Tarek Atoui, Sie sind gerade in Kassel und bauen Ihre Soundinstallation "Water’s Witness" im Fridericianum auf. Der Ausstellungsraum wird ja immer als wichtiger Faktor angeführt. Aber als Soundkünstler nimmt er für Sie eine ganz elementare Rolle ein, oder?
Grundsätzlich ja. In dieser Ausstellung wird es aber noch ein bisschen anders sein als sonst, denn ich werde Sound in Metall und in großen Marmorsteinen verwenden, der Raum befindet sich also quasi innen. Durch diese Konstellation mussten wir noch einmal ganz neu denken und ausprobieren. Ich werde also zum Beispiel keine regulären Lautsprecher nutzen wie sonst. Aktuell experimentieren wir noch, wie das am besten funktioniert. Es ist vor allem ein Arbeiten mit dem, was das Material einem gibt. Wie man aus diesem Material Sounds extrahieren kann, wie man mit ihm und aus ihm heraus Sounds komponieren kann.
Grundlage der Installationen werden sogenannte "Soundscapes", Klanglandschaften von Häfen sein, die Sie seit einigen Jahren in aller Welt aufnehmen. Wann und warum haben Sie mit dem Sammeln begonnen?
Das hat ganz intuitiv angefangen. Ich wollte den Sound dieser Städte einfangen, die aus Häfen geboren wurden. Wo der Hafen reflektiert, was sich rund um ihn herum entwickelt hat. Angefangen habe ich vor fünf Jahren. Nach und nach sind so Gemeinsamkeiten und Unterschiede zusammengekommen, aber auch Materialien aus den Häfen. Dies alles kehrt nun in dieser Ausstellung zurück: Der Marmorstein beispielsweise geht zurück auf den Hafen von Athen, aus den Innenräumen eines massiven, griechischen Tempels. Der Stahl geht zurück auf den Hafen von Abu Dhabi, er hat sehr merkwürdige und interessante akustische Eigenschaften. Es ist gewöhnlicher Standard-Konstruktionsstahl, wie man ihn in Abu Dhabi in riesigen Mengen verwendet – das Baugeschehen dort ist bekanntlich sehr aktiv.
Gibt es einen bestimmten Bezug zur Stadt Kassel – abgesehen vielleicht von der Athen-Verbindung, die auf der letzten Documenta eine Rolle spielte?
Geografisch gesprochen, ehrlich gesagt, nicht. Aber tatsächlich spielte Kassel für mich 2012 eine wichtige Rolle, und das war auch während einer Documenta. Damals habe ich eine ganze Weile in der Stadt verbracht. Ich kam sechs Monate vor der Ausstellung, habe viele Leute kennengelernt, und diesen Ansatz, mit dem ich heute arbeite, entwickelt. Ich glaube, Kassel war erst die zweite Station nach Sharjah, an der ich diese Methoden ausprobiert und genutzt habe.
Zwischenzeitlich haben Sie neben Soundperformances auch ganze Sets an Instrumenten entwickelt, teils in Zusammenarbeit mit gehörlosen Menschen. Einen Teil der Ausstellung werden die sogenannten "Tables of Content" darstellen, mit dem Sie Ihr Publikum einladen, selbst Teil der Komposition zu werden. Wird das angesichts der Corona-Auflagen überhaupt möglich sein?
Ja, absolut! Das Publikum kann sich zu Workshops anmelden und wird dann von meinem Team oder auch mir selbst begleitet. Später werden Mitarbeiter des Fridericianums die Workshops anleiten. Die "Tables of Content" sind Teil dieses Vorschlags, den ich in der Ausstellung mache – hier von Experiment, Bildung und Vermittlung der Prinzipien, auf denen die Arbeit basiert. Es sind Zusammenstellungen, die ich aus früheren Instrumenten konzipiert habe. Und sie sind so gestaltet, dass mehrere Leute gleichzeitig zusammen spielen können – egal ob Anfänger oder Profis, gehörlos oder hörend.
Und dann?
Ich mag offene Stimmungen, die ein Spielen in total intuitiver Weise ermöglichen. Folglich ist das, was da herauskommt, Klang in einer wirklich rohen, primären Weise. Das ist für mich die Kraft von Sound – wenn es vibriert, man ihn spüren kann, in unmittelbaren Kontakt zu ihm kommen kann. In den Räumen, die ich kreiere, geht es nicht um einen einzelnen Weg des Zuhörens. Es geht um viele Möglichkeiten, Sound zu erfahren: durch das Auge, die Ohren, den gesamten Körper. Jeder Einzelne kann also sein ganz eigenes Hörerlebnis in diesem Raum erschaffen. Die Arbeit mit gehörlosen Menschen hat mich gelehrt, Situationen zu kreieren, die verschiedene Zugangsweisen zugleich ermöglichen. Wir sind alle auf eine bestimmte Weise taub. Unsere Beziehung zu Sound ist, im Gegensatz zum Bild, sehr intim. Nicht umsonst schließen wir oft die Augen, wenn wir zum Beispiel Musik hören.
Gleichzeitig wohnt den von Ihnen mitkonstruierten Instrumenten oft auch eine große ästhetische Anziehungskraft inne. Wenn man sich diese Kontraptionen anschaut, will man sofort ausprobieren, wie man sie verwendet, wie man sie zum Klingen bringt.
Ja, natürlich ist die Ästhetik des Instruments ein wichtiger Teil der Einladung, es auch zu spielen. Sorgsam mit ihm umzugehen. Ich habe allerdings auch Instrumente, die sehr grob aussehen. Jedes Projekt hat seine spezifische Ästhetik. Generell ist es mir aber wichtig, dass alle Instrumente ansprechend und schön aussehen. Nicht wie Prototypen, sondern wie etwas, das man tatsächlich spielen kann und soll. Darüber hinaus haben sie alle ein Eigenleben – sie sind nicht mein Eigentum. Wenn ich an Instrumentenbauer herantrete, dann haben sie eine carte blanche, die Instrumente zu produzieren, an andere Leute zu verkaufen. Das ist es, was ich aufregend an dieser Arbeit finde: das Potential, dass sie in ganz andere Dimensionen und Formen fließen und dort weiter verbreitet werden kann.
Sie arbeiten mit vielen Menschen zusammen, nicht nur mit Instrumentenbauern, sondern auch mit Komponisten, Musikern oder wie hier mit dem Ausstellungspublikum oder dem Museumspersonal. Wodurch auch Sie selbst immer wieder unterschiedlichste Rollen einnehmen.
Genau, für mich ist ein Projekt dann gut, wenn viele meiner Fähigkeiten zum Tragen kommen, als Komponist, Künstler, Computerprogrammierer - oder auch schlicht als menschliches Wesen. Am Anfang eines Projekts baue ich einfach etwas, um es anderen zu geben, ihnen Zugang zu ermöglichen. Manchmal bin ich Lehrer, manchmal Koordinator. All das ist Teil der Praxis. Sobald das Projekt entwickelt ist, beginnen all diese Dinge zu verschmelzen.
Welchen Anteil hat die elektronische Musik für Sie gespielt, die ja schon in ihren Ursprüngen eine höchst experimentelle Angelegenheit darstellt?
Das ist eine gute Frage! Denn tatsächlich komme ich gewissermaßen von dort. Als ich damals nach Paris gezogen bin, habe ich elektroakustische Musik studiert und viel in diesem Feld gearbeitet. Es gibt aber für mich keinen Unterschied zwischen Algorithmus und dem Organischen, zwischen digital und analog. Für mich hängt alles miteinander zusammen. Es kommt nur auf die Betrachtungsweise an, wie man zum Beispiel den Klang eines Wassertropfens beschreibt – letztlich ist auch dieser ein elektrisches Signal.
In einem Interview von 2019 haben Sie erklärt, noch immer keine Definition von Sound geben zu können. Und tatsächlich beschreibt das Wort, ähnlich zur Farbe, ja beides: die physikalischen Wellen, die Klang kreieren, und die Weise, wie diese als Sound im Körper und Gehirn wahrgenommen werden. Und das ist wieder abhängig voneinander. Sind Sie einer Definition inzwischen nähergekommen?
Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich fühle mich sehr demütig gegenüber diesem Phänomen … Es ist etwas, das man nicht beschreiben kann. Wenn du versuchst, es zu fassen, wird es dich immer wieder austricksen. Der beste Weg ist daher meiner Meinung nach: Zu genießen, wie man Sound in seinen mannigfaltigen Aspekten entdecken und erleben kann. Vielleicht werde ich irgendwann einmal eine Antwort darauf haben. Aber jetzt aktuell bin ich nicht derjenige, der erklärt, was Sound ist oder was er sein soll.