Das safeword lautet "Tatsache". Sollte sich ein Unfall ereignen, instruiert uns ein Mann in orangefarbener Warnweste, sind wir angehalten, es laut zu rufen, um einer Verwechslung von Realität und Simulation vorzubeugen. Es ist der Tag der Brandschutz- und Räumungsübung am Flughafen BER, immerhin die größte Flughafen-Sicherheitsübung Berlins, und die Stimmung ist aufgekratzt. Ich gehöre ebenso wie die 800 Komparsen um mich herum zu den ersten Personen, die den Berliner Katastrophenflughafen betreten, dessen Eröffnung irgendwann einmal 2012 stattfinden sollte.
"Machen Sie gerne Selfies", beendet der freundliche Herr seine Ansprache. Wir sind heute alle Mikroinfluencer, eingeladen in der Hoffnung, dass unsere wohlwollenden Insta-Posts den angeknacksten Ruf des Flughafens geraderücken. "#BERtesten" steht auf der Atemschutzmaske und auf der an einem Schlüsselband befestigten Scheckkarte, die bescheinigt: "Ich war dabei!" Beide Objekte liegen bereit in der mit dem Slogan "#Zugkunft" bedruckten Goodie-Bag, die uns gemeinsam mit einem wahlweise vegetarischen Lunchpaket als Aufwandsentschädigung ausgehändigt wurde. In der versprochenen “Zugkunft" wird esReisenden ab Eröffnung des Flughafens möglich sein, direkt mit der S-Bahn anzureisen und das Flughafengebäude vom Gleis aus zu betreten. Ganz wie in einer richtigen Großstadt.
Ein Hinweisschild neben dem Desinfektionsmittelspender mahnt uns, die Flüssigkeit nicht auf den polierten Steinboden tropfen zu lassen. Einige Schritte weiter sind Münzen verschiedener Währungen in die Bodenplatten eingelassen, deren Anordnung Sternenkonstellationen der südlichen und nördlichen Hemisphäre nachempfunden ist. Das Kunstwerk am Bau stammt von Cisca Bogman und Oliver Strömer. "Wenn der Flughafen eines Tages eröffnet und wieder viel von Geldverschwendung die Rede sein wird, werden Kamerateams hier die perfekten Symbolbilder finden“, scherzte Ströber bereits 2014 gegenüber der "Welt".
Plötzlich wirkt Tegel zeitgenössischer: Am Gepäckband
Selbst ohne acht Jahre Verzug hätte der BER kaum auf den Konnotationswandel des Flughafens reagieren können, den dieses Jahr mit sich gebracht hat. Als ich mich im Januar für den Probebetrieb anmeldete, stand der Begriff "Flugscham" noch nicht im Duden, Mund-Nase-Masken waren an deutschen Flughäfen eine Rarität. Im Angesicht der Pandemie wird plötzlich der Flughafen Berlin-Tegel, der acht Tage nach der BER-Eröffnung am 31. Oktober seine Türen schließen wird, zur zeitgemäßeren Transitzone, beugen seine dezentralen Check-Ins doch der Ansammlung großer Menschenmassen vor.
9:30 Uhr, es geht los. "I’ll make a cup of coffee for your head / I’ll get you up and going out of bed," säuselt es aus den Lautsprechern, während wir uns für die Sicherheitsübung mit Gepäck eindecken. Auf den Fließbändern zirkulieren Rollkoffer, drumherum stehen in kleineren Gruppierungen zusätzliche Bagagen bereit, jede einzelne von ihnen markiert mit einem gelben Kreuz. Von den knallpinken und grünen Hartschalenkoffern gibt es zu viele, als dass es sich bei ihnen um irgendwann einmal verwaiste Gepäckstücke aus der Reiserealität handeln könnte. Objekte wie die mit rosa Hibiskusblüten dekorierte Rollsporttasche hingegen suggerieren entweder eine komplett randomisierte oder eine sorgfältig durchdachte Auswahl aus einem bunten Haufen an Fundsachen. Ich entscheide mich für einen der pinken Koffer, meine Begleitung Nikolas Brummer bleibt gepäcklos, er will beide Hände zum Filmen frei haben.
Während seines Auslandssemesters in Israel, wo Taschenkontrollen zur Tagesordnung gehören und Metalldetektoren das Stadtbild ebenso sehr prägen wie Straßenlaternen, setzte sich Nikolas intensiv mit dem kontroversen Begriff "Security Theater" auseinander. Gemeint sind mit dem Ausdruck Akte der Sicherheitsprüfung, deren Ausübung mehr zur Erhöhung der empfundenen denn der tatsächlichen Sicherheit dient – Personenkontrolle als performative Praxis. Bei einer Gallery Weekend-Gruppenausstellung letztes Jahr stand er am Eingang der Vierten Welt am Kottbusser Tor, stellte den Gästen mit autoritärer Stimme Fragen nach ihrer mentalen Verfassung und beäugte kritisch ihre Handflächen, bevor er ihnen Einlass gewährte. Viele von ihnen wähnten sich in einer Clubschlange. Die Assoziation der Türpolitik liegt näher als jene der Sicherheitskontrolle im Vergnügungspark Berlin, der mit Attraktionen wie den niedlichen und so gar nicht menschenscheuen Wildschweinen am Teufelssee und dem Kunst- und Sehnsuchtsort Berghain expats und Partytouristen gleichermaßen anzieht. Auf also an den Flughafen, wo die Fronten klarer sind.
Feueralarm: Mit "It's Raining Men" durch den Monsun
Mit unseren neongrünen Warnwesten schieben wir Komparsen uns durch Labyrinthe aus Absperrbändern und Plexiglas-Schleusen, an denen uns Filterkaffee aus Pappbechern ausgehändigt wird. Zu sehen bekommen wir zunächst eine der Hallen im Untergeschoss, die so aussieht wie alle Untergeschoss-Hallen deutscher Flughäfen: Schwarze Sitzbänke, kalter Steinboden, Hängedecken aus perforiertem Metall, die den Blick freigeben auf Kabel und Rohre. Der Rolltreppenaufgang erlaubt den Blick hinauf ins lichtdurchflutete Terminal. Mich erreicht die Nachricht meiner Freundin Imke Gerhardt, ein von ihr verfasster Essay über Flughäfen: "Die Architektur der Moderne, die die Fassade als Bühne der Bedeutungskonstruktion, als applizierte Ideologie kritisiert und ihre Offenlegung verlangt, fordert eine ehrliche Architektur. Aufdeckung der Konstruktion, bestenfalls Preisgabe des Inhalts oder zumindest der Funktion."
Die unentwirrbarre Verstrickung von Realität und Simulation bleibt aus. Ein Alarm ertönt und wir trotten in Reih und Glied durch die uns zuvor ausgewiesenen Notausgänge auf den Flughafenvorplatz, wo wir zur allgemeinen Verstimmung dem Regen ausgesetzt sind. Warten auf die Ankunft der Feuerwehr, dann kurze Verpflegungspause. Mehr Feueralarm-Probe im Schulgebäude als Simulakrum der Katastrophe. Zur Erhellung der Stimmung läuft erst "It’s Raining Men", dann "Durch den Monsun", dann "Singin’ in the Rain", dann gehen der für die Playlist verantwortlichen Person die Regen-Referenzen aus.
Zweite Runde, diesmal müssen wir uns vom Bahngleis auf den Vorplatz bewegen und dabei zunächst versuchen, ins Gebäude vorzudringen, das im Ernstfall voll von Kohlenmonoxid wäre. Ein einzelner Sicherheitsbeamter kommt die Treppe heruntergelaufen, bittet mich, umzukehren und den Notausgangschildern zu folgen, ich nicke, kehre um, ein Meer an grünen Westen folgt mir. Die kollektive Masse unserer Körper wirkt wie eine anachronistische Last. Ich werde das Gefühl nicht los, dass man das Verhalten großer Menschenmengen in Paniksituationen mit einer digitalen Simulation genauer und virenfreier abbilden könnte.
Terminal: Unter Pae Whites Wolke
Als finales Highlight geht es schließlich in den Eingangsbereich des Flughafens, wo wir unsere Koffer abgeben und umherstreifen dürfen. Einzelne Check-In-Inseln innerhalb der gläsernen Halle sind abgeschirmt von dunklen Holztrennwänden, bleiben jedoch von einer höher gelegenen Glasempore aus einsehbar. "lllusion der Durchlässigkeit, des uneingeschränkten Zugangs, der Freiheit", schreibt Imke, "vielmehr Kontrolle, Identifikation, Überwachung." Weit über uns schwebt an transparenten Schnüren befestigt Pae Whites "Magic Carpet Ride". Die aus insgesamt 12 Kilometer rotem Aluminiumband gewobene Struktur der kalifornischen Künstlerin ist vom fliegenden Teppich des israelitischen Königs Salomo inspiriert; ähnlich wie das Mobile, das Alexander Calder 1957 im John F. Kennedy-Flughafen installierte, schwingt sie sanft, bewegt von durch Menschen und Klimaanlagen erzeugten Luftzügen.
Der Kunsthistoriker Jan von Brevern bezeichnet Werke wie jene Whites und Calders als ambient art, in Anlehnung an das Musikgenre, dem Brian Enos Album "Ambient I: Music for Airports" 1978 erstmals einen Namen gab. In seinem Text "Kunst am Flughafen" beschäftigt er sich mit der besonderen Form der orstsspezifischen Skulptur, die ähnlich wie Enos tatsächlich für Flughäfen komponierte Musik zwar zur aufmerksamen Betrachtung einlädt, jedoch ebenso gut als Hintergrundberieselung funktioniert. Mit ihrer Ausrichtung auf den im Vorbeigehen beobachtenden Betrachter erkennt van Brevern die oftmals kinetische ambient art als sinnbildliche Kunstform des mobilen Zeitalters.
Erschöpft vom Umherschleppen meines zwecks realistischem Gepäckgewicht mit fremder Kleidung gefüllten Koffers und ein wenig enttäuscht darüber, dass wir nicht weiter ins zollbefreite Herz des Flughafens vordringen durften, nicht die Sicherheitskontrollen durchlaufen haben, für die Nikolas und ich ja eigentlich hier sind, blicke ich hinauf zu Whites fliegendem Teppich. Fliegen als märchenhafter Zauber, ein Bild aus einem fortrschrittseuphorischen Zeitalter, das ich selbst nie erlebt habe.
Die unwiderruflich verloren geglaubte Faszination des "Jet Age"
Meine ersten bewussten Flughafen-Erinnerungen stammen aus den frühen 2000er-Jahren. Als Kind liebte ich die Plastikwannen, in die wir unser Handgepäck legten, die Röntgengeräte, die piependen Tore und Zauberstäbe. Später verstand ich, dass diese Rituale dazu dienen, Attentaten vorzubeugen, noch einige Jahre später, dass sie eine Rahmenhandlung schaffen, in deren Verlauf bestimmte Personengruppen gezielt herausgefiltert und einer genaueren Untersuchung unterzogen werden. Heute denke ich am Flughafen an Terrorismus, Racial Profiling und schmelzende Polarkappen.
In Van Breverns Aufsatz gibt es eine aus der Froschperspektive aufgenommene Fotografie von Alexander Calder, der zu seinem frisch installierten Mobile im JFK-Terminal hinaufblickt. Über ihm grazil ausbalancierte Metallelemente, Glas und majestätische Weite. Wie Imke herausarbeitet, sind Flughäfen "immer auch Gradmesser des nationalen Fortschritts." Befreit von konkreter Machtsymbolik bleiben sie auf ewig verhaftet in der Moderne. Über 60 Jahre, nachdem die Fotografie entstand, wähne ich mich, ähnlich wie Calder, in einer minimalistischen Kathedrale. Damals wie heute suggerieren klare Formen und glatte Materialien reibungslose Zirkulation, verschwenderische Weiten erzeugen ein Gefühl der akzelerierten Erhabenheit.
So offenbart sich bereits hier im Terminal der Grund, warum wir alle uns heute Morgen Warnwesten und Mundschutzmasken übergestreift haben und ohne die Absicht, in ein Flugzeug zu steigen, angereist sind. Neben dem Wunsch, einen Blick darauf zu erhaschen, was hier denn jetzt eigentlich so verdammt lange gedauert hat, ist es auch die Nostalgie für eine Zeit, in der Fliegen ein Ereignis war und Flughäfen Sehnsuchtsorte, für die eigene Musikgenres erfunden wurden. Ohne Ziel, ohne die Omnipräsenz von Überwachung und Kontrolle, kann die Architektur des Terminals ihre intendierte Wirkung entfalten. Und so entflammt zwischen uns Komparsen in jenen letzten Minuten, bevor wir das Gebäude wieder durch einen Nebeneingang verlassen, noch einmal die unwiderruflich verloren geglaubte Faszination des "Jet Age".