanden?

George: Im Gegenteil, es geht um de-shocking. Wenn Sie auf die Straße gehen und fluchen, würde man Sie festnehmen. Aber wir kommen damit durch. Wir wollen verführen und subversiv sein.

Aber wird das nicht langweilig? Man erwartet ja schon, dass Sie schockieren.

George: De-shocking!

Gilbert: De-shocking!

Was bedeutet das denn?

George: Nehmen Sie das Bild "Date Stone Fuck". Das ist sehr schön, aber man könnte das nicht draußen plakatieren. Aber es ist ein Kunstwerk und das Ergebnis von 50 Jahren des Nachdenkens über den Tod,…

Gilbert: …die Hoffnung.

George: Leben.

Gilbert: Angst.

George: Sex.

Gilbert: Geld.

George: Race.

Gilbert: Religion.

George: Deshalb können wir so ein Bild machen. Alle Pflanzen ficken die ganze Zeit. Jetzt gerade verlieren die Bäume ihre Blüten, jedes Jahr pflanzen sie sich fort. Früh morgens hören wir die Vögel im Innenhof, sie schreien nach sexuellen Kontakten. Abends dann das Gleiche.

Gilbert: Sex! Sex! Sex! Es gibt nichts anderes. Essen und Sex.

Sie haben aber auch ein Bild namens "Date Rape", das hat einen unangenehmen Beigeschmack.

George: Ein außerordentliches Bild. Es gibt kaum eine Zeitung auf der Welt, wo Sie nichts über Vergewaltigung lesen können. Außerordentlich!

Gilbert: Die Kunstgeschichte von den Alten Römern bis zur Renaissance ist auch voll mit Vergewaltigungsszenen.

George: Lauter illegale Szenen! Kreuzigungen, die sind ebenfalls illegal. Aber es ist in Ordnung, dass es ein Bild davon gibt.

Haben Sie eigentlich selbst einen Garten?

George: Einen kleinen, im Hinterhof.

Gilbert: Dort wächst eine Efeupflanze.

George: Der Efeu ist ein Symbol für alte Liebe.

Ach ja?

George: Wie in dem Lied, "Just like the ivy on the old garden wall, I’ll cling to you". Ein altes Lied.

Ich habe seit Tagen einen anderen Ohrwurm: "Underneath the Arches". Das Lied haben Sie 1969 als Teil Ihrer "Singing Sculpture"; gesungen. Sie haben mal gesagt, es enthält ihre Kernidee: Kunst für alle.

Gilbert: Das war der wichtigste Moment in unserem Leben. Denn 1968, als wir einander gefunden hatten, wurden wir Außenseiter, wie die Stadtstreicher in der Fournier Street. Das war die Idee, das wurde Gegenstand unserer Kunst.

George: Damals waren auf unserer Straße die meisten obdachlos. Es gab drei riesige Unterkünfte, für Versehrte aus den zwei Weltkriegen, und eine weitere große Gruppe war geschädigt durch das repressive Sexualstrafrecht jener Zeit, also vor 1967, als gleichgeschlechtlicher Sex noch unter Strafe stand. Aber nach unserem Abschluss an der Kunsthochschule dachten wir, dass wir sicher und frei durch London streifen können und diesen ganzen Triumph des Westens erleben können. Da fanden wir einen schönen Ramschladen nahe der Euston Station. Und in der Ecke war ein Stapel alter Grammophonplatten. Die oberste hieß "Underneath the Arches", ein Lied, das vom Leben eines Stadtstreichers erzählte. Wir spielten die Platte, und uns wurde klar, dass der Text die Essenz unserer Idee einfängt. Er geht so: "The Ritz I never sigh for / the Carlton they can keep…"

Gilbert & George (singen): "There is only one place that I know / and that is where I sleep / underneath the arches / I dream my dreams away / underneath the arches on cobble stones we lay / every night you’ll find me / tired out and worn / happy when the daylight / comes creeping, heralding the dawn / sleeping when it’s raining / and sleeping when it’s fine / Pavement is my pillow / no matter where we stray / underneath the arches / I dream my dreams away".

Gilbert: Das war’s!

George: Da hatten wir die Essenz der Gedanken, Gefühle, Inhalte, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Glück und Unglück, Tod und Leben, alles in einem Lied. Uns wurde unser Privileg klar. Ein magischer Moment.

Gilbert: Die Menschen sind uns wichtig, und wie sie täglich ihr Leben bewältigen. Ein bisschen wie "The Pilgrim’s Progress", denn wir waren auch auf einer Reise: von naiven Studenten zu betrunkenen Künstlern, bis hin zu Sex, Politik und Religion.

George: Der Autor John Bunyan war unglücklich, weil er nicht zum Glauben finden konnte. Wir
haben unsere Version davon gefunden, nämlich den Glauben an Kunst für alle.

"Underneath the Arches", das ist eigentlich eine privilegierte Position für Sie. Man kann von dort gut das Leben vorbeiziehen lassen und beobachten. Aber was hat das mit der Kunst für alle zu tun? Und wer soll das überhaupt sein: alle?

George: In unserem Leben ist alles gesichert. Aber trotzdem haben wir eine schmerzliche Leere in uns. Das hat mit Kreativität, dem Denken, dem Alltag zu tun. Dort greift die Kraft der Kultur.

Gilbert: Wir möchten die Öffentlichkeit mit unserer Vision von Kunst und von uns selbst konfrontieren. Dazu gehören auch große institutionelle Ausstellungen. Und das öffentliche Interesse an Kunst ist so groß wie nie.

George: Die Verfeinerung ist der Auftrag der Zivilisation: mehr fühlen, mehr denken.

Gilbert: Die Moral!

Was bedeutet das?

George: Warum flirten junge Leute auf Friedhöfen?

Gilbert: Oder in öffentlichen Toiletten? Wie man sich zu verhalten hat, was schlecht ist – das ist die moralische Dimension.

George: Das bedeutet: Wir sehen uns als Teil einer Veränderung in der Moral.

Sie würden sagen, die Freiheit breitet sich aus?

George: Ja. Sicherheit und Freiheit!

Als Sie in den 60ern nach London gezogen sind, haben Sie diese Freiheit gesucht?

Gilbert: Wir sind fortgelaufen – in die große Stadt!

George: Die Natur ist aggressiv. Das Land ist unangenehm. Wenn Sie in ein Pub auf dem Land gehen, dann verstummen alle. Schrecklich. Feindselig.

Wie halten Sie es mit einem unschuldigem Blick auf die Welt? Finden Sie Naivität hilfreich in Ihrer Arbeit?

George: Ich weiß nicht, ob wir unschuldig sind. Bei Künstlerinnen und Künstlern gilt das oft als Kompliment, wenn man ihnen eine kindliche Vision attestiert.

Gilbert: Nur wenige Künstler oder Künstlerinnen waren in Oxford oder Cambridge.

Aber Sie waren immerhin am renommierten Central St. Martins College ...

George: Das ist eine Kunsthochschule. Nur für Drogen, Sex und schlechtes Benehmen.

Gilbert: Als Künstler sind wir Außenseiter und irgendwie auch naiv, denn es gibt eine Sprache, die sich nicht aufschreiben lässt, nämlich, wie man ein Kunstwerk macht.

Halten Sie sich etwa immer noch für Außenseiter?

Gilbert: Oh ja! Das wollen wir auch sein. Wir suchen keine großen Debatten mit anderen
Künstlerinnen und Künstlern.

George: Eine einfache Regel: Wir essen niemals Lasagne bei jemandem zu Hause.

Warum Lasagne?

George: Wir haben gehört, dass man das normalerweise vorgesetzt bekommt.

Gilbert: Die Mittelschicht serviert Lasagne.

Ich habe das noch nie gehört.

George: Dann kommen wir zum Abendessen vorbei.

Gilbert: Wir sind übrigens demnächst Teil einer Gruppenausstellung in Berlin, in Tempelhof. Sie heißt "Diversity United".

George: Ein ganz zeitgenössischer Titel!

Gefällt Ihnen das?

George: So einen Titel hätte es vor 20 Jahren nicht gegeben.

Und in Zukunft?

George: Das werden wir sehen.