Wer bei Instagram nach dem Hashtag #DongXuanCenter sucht, findet über 1000 Beiträge. Darunter Fotos von Personen, die sich zwischen Regalen voller bunter Plastikblumen tummeln, Sommerrollen essen oder sich einem Microblading unterziehen. Das vietnamesische Großhandelszentrum in Berlin-Lichtenberg ist schon längst kein Geheimtipp mehr: Es steht als Attraktion in zahlreichen Reiseführern und zieht sowohl Menschen aus der vietnamesischen Community als auch Touristen sowie Berlinerinnen an. Im Rahmen des Projekts "MigraTouriSpace" beschäftigen sich die Künstlerin und Stadtforscherin Stefanie Bürkle und ihr Team mit Orten wie diesem. Die Beobachtungen und Analysen von Räumen und ihren Veränderungen sind nun in der gleichnamigen Ausstellung im CLB Berlin – Collaboratorium im Aufbau Haus am Moritzplatz zu sehen.
Dass die Phänomene Migration und Tourismus zusammenhängen, gleichzeitig aber auch aufeinander aufbauen, ist die These des Kunst- und Forschungsprojekts von Bürkle, Professorin am Institut für Architektur an der Technischen Universität Berlin. "MigraTouriSpace" ist als Teil des Sonderforschungsbereichs "Re-Figuration von Räumen" entstanden. Über drei Jahre lang haben Bürkle und ihr Team in Berlin und Korea gefilmt, fotografiert und Interviews mit migrierten Personen und Menschen im Urlaub geführt. Wenn von Raummigration die Rede ist, sind Orte gemeint, die mit Personen reisen. Sie werden angeeignet, nach ihren Vorstellungen gestaltet – und mit der Zeit zu touristischen Attraktionen.
Als Fallstudien dienen das Berliner Dong Xuan Center und das "Deutsche Dorf" Dogil Maeul in der südkoreanischen Provinz Gyeongsangnam-do. "Migration verläuft ähnlich global wie Tourismus und bedingt sich teilweise sogar gegenseitig", so Bürkle, "Veränderungen im Stadtraum, beeinflusst oder gar hervorgerufen durch Migration, ziehen Touristen an."
Plastikblumen und Reihenhäuser, Bierwerbung und Leuchtreklame
Die Schaufenster des CLB sind mit bunten Fotografien beklebt und verwandeln den Ort selbst in eine touristische Attraktion: Von außen scheint es, als könne man durch die farbenfrohen Türen das Bistro36 in Dogil Maeul betreten. Auch der Ausstellungsraum nähert sich durch foto- und videografische Arbeiten den beiden exemplarischen Orten. Besucherinnen und Besucher können sich ihren Weg zwischen Fototapeten und den von der Decke hängenden Leinwänden bahnen, auf die Videos projiziert werden. Über eine Tonspur laufen Ausschnitte der geführten Interviews ab. Die Sonne strahlt (wenn sie denn strahlt) durch die Folien an den Schaufensterscheiben und verstärkt die auditiven und visuellen Eindrücke der unterschiedlichen Orte, was zu einer leichten Desorientierung führt. Durch die unterschiedlichen Medien wird die Gegenüberstellung zu einem fließenden Übergang der Sinneseindrücke. Plastikblumen und Reihenhäuser verschwimmen mit Bierwerbung und Leuchtreklame.
Aus Dogil Maeul berichtet der deutsche Rentner Hans, der mit seiner koreanischen Ehefrau in das Deutsche Dorf gezogen ist um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Zusammen haben sie ein klassisches Einfamilienhaus gebaut, das man aus Vororten kennt: weiß verputzt mit rotem Ziegeldach. Damit hätten sie eine "Architekturrevolution" ausgelöst, erzählt seine Frau. Viele hätten die Bauweise aufgegriffen, schräge Dächer sähe man nun überall. In Dogil Maeul sind alle Deutschen im Rentenalter, junge Leute aus Deutschland ziehen nicht nach. Mittlerweile ist das Dorf zur Attraktion für Einheimische geworden: Neben Bier und Wurst gibt es Geschäfte mit Namen wie "Oktoberfest", "Danke Schnitzel" oder "Marienkäferhaus". Es sei der gleiche Schriftzug wie der vom Berliner Café Kranzler, erzählt Hans stolz. Vor dieser Kulisse werden koreanische Hochzeiten gefeiert und Fotos für Social Media geknipst. Hier wird die Refiguration von Räumen sichtbar: Wandernde Elemente wie Kleingarten und Reihenhaus lassen sich in ungewohnter Umgebung nieder.
Dass immer mehr Einheimische aus Korea Dogil Maeul für sich entdecken, birgt jedoch auch Konflikte. Die Künstlerin und Stadtplanerin Janin Walter ist ebenfalls an "MigraTouriSpace" beteiligt und berichtet von dieser Problematik: "Umwidmungen von Räumen stellen langwierige bürokratische Abläufe dar. Dogil Maeul wurde als reines Wohngebiet konzipiert, die Bewohner:innen dürfen dort also keine Geschäfte machen. Wenn da nun Würste und Bier verkauft werden, schürt das Neid und Frust."
Wachsende Community oder Gentrifizierung?
Auch rund um das Areal des Dong Xuan Centers verändert sich einiges: Der Architekt Arno Brandlhuber hat auf dem ehemalige Gelände der VEB Elektrokohle Lichtenberg zwei Betontürme gekauft, einem Betrieb, der die DDR mit Grafit versorgte. Auch der Kunstsammler Axel Haubrok besitzt seit einigen Jahren schräg gegenüber die "Fahrbereitschaft", einen Kunst- und Gewerbehof mit zahlreichen Ateliers. Für viele Vietnamesinnen und Vietnamesen stellt das Dong Xuan Center ein Stück Heimat dar, das der Vernetzung innerhalb der Community dient. Vor zehn Jahren bemerkte der Künstler Danh Vo: "Viele Vietnamesen wollen einfach unter sich bleiben." Ein Jahrzehnt später sind in dem Lichtenberger Großhandel Menschen aus Vietnam, Berlin und vielen weiteren Teilen der Welt auf der Suche nach einer günstigen Maniküre, frischem Gemüse oder "authentischer Atmosphäre". Ein Besuch sei wie ein "Wochenendausflug in eine andere Kultur", schwärmt einer der von Bürkle Interviewten.
Wie in Dogil Maeul haben auch hier Geschäftsleute Grundstücke gepachtet um vom Tourismus zu profitieren. "Das Dong Xuan Center ist als rein utilitaristisches Konzept entstanden. Mittlerweile haben sich auch türkische oder pakistanische Händler:innen angesiedelt, es gibt viel russisches Publikum. So kommt es zu einer enormen Durchmischung.", so Bürkle. Steigende Mieten und Verdrängung sieht sie nicht als Gefahr: "Man kann den Ort nicht musealisieren, damit tötet man ihn. Dann wäre es nur noch Tourismus." Fest steht, dass sowohl das Großhandelszentrum als auch das Deutsche Dorf in zehn Jahren komplett anders aussehen werden als heute. "Diese Orte lassen sich wie abgeschlossene Inseln beobachten. Ein bisschen wie bei Jurassic Park", so Bürkle.
Ganz ohne Dinos regt "MigraTouriSpace" zum Nachdenken an: Durch das eigenständige Erwandern der Ausstellung eröffnen sich den Besucherinnen und Besuchern buchstäblich unterschiedliche Perspektiven auf Schauplätze, deren stete Veränderung visuell dokumentiert wird und wurde. Dabei bietet das Reisen innerhalb der eigenen Stadt nicht nur in Zeiten einer Pandemie eine willkommene Abwechslung. Durch eine Videolandschaft spazierend, irgendwo zwischen Vietnam, Deutschland und Korea, begleiten Fragen nach Verortung, Authentizität und dem eigenen touristischen Blick den Weg. Die Skurrilität der Bilder amüsiert, verdeutlicht aber auch den steten Wandel der wandernden Orte. Einmal mehr wird deutlich, dass Kunst etwas Lebendiges, nicht Abgeschlossenes ist.