Alles muss neu gedacht werden. Vor einigen Monaten habe ich mir online einen Reiskocher gekauft. Von der Firma Reishunger. Bei dem Namen schmeckt man das Startup gleich mit. Und natürlich spielte mir mein Algorithmus dann auf Instagram die Werbung von Reishunger vor. Ein junger Mann in Stretch-Jeans, Tennissocken, und Bart, der aussieht wie diese Unternehmensgründer, im Internet vegane Männerkosmetik, Wolfskind-Futter oder minimalistische Schlüpper propagieren, geht durch eine Lagerhalle. Lässig streichelt er einen Reiskocher, Mann, so ein Burner, schon so viele verkauft. Er blickt frontal in die Kamera, sagt mit der Stimme eines euphorisierten Entwicklungshelfers: "Wir haben Reishunger gegründet, weil Reis nicht einfach Reis ist. Wir wollen Reis neu denken." Ja, super, denke ich, da sollte man doch gleich alles neu denken, nicht nur Reis, sondern auch Nudeln, Füße, Bücher oder Bäume. Das Leben, weil ja Leben nicht einfach nur Leben ist. Oder "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo": Das ursprüngliche Christiane F.-Buch und die Uli Edel-Verfilmung von 1981 wurden jetzt von Amazon neu gedacht. War ja auch schon lange fällig.
Jeder, der mal in Corporate-Zusammenhängen, in der Kreativwirtschaft, in den Medien oder mittelständischen Firmen gearbeitet hat, ist bei den Worten "neu denken" sofort so alarmiert, als würden die eigenen Haare in Flammen stehen. Denn meistens sind es die Bosse oder irgendwelche Millennial-Heuschrecken des mittleren und gehobenen Managements, die "neu denken" wollen – entweder ein Produkt oder eine Struktur, häufig die der Firma, in der sie gerade arbeiten. Sie denken fast nie selbst irgendetwas wirklich Neues. Meistens haben sie "so ein Gefühl", haben irgendetwas gesehen, gelesen, etwas gehört. Sie sind nicht in der Lage, genauer zu definieren, was dieses Gefühl eigentlich ist, es ist immer wie etwas anderes: eine Gucci-Reklame, Greta Thunberg, was von Instagram, irgendwas mit Diversität oder Werten. Hauptsache heiß.
Immer wollen diese Leute dieses unbestimmte Gefühl vermarkten. Sie wollen das, was ihre Vorbilder haben, was ihnen aber selbst fehlt: Anerkennung, credibility, ein außergewöhnliches Leben, intensive Erfahrungen. Die Neudenker wollen das alles, ohne sich wirklich zu engagieren, für etwas zu begeistern, etwas zu riskieren. Es soll so rüberkommen, als hätten sie es erfunden. Dabei geht es immer um Macht und mehr Geld, aber auch um eine gehörige Portion Destruktion. "Neu denken", das heißt immer auch, etwas abzureißen, kaputt zu machen, Leute zu feuern, Sachen zu verheizen. Manchmal verschwindet das "Alte" völlig im Ausguss, wie der langweilige Parboiled-Reis, den die Mutti schon seit Jahrzehnten zerkocht hat.
Szenen wie aus Madonnas Nineties-Musikvideos
Auch gleich die erste Szene in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" macht deutlich, dass hier außer "Äitsch", also Heroin, nichts aufgekocht, sondern alles frisch gedacht und gemacht wird, eine "moderne Nacherzählung", wie die Macher es nennen. Ein Privatjet fliegt auf eine digitale Gewitterfront zu. Innen, im Flugzeug, sitzen Leute im House-Fummel, in Glitterblusen, Pucci-artigen Kleidern, Mänteln aus Marabu-Federn, eine Szene wie aus Madonnas Nineties-Musikvideo "Deeper and Deeper". Nur, dass die Party vorbei ist, man fliegt nach Hause und wird ziemlich durchgeschüttelt, Sekt schwappt aus den Gläsern.
Christiane F. (Jana McKinnon), mit der ausrasierten Wave-Frisur der frühen 1980er, nimmt noch schnell einen Shot und nähert sich mitten in dem Gewackel einem blondierten Mann in einem roten Anzug. Einer David-Bowie-Version, erstaunlicherweise aus den 1990ern, die aussieht, als würde sie nach einem Gig im Neuköllner Estrel Feierabend machen. Er guckt etwas fragend und ängstlich. Sie zieht an ihrer Zigarette, beugt sich zu ihm, nimmt seine Hand und sagt: "Keine Angst, wir stürzen nicht ab, ich bin unsterblich."
Gewagte Ansage für eine Serie, in der es um nichts anderes gehen soll als um Absturz und Tod. Dann Einblendung: Zehn Jahre zuvor. Musik: "Rebel Rebel" von Bowie. Im Anflug auf Berlin-West schwebt ein nicht mehr so privates, eher gewöhnliches Flugzeug über die Hochhäuser der Gropiusstadt, der Heimat von Christiane. Der Himmel ist noch immer digital. Im Bruchteil von Sekunden wird deutlich, dass sie es in die VIP-Lounge geschafft hat und was sie dafür tun musste. Soo einfach kommt man ja nicht hinter die Kordel, wo Bowie, Tina Turner, Lena Meyer-Landrut und Olli Pocher sitzen.
Model bleiben, während man durch die Junkiehölle geht
Was der Job ist, ahnt man sofort, wenn man die "Christiane Banane", wie sie in der Schule gehänselt wird, beim Kämmen im Betonwüsten-Badezimmer sieht – sie muss Model werden. Oder besser: Model bleiben, während sie durch die Junkiehölle geht. Sie ist ja schon über 20 und wirkt fast so alt wie die Mutti und ihr Vater, der bestimmt auch mal Model war. Ich wünschte, er würde das Hemd ausziehen, statt über Hundezucht zu sprechen und seine hart arbeitende Frau mit Blumen zu beglücken, die er von Christianes Schülerinnenfahrkartengeld bezahlt hat. Dieser Schlingel! Aber eigentlich wünschte ich mir, alle Mitwirkenden würden ihre Klamotte ausziehen und verbrennen, bei diesem Ausstattungs- und Kostümdesaster. Und auch die Gebäude und Räume dieses neon-bunten Fake-Fantasy-Berlins, das wirkt wie der Schauplatz einer Seventies-Themenparty für russische Oligarchenkinder, sollte man gleich mitabreißen. In der ganzen Serie, die wie ein spießiger Abguss der visuell überwältigenden, mackermäßigen Filme von "Drive"- und "Neon Demon"-Regisseur Nicolas Winding Refn rüberkommt, stimmt vorne und hinten nichts.
Ich war ja bereits auf Facebook vorgewarnt worden. Dort hatten Freunde Kommentare hinterlassen wie: "Bibi&Tina-Christiane im Lenny-Kravitz-Musikvideo-Sound, dazu ein 'Dark'-Abklatsch-Soundtrack mit den falschen Bowie-Songs braucht leider KEINER. Mensch Christiane, da war ja damals die Mc-Donalds-Werbung noch besser." Oder "klamotten, haare, locations, grading - alles #fail".
Überall sind dieselben Kritiken zu lesen: Darsteller super, aber zu alt. Finde ich auch. Lena Urzendowsky, die die Stella spielt, ist eine der tollsten jungen Schauspielerinnen im deutschen Kino. Auch alle anderen spielen sich den Arsch ab. Leider vergeblich, bei dem Drehbuch und den Regieeinfällen, die die Leute ständig dazu zwingen, übertrieben, superkontrolliert zu spielen, zu grinsen, zu schreien, wie im Kabuki-Theater oder kühl neo-deutsch zu posen wie die Models auf einer Anne-Imhof-Performance. Ich denke, dass Natja Brunckhorst mit ihren Henna-Haaren, Parka und Palästinenser-Feudel einen der besten Looks der Filmgeschichte hatte, dass die Straßenmode, der Junkie-Style (sack-enge Jeans, knappe Cordjacken, Kunstleder, Kamm in der Arschtasche, riesige Umhängetaschen, Kaninchenfelljacke usw.) im Westberlin der späten 1970er unschlagbar ist. Man muss bei solch einer Stilvorlage schon ziemlich behämmert sein, um das zu verhunzen.
Ich bin eine Pop-Omi
Mir tut es natürlich leid, dass ein Meilenstein der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte, ein Kultbuch meiner Jugend, eine authentische Erfahrung, die wirklich für Millionen von Jugendlichen unglaublich wichtig war, völlig homogenisiert und zur Monokultur geglättet wurde. Aber um zu erklären, warum ich auf diese Art von "neu gedachten" Serien und Filmen wirklich eimerweise kotzen möchte, warum ich sie nicht einfach nur für verlogen und lahm halte, sondern für dreist und für ideologische Propaganda, muss ich etwas ausholen.
Ich bin eine Pop-Omi. Ich gehöre zur Generation X, zu der auch Christiane F. gehört. In meiner Welt wurden Kinder-Nutten noch von Kindern wie von der 13-jährigen Jodie Foster in Martin Scorseses "Taxi Driver" (1976) oder von der zwölfjährigen Brooke Shields in Louis Malles "Pretty Baby" (1978) gespielt. Man hatte mit 14 oder 15 Geschlechtsverkehr und betrachtete sich als erwachsen. Kinder oder Teenager wurden sich meistens selbst überlassen. Viele, die ich kannte und mochte, wollten nie alt werden, keinen Beruf, keine Zukunft haben. Die Härte und der Pessimismus von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" war ein Zeitphänomen, soziologisch, aber auch popkulturell. So fühlten sich Jugendliche damals.
Ich war als Teenie sogar im Sound, als das Buch gerade rauskam, also 1978. Wir waren auf Klassenfahrt von Westdeutschland und wohnten in der Jugendherberge in der Kluckstraße, also praktisch auf dem Babystrich an der Kurfürstenstraße. Ich war total unglücklich und hasste das alles. Aber weil ich doch irgendwie dazu gehören wollte, ging ich abends mit, ins Sound, das damals schon sicher voller Schulklassen aus Westdeutschland war. Ich erinnere mich noch an eine Treppe nach unten und irgendwelche zusammengekloppten Bambus- oder Basthütten, die wie ein Dorfkreis um die Tanzfläche arrangiert waren, in denen man Kirschtee und Mangosaft trinken, kiffen und harte Drogen nehmen konnte. Schon beim Betreten der Disco wusste ich, dass das alles keine gute Idee war, wir waren alle Dorfdeppen, Touristen, das sah man auf der Stelle. Und ich war die schwule, sensible Dorfdeppen-Version.
Ich glaube, in diesem Moment reifte unbewusst mein Entschluss, selbst in die Szene zu gehen und Drogen zu nehmen. Später, zurück im Deutsch-Leistungskurs, sollte jeder etwas schreiben, was nun toll in Berlin war. Markus Möller, ein etwas stumpfer, sehr sportlicher Typ, der gerne andeutete, er sei so gelenkig, dass er sich stundenlang selbst einen blasen konnte, hatte eine Art Gedicht geschrieben. Leider nicht über mich, sondern über ein dunkelhaariges Mädchen im Sound, das so aussah wie Christiane F. Er rätselte, ob sie es wirklich sei, warum sie ihn anschaute, aber dabei kalt durch ihn hindurch, ins Leere blickte. Er fragte in seinem Poem Sachen wie: "Girl, was kann ich tun, damit du mich siehst, meinen Blick erwiderst, ich sehne mich so nach dir." Der ganze Kurs brach in Gelächter aus, ich auch, weil er wohl nicht verstanden hatte, dass sie völlig dicht war. Am lautesten lachten die Junge-Union-Typen, die vielleicht im Tennis-Club Rot-Weiß waren, vielleicht ein eigenes Auto fuhren und dachten, ihnen gehöre die Welt, die überall vorne sein wollten, immer eine gute, junge CDU-Idee hatten, natürlich auch zu Sex und Drogen, Junkies, Nudeln, Füßen oder Popkultur. Die CDU war ja schon damals cooler, als du denkst. Ich sage nur Popper-Frisuren, Vespas, Bootsschuhe und Männerschminke.
Keine zwei Jahre später lebte ich in Berlin und war druff. Alkohol, Speed, alles, was so ging. Und da sah ich im Risiko, einer Punkbar unter den Yorckbrücken, zum ersten Mal Christiane F. Zu dieser Zeit war sie mit Alexander von Borsig zusammen, der später mit den Einstürzenden Neubauten spielte und dann Alexander Hacke hieß. Die beiden machten zusammen Musik, gründeten eine Band, Sentimentale Jugend, und traten beim "Festival Genialer Dilletanten" im September 1981 im Tempodrom auf, bei dem auch mein Freund Nikolaus mit seiner Gruppe Die Tödliche Doris spielte. Ich habe nie großartig mit Christiane F. gesprochen. Ich erzähle das, weil ich sie, wie so viele Leute, die in Berlin ausgehen, in den letzten 40 Jahren in allen möglichen Inkarnationen gesehen habe, weil ich die Zeit der frühen 1980er-Jahre und die Welt kenne, in der sie diesen Haarschnitt hatte, den sie in der ersten Szene trägt. Dass diese Serie stilistisch und dramaturgisch so grottenschlecht ist, kratzt mich nicht wirklich. Es kratzt mich auch nicht, dass sie nicht "authentisch" oder zeitgetreu ist.
Mich stört, dass die Produzenten, der Regisseur und das Team die ganze Geschichte, diese Ära, die ich als Zuschauer und Akteur miterlebte, lediglich als Folie für eine Art Karneval, Freak-Show oder Diversity-Spektakel sehen – für visuelle Effekte, für pseudo-schockige Szenen, surreale Einfälle. Jede Sekunde ist aufgeregt, überhöht, wie ein einziger Werbespot. Ständig ein treibender Soundtrack, der von superlauten Soundeffekten unterbrochen wird, wenn es richtig zur Sache gehen soll. Achtung, Heroin auf Löffel heißmachen! Britzel, Blubber! Achtung Christiane Banane kriegt ihre Tage! Blut fließt wie der Amazonas über rotzbraunen Teppichboden. Stellas Freier kommt mit Teppichschaum, zisch, zisch. Dieser ganze hustle, dabei will man gar nichts erzählen, weder über die Vergangenheit noch über die Gegenwart.
In der neuen Fassung von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ist Berlin" superbunt. Zu einer Zeit, in der Hip-Hop noch gar nicht richtig nach Deutschland durchgedrungen ist, sind die Straßen mit Graffitis übersät, aber sonst wavig steril. Es nicht das trübe, deprimierende alte Tanten-Berlin, nicht die "schlimme Endzeitstimmung" in Christianes Jugend, von der sie 2007 in ihrem Interview mit Sandra Maischberger erzählt. Es ist ein elektronisches Retro-Mitte-Berlin, eine zeitlose, bemüht künstlerische aber dann doch zu ambitionierte und arschverkniffene Zone. Man kann sich vorstellen, dass im Team jemand "Suspiria" (2018) von Luca Guadagnino gesehen hat, wie da schön Bauhaus-deutsch TANZ auf dem Portal von Tilda Swintons Hexen-RAF-Tanzschule steht. Mensch, Philipp, das machen wir auch so schön streng, nur dass da SOUND in Neon steht. Super, Annette! Überall flackern bunte Neonlichter, das Sound sieht aus wie eine Ninties-Handbag-House-Techno-Disco.
Bahnhof Zoo mit heiterem Wave-Arthouse-Anstrich
Überhaupt wirkt dieses Berlin wie eine Vision aus den 1990ern, einer Zeit, in der die Macher wahrscheinlich ins 90 Grad oder ins E-Werk gerannt sind. Als Christiane F. das erste Mal das Sound betritt, spielen sie tatsächlich die Ibiza-Club-Hymne "Everybody's Free" (1997). Allerdings wird sie nicht von Rozalla, sondern eigens für die Produktion neu eingesungen, um auch für den letzten Vollpfosten klar zu machen, dass diese Geschichte nicht gut endet und die Disco eine Kathedrale ist, in der die Schäfchen geschlachtet werden. Die Leute tragen Top-Shop-Wave-Klamotten und tanzen pogo-mäßig, aber lieb schäfchenhaft herum. Auch der Bahnhof Zoo, in den späten 1970ern total abgerockt und von Tauben beschissen, hat in Philipp Kadelbachs Serien-Version einen heiteren Wave-Arthouse-Anstrich bekommen. Die Züge auf Babsis Bahnsteig haben lange leuchtend blaue Linien aufgemalt, um die Geometrie zu verstärken. Das erinnert vielleicht auch ganz bewusst an einen meiner allerliebsten Filme: Die "Regenschirme von Cherbourg" (1964). Jacques Demy erzählt darin vom Scheitern der Liebe zwischen einem jungen, bourgeoisen Mädchen (Catherine Deneuve) und einem Arbeiter (Nino Castelnuovo), der seinen Militärdienst im Algerienkrieg ableisten muss und sie schwanger zurücklässt.
Was eigentlich im konventionellen Kino als Sozialdrama erzählt worden wäre, verwandelt Demy in ein Musical. Alle Dialoge im Film werden als Rezitativ gesungen, für den Film wurden ganze Straßenzüge von Cherbourg knallrot und leuchtend grün angemalt. Demy nutzt die Form des Musicals und die Farbgestaltung, um Geschlechterverhältnisse, die ökonomischen Bedingungen, die Klassenverhältnisse vor dem Hintergrund des Algerienkrieges zu verhandeln. Er nutzt diese Stilmittel, um die Emotionen zu steigern, aber gleichermaßen auch dialektisch zu relativieren. Das Künstliche sagt uns in jedem Moment, dass hier etwas stellvertretend für die realen Verhältnisse dargestellt und als Parabel aufgeführt wird. Es geht, wie der amerikanische Kritiker Jonathan Rosenbaum schrieb, darum, eine Art "erhöhte Realität" zu entwickeln. Doch Serien wie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" wollen genau das Gegenteil – weg von jeder Form von Realität, weg vom Alltag, sei es nun in der Vergangenheit oder heute.
Es ist lustig. Die ganze Farbe, die ganzen Gucci-für-Arme-Kostüme, die schlechten Op-Art-Tapeten, das Getanze und Gedudel, das digitale Theater wirkt ohne richtigen Grund zeitlos. Irgendwie sprachlos, unmotiviert hängen die Effekte unentschlossen rum, zwischen dem Willen zu etwas Großem und naiver Willkür. Es gibt keine klarere Sicht auf die Gegenwart, unsere super süchtige Gesellschaft, in der wir alle ein bisschen Christiane F. sind – nur dass wir am nächsten Tag zur Arbeit gehen. Die Serie erzählt nichts über die Front-Stadt West-Berlin, atomare Bedrohung, Punk, Feminismus, die auch durch Bowie mit angefeuerte Gender-Revolution, das Gefühl von Untergang und Revolte. Es gibt keinen Blick auf eine Jugend, die damals eben nicht zwischen Arbeit und Freizeit wählen wollte, sondern eine extreme Art von Ganzheit. Man wollte ganz und gar leben oder sterben, lieber draufgehen, als das sogenannte "normale" Leben weiter so mitzumachen. Die Leute waren Full-Time-Punks und Full-Time-Junkies.
Drogen als eine Art extremes Freizeitvergnügen
Im Film wird Drogensucht wie eine hippe Party dargestellt, die man besuchen und verlassen kann, als sei das die eigene Entscheidung, wie eine Art extremes Freizeitvergnügen. Man würde doch glatt die eigene Tochter mal hinschicken, damit die noch richtig was erlebt, bevor es zum Studium nach London geht. Hauptsache man sieht geil aus, hat etwas zu bieten. Es ist auffällig, wie die Serie das Publikum spaltet. Pop-Omis und Zeitzeugen kriegen Brechreiz, aber ein jüngeres Publikum, die die Vorlagen nicht kennt, ist begeistert. Irgendwie ist das Martyrium der Kinder vom Bahnhof Zoo auch eine Challenge, bei der nur eine Kandidatin übrig bleibt. "Christianes F.s Drag Race": Sachay Away, Babsi! Die könnte man selbst antreten, vielleicht nicht ganz so krass. Und man sollte nicht rausfliegen, ich habe leider kein Foto für dich, Babsi. In der Neu-Denken-Welt sind wir nämlich selbst für unseren Lebensentwurf verantwortlich: für unsere Drogensucht, unsere Looks, unsere Arbeitslosigkeit, unser Bankkonto, ob wir arm, reich, schön oder hässlich sind. Christiane F. sitzt auch in der VIP-Lounge über den Wolken, unsterblich, befreit von lästiger sozialer Realität, weil sie sich schön neoliberal neu gedacht und vermarktet hat. Schade, dass Maggie Thatcher nicht mit im Flieger sitzt, sie würde sich bestimmt freuen.
Genau wie die Lounge da oben, ist auch das fiktive Berlin da unten völlig willkürlich, frei von Geschichte, Diskursen, Fakten, Mitgefühl. Diese Christane F.-Welt korrespondiert mit nichts außer dem Selbstverwirklichungswillen ihrer Schöpfer, die fest entschlossen sind, mit allen Mitteln einen internationalen Blockbuster zu fabrizieren. Die Fixer*innen sehen aus wie Models, die Zeiten und Looks vermischen sich für den Kick, den Augenblick, einfach weil ihre Schöpfer es so wollen. Peter Körte hat es in seiner Besprechung in der "FAZ" auf den Punkt gebracht: "Auf den Gedanken, die Serie habe irgendetwas zu erzählen über die Jugend der zehner Jahre des 21. Jahrhunderts, wird man aber wohl auch in vierzig Jahren nicht kommen. Das liegt daran, dass die Serie, ohne wirkliche Gegenleistung, vom Nimbus des Buches profitieren will; denn ohne diesen Nimbus ließe sie sich kaum verkaufen." Man könnte auch sagen: Die Geschichte wird aus einer sicheren Warte von Spießern für Spießer erzählt.
Die Macher, die Neu-Denker erzählen sie nicht auf Augenhöhe mit ihren Figuren, sondern aus der privilegierten Perspektive des Privatjets, der über den Dingen kreist. Sie fühlen sich wie ihre Filmheldin Christiane unsterblich, wer so eine Produktion rocken kann, hat keine Angst mehr. Sie sind Götter aus Wuppertal oder Hannover, die nie abstürzen, die bei allem Hedonismus immer auf der Spur geblieben sind, keine Loser sein wollten. Sie haben in ihrem Leben aus allem etwas gemacht. Sie können aus jeder Geschichte etwas machen, sie hören gut zu, recherchieren, sind temporäre Experten für alles, wie sich an lauen Sommerabenden in der Uckermark oder in Sizilien herausstellt, wo sie über einem Glas Rotwein für Familie und Freunde etwas zu laut über Dinge dozieren, die sie neu gedacht haben, oder die Traditionen und Werte, die sie schätzen. Vielleicht sind mal nach Goa gefahren, sind in Therapie gegangen oder haben den Jakobsweg erwandert. Sie sind ins Berghain gekommen oder auch nicht. Sonntags, beim Kaffeeklatsch mit Kindern, haben sie vielleicht schon mal die Brownies stehenlassen, sind mit den anderen in der Küche oder im Klo verschwunden, um sich eine Line reinzuziehen. Nicht die Geschichten machen sie high, sondern die Macht, mit der sie erzählt werden können, die Machbarkeit. "Die Besetzung, die Atmosphäre und die Machart der Serie haben eine vergleichbare Wirkung wie eine Droge", sagte der Produzent Oliver Berben in einem Interview.
Das erinnert nicht zufällig an Karl Marx' Bezeichnung der Religion als "Opium des Volkes", die aber heute durch post-faktisches Fernsehen ersetzt werden könnte - durch Filme und Streaming-Serien, die Geschichte, soziale, kulturelle, biografische Zusammenhänge bewusst für null und nichtig erklären, die eine ahistorische, völlig subjektive Parallelwelt erschaffen, die nur wahr ist, weil man es so will. Man hat keine Verpflichtung gegenüber der Wirklichkeit, man schafft sie sich. Eine Stadt etwa ist ein Topos von Geschichte und Erinnerung. Doch darauf wird gepfiffen, Architekturen, Looks, Geschichten, Menschen werden wie ein Patchwork zusammen gemorpht, weil es sexy aussehen, etwas hermachen soll, so wie das pinke Marabu-Top von Christiane, das in den Seventies vielleicht eine flippige Kunstlehrerin aus Düsseldorf-Oberkassel getragen hätte, aber keine 13-jährige Junkie-Stricherin in Berlin.
Der Blick aus dem Bowie-Jet ist alles andere als auf Augenhöhe mit den Figuren des Buches. Die Serie nutzt sie nach Strich und Faden aus. Sie vermarktet sie wie ein pseudo-geschmackvoller, pseudo-sensibler Pimp, der ein bisschen Arthouse, ein bisschen High-End-Mode, ein bisschen Billie-Eilish-Lebensmüdigkeit über seine Geschäfte sprenkelt, um seine gar nicht künstlerischen Intentionen zu verschleiern. Das ist ein bisschen so wie mit all den Surrogat-Produkten, die Fabi und Flori mit irgendwelchen Manufaktum-Mythen garniert im Internet verscheuern – Bartwachs, der aussehen soll, als käme er aus einem alten Barber-Shop in New Orleans, aber aus einer Garage in Oldenburg stammt.
"Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" ist nur eine von vielen Serien oder Filmen, die reale historische oder biografische Zusammenhänge und Ereignisse als eine kommerzielle Schlachtplatte nutzen, um superglatte Ausstattungsfilme zu schaffen, die in einer hybriden, bereinigten, kunterbunten Parallelwirklichkeit spielen. Interessanterweise wollen diese Filme nicht einfach nur unterhalten oder versuchen, eine neue Kunstform zu bilden. Sie wollen ganz beiläufig auch heiße soziale Themen bearbeiten und Diversität zeigen. Immer geht es um unterdrückte und marginalisierte Gruppen in repressiven Gesellschaften: süchtige junge Frauen, die sich emanzipieren und finden müssen ("Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", "Das Damengambit"), Schwarze und Latino-LGBT-People, Positive, Prostituierte, die sich gegen Marginalisierung und Diskriminierung wehren ("Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", "Pose", "Hollywood") oder People of Color in der Regency-Epoche im Großbritannien des frühen 19. Jahrhunderts ("Bridgerton"). Die Urmutter dieser post-faktischen Ausstattungsfilme ist Sofia Coppolas Arthouse-Film "Marie Antoinette" (2006), in dem die französische Königin wie ein feministisches, superreiches College-Girl gezeigt wurde, inklusive Converse-Turnschuhen, Manolo Blahniks, Bergen von Macarons und Punk-Klassiker-Soundtrack mit Siouxsie and the Banshees und Gang of Four.
Eine sehr deutsche Queerness und Perversion
War es bei Coppola eine etwas dekadente Verklärung der absolutistischen Königin zur tragischen Feministin, sind die "progressiven" Geschichtsklitterungen heutiger Serien oft ambitionierter, manche gar liberale Wunscherfüllungen. In der Netflix-Serie "Hollywood" wird ein Parallel-Tinseltown in den Fifties erfunden, in dem Stars wie Rock Hudson offen schwul leben und mit ihren Partnern über den roten Teppich laufen, asiatische Schauspielerinnen den Oscar verliehen bekommen und schwarze Schauspieler*innen große und nicht-stereotype Rollen kriegen. Ähnlich verhält es sich in der romantischen Serie "Bridgerton", die Jane Austen-artige Verwicklungen und Liebesgeschichten aus der Londoner Adelswelt erzählt, nur dass hier auch People of Color Adelige sind – um 1813 herum. In all diesen Serien wird die historische Wirklichkeit radikal verändert und wie ein Tannenbaum dekoriert, um nachträglich mehr Diversität zu schaffen. Auch in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" wird mit all dem Karnevalsglitter, den Perücken, Make-up und Kostümen, Peitschen, Lack und Leder ähnlich wie in der historischen Fantasy "Babylon Berlin" eine sehr deutsche Queerness und Perversion suggeriert, Rammstein und die Weimarer Republik lassen grüßen. Alles so schön bunt hier.
Diese Form von Diversität, so hat mir mein Ex, ein Regisseur, erklärt, ist demografisch. Man kennt das aus der Wirtschaft und Politik, aber auch von der Filmförderung: Soundso viele Frauen, People of Color, LGBTQs, Migrant*innen, Flüchtlinge, Behinderte, Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen usw. sollen dabei sein. Viele der post-faktischen Serien ändern einfach völlig frei die Demografie der jeweiligen Epoche, um diesen Ansprüchen auf Diversität zu genügen und die Sache zeitgemäßer und "gewagter" zu vermarkten, mehr Förderung zu bekommen. Es gibt aber noch zwei andere wichtige Arten von Diversität, die eine gute Gesellschaft und gute Filme ausmachen. Da ist die kognitive Diversität, eine Vielzahl von unterschiedlichen, einander auch widersprechenden Weltanschauungen. Und es gibt eine Diversität von persönlichen Erfahrungen, die in Filmen und Serien auch eine Stimme braucht. Oft werden die beiden letzten Formen von Diversität ausgeklammert oder unterdrückt, weil das zu komplex, zu kontrovers und dem Publikum nicht zumutbar ist. Außerdem hat man mit der Demografie ja seine Pflicht erfüllt, der DJ im Sound sieht aus wie Lenny Kravitz, Romeo liebt eine Transgender-Julia.
Welche fatalen Folgen diese bloße Fokussierung auf die Demografie haben kann, zeigt "Bridgerton", eine der global erfolgreichsten Serien im Covid-Zeitalter. Dass Adelige im London von 1813 People of Color sein können, sogar die Königin Sophie Charlotte von Mecklenburg-Strelitz, die Frau des verrückten Königs George III. schwarz ist, wird dort nicht weiter erläutert. Nur an einer Stelle erklärt die schwarze Lady Danbury (Adjoa Andoh) ihrem Zögling Simon, dem von Regé-Jean Page dargestellten Sexbolzen der Show: "Sieh dir unsere Königin an. Sieh den König. Schau dir ihre Heirat an, alles was sie tut, alles was sie uns erlaubt zu werden. Wir waren zwei Gesellschaften, durch Hautfarbe getrennt, bis ein König sich in eine von uns verliebte. Euer Gnaden, Liebe überwindet alles." In diesem fiktionalen London des beginnenden 19. Jahrhunderts steht die race der Königin nicht zur Debatte, durch ihre Krönung entstand gar eine schwarze Adelselite und ein respektabler Mittelstand. Dazu sagte Chris Van Dusen, der Showrunner von Bridgerton im Online Magazine "OprahMag", die Serie solle "die Welt, in der wir heute leben, reflektieren."
Schön und gut, denke ich als alter weißer Mann, das ist ja wie bei "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", irgendwie will das etwas über unsere heutige Zeit sagen, nur was? Wer ist in dieser fiktiven Gesellschaft noch Unterschicht, wer landet gar als Sklave in einer Galeere? Wieso kommt die Unterschicht nie vor? In einer Zeit, als der Sklavenhandel noch nicht abgeschafft war und der Reichtum Großbritanniens von der gnadenlosen Ausbeutung seiner Kolonien stammte, würde ich da in meiner Rolle als Königin nicht in schwere Konflikte geraten?
Was mich aber noch mehr beschäftigt, ist, dass das Regency, die Epoche in der diese Serie spielt, eine der ungleichsten Gesellschaften aller Zeiten in der britischen Geschichte produzierte. Die Blütezeit des englischen Dandytums ist geprägt von John Soane, Lord Byron, Jane Austen, einer Begeisterung für die Klassik und den "Orient". Doch während sich die Oberschicht Literatur, Architektur, Kunst hingibt, einen ausgefeilten Geschmack pflegt, ist für sie die völlig verarmte Unterschicht ohne jeden Belang. Armut ist gottgegeben und Teil der hierarchischen sozialen Ordnung. Während der Adel und die Bourgeoisie durch die Industrialisierung unglaublich reich werden, verkommt die Arbeiterschicht. Die Kluft ist größer als im Mittelalter. Ein Londoner aus der Mittelklasse hat zur Zeit von "Bridgerton" im Schnitt eine Lebenserwartung von 44 Jahren, ein Arbeiter von nur 22 Jahren, also der Hälfte.
Wenn die Gesellschaft von "Bridgerton" wie die von heute sein soll, heißt das, dass wir wieder in feudalen Zuständen, in einer Oligarchie leben, die zwar vielleicht diverser aussieht, aber dafür ungleicher und unsolidarischer ist. Das passt zu der latenten Botschaft von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", dass Geschichte subjektiv ist, dass wir uns selbst schreiben, erfinden, für unsere Geschichte verantwortlich sind, egal wie weit wir runterkommen.
Keine Erinnerungen, keine Gemeinschaft, keine verbindliche Realität
Schon irre, dass "Bridgerton" der größte Hit der zweiten Welle war. Alle saßen in ihrer Isolation, schön abgeschottet, und fanden das unglaublich süß und romantisch, diese völlig isolierte, unempathische Superreichen-Gesellschaft, die sich nur um sich selbst und ihren Status kümmert. Es passt, dass dann gleich mit der Verfilmung einer Junkie-Biografie nachgelegt wurde, auch eine Art von Gesellschaft, die sich nur um sich kümmert. Diese Form der Unterhaltung wird von Leuten gemacht, die wahrscheinlich denken, wir würden in einer Art von neuem Regency leben, in einer eleganten Welt des Luxus und der Moden, wo alles möglich ist, wenn man zur herrschenden Klasse gehört. Nichts anderes wird uns in diesen aufwändigen Produktionen vorgeführt. Wer über die nötigen Mittel und Netzwerke verfügt, kann sich nach seinem oder ihrem Gusto einen Lustgarten bauen mit Junkies, schwarzen Adeligen, Ballroom-Königinnen und diversem Personal.
Dieser geradezu absolutistische Identitäts-Karneval hat einen Zweck. Es suggeriert in Zeiten der Isolation, dass wir sowieso alleine sind, dass es keine Geschichte, keine Erinnerungen, keine Gemeinschaft, keine verbindliche, alltägliche Realität gibt, auf die wir uns stützen können, um Kritik zu üben, unsere sozialen Ansprüche anzumelden. Es gibt nur unsere eigenen Träume, an denen wir unbedingt festhalten sollen. Er suggeriert, dass wir uns den nötigen Status, die richtigen Looks und Einrichtungen verschaffen müssen, um uns zu transformieren und selbst zu finden.
Nicht umsonst sehen "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", "Das Damengambit" oder "Bridgerton" wie endlose Fashion- und Design-Shows aus, bei denen die Ausstattung selbst die Hauptrolle spielt, jede Phase der Verwandlung markiert. Das Diversity-Feuerwerk soll uns vor allem aber daran hindern, die ökonomischen und politischen Bedingungen dieser Industrie zu hinterfragen, die sich Subkulturen, marginalisierte Stimmen, Erzählungen von Emanzipation und Befreiung lediglich einverleibt, um sie zu homogenisieren und zu vermarkten. Am Ende des Tages hat post-faktisches Fernsehen nur eine Botschaft: Wer die Macht hat, schreibt die Geschichte.