Dieser Text ist ein bisschen schlecht gealtert. Als ich die ursprüngliche Version dieser Kolumne vergangene Woche geschrieben habe, hatte zwar die Regierung bereits entschieden, dass die Museen im November schließen müssen, aber die Debatte über Sinn und Zweck dieser Entscheidung lief noch nicht. Laut einer Umfrage von Monopol herrscht in der deutschen Bevölkerung Uneinigkeit darüber, ob die Schließung der Museen als Teil der Anti-Corona-Maßnahmen gerechtfertigt ist. 47 Prozent halten die Schließung für falsch, 44 Prozent finden sie richtig. 35 Museumsdirektor*innen haben sich mit einer Stellungnahme zu Wort gemeldet und die Politik aufgefordert, die Entscheidung zu überdenken. Museen "könnten ihr kulturelles Angebot auch in Zeiten der Pandemie unter Wahrung aller nötigen Regulierungen aufrechterhalten", sie würden mit zu den "sichersten Orten" zählen.
Carsten Brosda, der Senator für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg, hat in einem Gastbeitrag in der "Zeit" kritisiert, dass Gottesdienste weiter stattfinden dürfen, Museen aber schließen müssen. "In säkularen Gesellschaften suchen Bürgerinnen und Bürger schließlich längst nicht mehr nur in Kirchen, Moscheen oder Synagogen nach Sinn und Trost, sondern vielfach auch in jenen Kulturorten, die jetzt im November wieder geschlossen sind. Nicht wenige finden Sinn am Samstagabend in der Theaterpremiere oder am Donnerstagabend in einem neuen Kinofilm – und sie schaffen hier ebenso viele Anlässe, über Wohl und Wehe unserer Gesellschaft nachzudenken und zu diskutieren, wie diejenigen, die dies am Sonntagvormittag in einem Gotteshaus tun", schreibt er.
Was in dieser Debatte bisher keine Erwähnung findet: Kunst und Kultur können auch online erlebt werden, das haben beispielsweise Theater und Museen im ersten Shutdown unter Beweis gestellt. Der Pianist Igor Levit, um nur ein Beispiel zu nennen, hat ab Mitte März täglich ein Hauskonzert über Twitter gestreamt, die Views waren bei 25.000 bis 35.000. Er selbst sagte im Interview mit dem "Tagesspiegel": "Diese Hauskonzerte waren die Rettung für mich und haben mich vor der ersten Panik bewahrt."
Im Kontext dieser Diskussion wirkt die untenstehende Äußerung von Peter Weibel, Kunst müsste nicht real erlebt werden, unverhältnismäßig radikal. Aber sie zeigt, dass es zwei Lager gibt: Auf der einen Seite stehen die Bewahrer des realen Raums und auf der einen Seite die Promoter des digitalen Raums. Vielleicht ist es an der Zeit, dass man sich in der Mitte trifft, denn das Publikum ist überall: offline und online.
Das Publikum ist überall: online und offline
Im Interview mit Monopol sprach Weibel vor einigen Wochen über Kunst im Digitalen, über virtuelle Ereignisse und Nähe im Museum. "Wir leben schon lange in einem Online-Universum", sagte er, das virtuelle Ereignis dominiere das reale. Musik müsse er nicht live hören, er habe beispielsweise nie das Bedürfnis gehabt, die Beatles live zu sehen. Nun gut, das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, da ich schon allein meine Lieblingsband Silverchair über 25 Mal live gesehen habe. Wenn Daniel Johns nicht so eine stage fright hätte und mehr als ein Mal im Jahr live in Australien spielen würde, wäre ich sicher mittlerweile auf 250 Konzerten gewesen oder so. Und hallo, die Beatles?!? Aber um Musik soll es hier nicht gehen.
Peter Weibel also sagt, dass man Musik nicht real hören müsse, das würde auch für die Kunst gelten. Kunst müsse man nicht real sehen. Seine Begründung: "Im Museum, wo sich Leute vor den Bildern drängeln, die sich gegenseitig nicht kennen und sich gegenseitig nur auf die Nerven gehen, wird – wie im Konzertsaal oder Theater – eine Nähe beschworen. Diese Nähe ist eine fiktive, von der Massenindustrie erlogene. Sie dient bloß dem Zweck, möglichst viele Besucher im Museum, im Theater oder Konzertsaal zu haben. Doch diese Fiktion geht nun zuende." Sein Lösungsvorschlag: "Wir müssen begreifen, dass nicht Nähe das Heilmittel für die Kultur ist, sondern Distanz – also telematischer Kulturgenuss."
Und wie kommen wir da hin? Oder besser gesagt, wie kommen die Museen da hin, die ja die digitalen Angebote liefern sollen? "Als Museum im digitalen Raum muss man nicht versuchen, das bessere Fernsehen zu sein, denn das ist Netflix. Man muss also versuchen, das bessere Netflix zu sein." Man müsse Angebote schaffen, die im Netz einzigartig seien, aber auch das Publikum beteiligen. Als Beispiel bringt er ein digitales Interview-Event, wie er es nennt, mit Gerhard Richter, bei dem man ihm direkt Fragen stellen kann. Jetzt bin ich verwirrt. Denn hier geht es nicht um Kunst, sondern um Kunstvermittlung. Und es geht irgendwie um Instagram-Livestreams und damit um ein Format, das so gut funktioniert, weil plötzlich eine Nähe da ist.
"Partizipation it is"
Aber ja, ich gebe Peter Weibel eigentlich natürlich recht, also minus die Sache mit den Beatles und minus den Vergleich mit Netflix. Und auch minus das mit der Nähe. Partizipation it is. Museen müssen die besseren sozialen Medien werden. Und das nicht mit Blick auf die Vermittlung von Kunst in den sozialen Medien, denn das klappt mittlerweile recht gut, wie wir seit dem ersten Lockdown wissen. Kunst im Digitalen muss auf Partizipation und Interaktion setzen. Denn durch die sozialen Medien sind wir alle daran gewöhnt, miteinander zu interagieren, uns auszutauschen und Erlebnisse zu teilen. Berieselung à la Netflix ist großartig, selbstverständlich. "Emily in Paris" geht sicherlich auch seit Wochen so durch die Decke, weil man vor dem Bildschirm sitzt und einfach nur zuschaut, wie Emily betrunken vor Liebe zu Paris, ihrem Job und den Menschen durch die Stadt taumelt und in Über-Klischees badet.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich jedenfalls überlege nicht, ob ich Netflix schaue oder ins Museum gehe. Buch oder Netflix, das ist für mich die Frage. Und wenn ich mir online eine Ausstellung ansehe, möchte ich das nicht unbedingt allein machen. Ich möchte Freunde und andere Menschen online in einer Ausstellung treffen können. Das geht nicht nur mir so. Wo man auch hinschaut, werden seit einiger Zeit Anstrengungen unternommen, Menschen in Online-Ausstellungen zusammen zu bringen. Der Grund ist denkbar einfach. Angela Merkel hat vor einigen Tagen in einer Rede im Bundestag zur aktuellen Corona-Lage die Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim zitiert und mit ihrer Aussage begründet, warum der Kampf gegen das Virus solch eine Kraftanstrengung für jeden ist: Menschen sind soziale Wesen. Menschen können nicht ohne soziale Kontakte leben. Warum also sollte ein Ausstellungsbesuch online nicht auch den sozialen Kontakt ermöglichen? Offline ist das ja schließlich auch so. Gerade in diesen Tagen verabreden sich viele Menschen, um gemeinsam noch schnell eine Ausstellung zu besuchen, bevor die Museen wieder für vier Wochen schließen müssen.
Das Publikum ist schon da
Weibel sagte, ich zitiere noch einmal: "Im Museum, wo sich Leute vor den Bildern drängeln, die sich gegenseitig nicht kennen und sich gegenseitig nur auf die Nerven gehen, wird (…) eine Nähe beschworen." Nun ja, in den sozialen Medien, besonders auf Instagram und Twitter, kommt man tagtäglich mit Menschen in Kontakt, die man nicht kennt. Und deshalb werden auch Videospiele wie "Animal Crossing", "Fortnite" und "Minecraft" häufig als digitale Ausstellungsräume genutzt. Das Publikum ist schon da. Und das Publikum trifft sich online, um gemeinsam eine Ausstellung zu besuchen. In "Animal Crossing" muss man sich tatsächlich so richtig verabreden.
Man muss sogar eine kleine Reise antreten, wenn man Kunst sehen will. Das klingt jetzt für jeden, der noch nie "Animal Crossing" gespielt hat, vermutlich furchtbar seltsam. Jetzt muss man wissen, dass man im Spiel auf eine einsame Insel zieht, die nicht ganz so einsam ist, weil man einige Mitbewohner*innen hat und weil der Inselchef Tom Nook mit seinen beiden Neffen Nepp und Schlepp den Alltag auf der Insel regelt. Man baut ein Haus und bewirtschaftet die Insel. Man stattet ein Museum mit Fossilien, Kunstwerken etc. aus und man kann das eigene Haus als Galerie nutzen. Wenn man jemanden auf einer anderen Insel besuchen möchte, muss man ins Flugzeug steigen und sich den Ankunftsflughafen von der Person öffnen lassen, die man besucht. Am Flughafen wird man bereits erwartet.
Der Künstler Simon Denny hat seine Solo-Show "Mine" im K21 in "Minecraft" reproduziert. In Düsseldorf war ich allein im Museum, in "Minecraft" war ich gemeinsam mit dem Künstler Aram Bartholl.
Die Ars Electronica hat sich dieses Jahr mit Mozilla Hubs für eine Social-VR-Plattform entschieden, da das Festival für digitale Kultur vor Ort in Linz nur in sehr kleinem Rahmen stattfinden konnte. Mozilla Hubs ist aktuell der place to go, wenn man online unkompliziert, schnell und mit einfachen Mitteln eine Ausstellung bauen möchte, in der Menschen zusammenkommen können. Man kann sich entscheiden, ob man sein Mikro an- oder ausschaltet. Und man kann ein VR-Headset nutzen, man muss aber nicht. Wer hat denn auch ein VR-Headset zu Hause?
Nächste Woche bin ich mit Claudia Hart, eine der Pionierinnen der Medienkunst, in ihrer Solo-Show "Ruins" verabredet. Die Berliner Galerie Office Impart hat in den vergangenen Tagen auf einer Website die Gruppenausstellung "Come Closer" eröffnet. Es wurde zum Opening mit Online-Führungen geladen. Ich musste aus Zeitgründen leider absagen. Prompt kam die Nachricht von Anne Schwanz: "Ja, aber heute wird es gut, weil man die anderen Besucher*innen sieht und weil man sich miteinander unterhalten kann." Bevor man die Ausstellung betritt, gibt man einen Nutzernamen in ein Feld ein, dann taucht man als bunter Punkt auf der Website auf. Wenn man sich einem anderen bunten Punkt, also einem anderen digitalen Besucher nähert, geht das Mikrofon an und man kann sich miteinander unterhalten.
Ich selbst habe gemeinsam mit Johann König für die König Galerie die Einzelausstellung "Exercise in Hopeless Nostalgia" des britischen Künstlers Thomas Webb kuratiert. Zum Opening kamen an einem Freitagabend Mitte August knapp 5000 digitale Besucher*innen. Weibel hätte das sicherlich ein Gedrängel mit vielen Unbekannten genannt, aber gerade das war es, was die Leute in das "World Wide Webb" – kein Typo – gezogen hat. Das Versprechen, online so spontan zusammenkommen zu können, wie es vor Corona möglich war. Webb hat ein Multiplayer Game in 2D gebaut, das mit der König Galerie einen Ausstellungsraum hat, in dem digitale Werke in ihrer natürlichen Umgebung zu sehen sind. Es gibt mit Berlin, Osaka und Kanagawa drei Städte, in die man mit dem Zug kommt. Es gibt eine Bar, einen Club, ein Café, ein Dojo, eine Schule, Wohnhäuser und Geschäfte. Und Berlin wäre nicht Berlin ohne das Berghain. Am Eröffnungsabend standen immer gut 20 bis 30 Leute in der Schlange und haben auf Einlass gehofft.
Wenn Facebook das Social-VR-Projekt Horizon irgendwann einmal launcht, wird all das womöglich in 3D stattfinden. Der Alphatest läuft seit über einem Jahr, für den Betatest kann man sich bewerben, allerdings braucht man dafür eine Oculus Rift oder eine Oculus Quest. Die Künstlerin Paige Dansinger ist Alphatesterin und hat in ihrer Welt bereits ein Museum eröffnet und ein Studio eingerichtet.
Jetzt kann man natürlich sagen, was soll man mit all dem? Museen gibt es, damit man ins Museum geht. Keine Frage. Aber es gibt auch den digitalen Raum, damit man ihn nutzt. Das Victoria & Albert Museum in London hat erst vor wenigen Tagen zu einer VR-Preview der Ausstellung "Alice: Curiouser and Curiouser" eingeladen, die nächstes Frühjahr eröffnet. Die Teilnehmer*innen haben vor der Veranstaltung eine App heruntergeladen, in der ein Avatar erstellt werden musste. In der Virtuellen Realität trafen die Teilnehmer*innen dann auf die Kuratorin Kate Bailey, die in die Ausstellung eingeführt hat.
Wie Peter Weibel sagt: "Die Museen werden natürlich noch Ausstellungen machen und interessierte Leute gehen da weiter hin. Aber das wird nicht genügen. Wenn sie in der kommenden Ferngesellschaft bestehen möchten, müssen sie auch Angebote machen, die 'fern-tauglich‘ sind." Und das bedeutet, dass es nicht genügt, eine Ausstellung in 3D zu reproduzieren und auf die Museumswebsite zu stellen. 3D-Touren sind die Postkarten des digitalen Zeitalters.