Schach-Hype durch Netflix

Das Brett, das die Welt bedeutet

Die Netflix-Serie "Das Damengambit" hat einen weltweiten Schach-Hype entfacht, in dem das Spiel der Spiele plötzlich Clubnächte ersetzt. Man entdeckt eine faszinierende Welt, die sich durch die Digitalisierung neu erfunden hat

Mein persönliches Verhältnis zu Brettspielen ist gelinde gesagt sehr zwiespältig. Wenn jemand bis zuletzt von Spiele-Abenden mit Freund*innen sprach, roch ich in der Regel phantommäßig versüßten Rooibos-Tee und trockene Dinkelkekse und dachte an unerträgliche "Siedler von Catan"-Runden im evangelischen Jugendzentrum Anfang der 90er. Die Konkurrenz mit viel Henna im Haar, Norweger-Pullis und ausgebeulten Birkenstocks, und dazu eben kannenweise Rooibos-Tee. Kein Klischee.

Gott, wie ich das gehasst habe. Wenn gläubige Sozialpädagoginnen einem blitzkriegartig die Party versauen und das auch noch mediatorenmäßig weglächeln. "Gesellige" Spiele-Abende sind für mich der deutsche Inbegriff von Spießigkeit und Spaßbehinderung. "Risiko", "Monopoly", noch viel schlimmer "Tabu" oder "Activity". Eigentlich ist das alles zum Wegrennen.

Aber nun leben wir heute in einer anderen Welt. Einer Welt, in der zwei Freunde zum Essen vorbeikommen und sich plötzlich freuen, wenn es ein neues Brettspiel zu entdecken gibt. Was bleibt derzeit anderes übrig, als sich auf der Couch wund zu wälzen oder doch lieber in kleinen Runden zu spielen, neuen Input zu bekommen, auch mal sein Gehirn anzustrengen, wo doch ausschließlich saufen und die immer gleichen Gespräche führen auch nur ermüdend ist. Gibt ja nichts zu erzählen! Letztes Jahr noch schrieb ich für diese Kolumne über eindringliche persönliche Erfahrungen aus dem fernen Japan und internationale Automessen. Und nun so was hier. Aber so geht es ja den meisten gerade.

Dafür sieht man dieser Tage ziemlich hippe junge Pärchen im Karstadt am Hermannplatz, die fürs Wochenende statt Ketamin "Scrabble" in der Spielzeugabteilung kaufen, oder doch beides. Und man ertappt sich dabei, dass man selber in der gleichen Abteilung unterwegs ist – von wegen erwischt. Einer meiner Lieblingsläden derzeit ist der Spieleladen in der Körtestraße in Kreuzberg. Zwar rieche ich phantommäßig noch immer Tee, wenn ich dort hineingehe, aber das Personal ist kauzig nett und natürlich kompetent.

"Spielen wir das jetzt auch?"

Hier kaufte ich vor einiger Zeit ein seriöses Schachbrett und Figuren, und wir spielen seitdem zuhause tatsächlich Schach. Inspiration war wie für viele andere die sehenswerte Netflix-Serie "Das Damengambit". Wie mich meine Freundin mit leuchtenden Augen danach ansah: "Spielen wir das jetzt auch?" Seitdem setzen wir uns also mit Eröffnungen, Mittelspiel und Endspiel auseinander, und ich stelle immer wieder fest, wie sehr auch die Alltagssprache durch Schach-Termini geprägt wurde. Man denke nur an die Hängepartie, den Zugzwang, etwas en passant zu erledigen, die Patt-Situation in der Politik oder auch das Bauernopfer. Wie die Schmidts, sinnierte ich weinnippend distinguiert, nur ohne Menthol-Zigaretten.

Die fiktive Geschichte von Beth Harmon spielt im 20. Jahrhundert und ist nicht nur eine Reminiszenz an die Wunderkind-Vita von Bobby Fischer, sondern auch eine Ode an das analoge Schach. Ein Schach, das man mit Hilfe von Büchern und Sekundanten lernte und das für viele Jahrhunderte als ultimativer humaner Index für Intelligenz und mentale Grandezza galt. In den letzten 40 Jahren allerdings wurde wohl kein Sport derart durch Computer und Software "korrumpiert" wie das gute alte Schachspiel, bei dem man immer davon ausging, dass eine Maschine niemals einen Menschen in solch einer Disziplin schlagen können würde.

Bereits um 1770 erfand der ungarisch-österreichische Bastler Wolfgang von Kempelen den sogenannten "Schachtürken". Eine Apparatur mit einem vermeintlichen Roboter im Osmanen-Outfit, der jedoch durch einen kleinwüchsigen Schachmeister gesteuert wurde, der unter widrigen Umständen im stickigen Inneren der Kiste kauerte. Am Ende also alles nur Fake. "Mechanical Turk" ist unterdessen für digitale Crowdsourcing-Prozesse noch immer ein gängiger Begriff.

Wieso noch spielen, wenn man gegen eine dumme Kiste verliert?

Es brauchte weitere 200 Jahre, bis es für Schachgroßmeister allmählich und tatsächlich eng wurde. Und da Programmierer und Computer-Ingenieure im Silicon Valley oft selber begeisterte Schachspieler waren, lag es irgendwann nahe, diesen Kampf der Titanen zum PR-Tool schlechthin für die Computerindustrie zu machen. Das Engagement des PC-Giganten IBM ab Mitte der 90er, das viel Geld kostete, dafür aber umso mehr Publicity einbrachte, ist für diese Entwicklung exemplarisch.

Noch in den 80ern waren stationäre Schachcomputer von Firmen wie Mephisto für das heimische Wohnzimmer ein kostspieliges Hightech-Produkt. Einige erinnern sich vielleicht noch an die schimmernden Doppelseiten im Otto-Katalog, in denen die edlen Gadgets beworben wurden. Und auch die DDR entwickelte mit dem CM Diamond einen eigenen Schachcomputer, mit der ernsthaften Idee, Devisen damit beschaffen zu wollen. Erfolglos.

Die Computerisierung der Gesellschaft mit den ersten Personal Computern war aber im vollen Gange, und mit der wachsenden Prozessorleistung wurde schnell klar, dass Computer vielleicht nicht wissen, was die Schönheit eines Spiels ausmacht, dafür aber mehr als 200 Millionen mögliche Züge in einer Sekunde kalkulieren können, um dann 1997 Großmeister (GM) wie Garri Kasparow im legendären Kampf gegen Deep Blue endgültig schlagen zu können.

Deep Blue sorgte – nomen est omen – für einen harten, lange andauernden Blues in der Schachwelt. Wieso noch spielen, wenn man gegen eine eigentlich dumme graue Kiste verliert? Wie lässt sich da noch von Genie sprechen? Kasparow betont in Interviews, dass heute jedes Telefon ein Vielfaches von dem berechnen kann, was damals Supercomputer wie Deep Blue konnten. Dieser Kampf ist für immer verloren. Das letzte bekannte Spiel, in dem ein Mensch gegen einen Computer unter üblichen Turnierbedingungen gewann, war das Duell zwischen dem russischen GM Ruslan Ponomariow und dem Schachcomputer Fritz. Es fand am 21. November 2005 in Bilbao statt. "Heute ist das so, als würde man Usain Bolt gegen einen Ferrari im Wettrennen antreten lassen", erklärt Kasparow in seinen gefragten Keynotes. Dabei ist der Ferrari in dieser Gleichung ein handelsüblicher Laptop und kein wohnzimmergroßer Superrechner.

Wenn schon influencing, dann gerne so

Ein schlüssiger Vergleich. Denn heute treten im World Computer Chess Championship (WCCC) alle zwei Jahre Rennwagen ergo Schachprogramme mit ihren Mechanikerteams gegeneinander an. Und auch hier feiert das große Geld die schnellsten Erfolge. Der neue Lewis Hamilton im Segment ist seit Ende 2017 der von Google und DeepMind entwickelte Algorithmus AlphaZero. DeepMind entwickelte auch die Software AlphaGo, die 2016 den "Go"-Weltmeister Lee Sedol erstmalig im Battle man vs. machine in die Knie zwingen konnte. Das Besondere an AlphaZero: Der Algorithmus brachte sich das Spiel binnen gerade mal vier Stunden selber bei, nachdem es zunächst mit Regelwerk ausgestattet wurde und dann einfach gegen sich selbst spielte. Wer soll da noch mithalten?

Softwares und Engines wie Komodo und Stockfish sind für Profis aber auch zu unumgänglichen Trainings-Tools geworden, was das Spiel in der Weltspitze wiederum sehr eng gemacht hat. Und derzeit boomt die internationale Schach-Community. Hobby-Spieler*innen eröffnen sich durch unzählige Twitch-Livestreams von Großmeistern, Online-Trainingsplattformen und intelligente Spielanalysen von Schach-YouTubern komplexe und großartige Wissenswelten zu dem königlichen Spiel, von denen Beth Harmon wohl nur hätte träumen können.

Weltstars wie Magnus Carlsen und Hikaru Nakamura spielen online gegen Fans, und man lernt die sonst stillen, weiß bekragten Maestros als nahbare, echt normale, aber ziemlich brillante Millennial-Typen kennen. Wenn schon influencing, dann gerne so. Brettspiele sind zum neuen Club geworden. Und es ist eine Community, die unglamouröser und nerdiger nicht sein könnte. Aber irgendwie erdet das, und man hat den Gewinn, mit jedem weiteren Spiel gegen Freund, Freundin oder Computer persönliche Fortschritte zu machen und Erfolgserlebnisse zu haben, welche bekanntlich ebenfalls rar geworden sind.

Die Schachwelt hat sich durch die Digitalisierung neu erfunden. Sie ist zugänglicher, jünger und dieser Tage – ob aufgrund des Mangels anderer Unterhaltungsalternativen oder nicht – irgendwie fast hip. Als wir vor einigen Wochen zu viert in der Küche ein spontanes Blitzturnier spielten: Die Luft verraucht und nass nach Wein und Whiskey riechend, ließ es sich fast an wie in der Serie, als das Team um Beth in Bennys New Yorker Ranzbude engagiert Strategien erarbeitete und trainierte. Ein dezenter Hauch von Hollywood. Es war eine analoge, aufregende, entkoppelte und total spannende Erfahrung. Allerdings brauchten wir für das Spielen von Blitzschach eine Schachuhr, fanden zum Glück jedoch schnell eine passende App – fürs Smartphone natürlich.