"Thawra!" Diesen arabischen Begriff rufen die Menschen immer wieder, während sie auf den Straßen Beiruts protestieren. Er bedeutet Revolution. Die Idee zu Lilian Mauthofers Bilderserie "Thawra" entstand, als Protestierende Downtown in der libanesischen Hauptstadt eine Kamera in der Hand der Fotografin entdeckten, als die sich durch die Menge schlängelte. Die Bilder zeigen unter anderem laute Frauen an der Frontline, maskierte Menschen auf den Dächern über Beirut, roten Rauch und Kinder mit der libanesischen Fahne. Es sind emotionale Momentaufnahmen des Protests für marginalisierte Gruppen, gegen das wirtschaftliche Ungleichgewicht und gegen Korruption. Nach der verheerenden Explosion in Beirut am 4. August hat sich die Lage im Libanon noch einmal dramatisch zugespitzt. Wir haben mit Lilian Mauthofer über ihre Arbeit und die Situation in Beirut gesprochen.
Lilian Mauthofer, vor einer Woche ereignete sich am Hafen in Beirut eine gewaltige Explosion durch die Lagerung hochexplosiver Materialien, die mindestens 165 Menschen das Leben kostete. 6000 Menschen wurden verletzt, hunderttausende obdachlos. Was wissen Sie über die derzeitige Lage?
Die Menschen räumen jetzt natürlich von morgens bis spät nachts auf. Aber seit ein paar Tagen gehen sie auch wieder auf die Straßen - mit sehr viel radikaleren Forderungen als vorher, die auch auf radikalere Antworten stoßen. Meine Freunde und die Menschen dort mussten bereits sehr viel mitmachen. Die Explosion führt zu einem Ausmaß der Krise, das man sich gar nicht vorstellen kann. Aber es passiert jetzt auch viel, und die Proteste werden weitergehen. Einige Politiker*innen im Libanon äußerten sich zur Explosion, "der Libanon sei schon zerstört worden und würde auch dieses Mal wieder wie ein Phoenix aus der Asche aufsteigen". Solche Aussagen frustrieren die Menschen im Libanon, da sie einfach nicht noch mehr einstecken können. Die Tatsache - oder Fahrlässigkeit -, dass die Regierung der Bevölkerung verschwiegen hat, wie nah sie an der Gefahrenquelle lebten, die die Explosion ausgelöst hat, würde bereits genügen, um richtig wütend zu sein.
Sie waren zu Beginn der "Thawra" im Oktober 2019 in Beirut. Welche Stimmung herrschte damals?
Am 17. Oktober gegen 17 Uhr haben die Proteste angefangen. Ich saß gerade im Taxi zu mir nach Hause. Ich konnte nicht schlafen, habe direkt die Aufregung gespürt und ging deshalb nachts noch mal raus. Auf den Straßen traf ich viele Menschen, denen es ähnlich ging. Schon am zweiten Tag hatte sich der Protest zu großen und friedlichen Zusamenkünften entwickelt, bei dem jede Generation vertreten war. Es gab Essensstände, Kinder spielten auf den Straßen. Nachts wurden die Proteste in Downtown Beirut unter Einsatz von Tränengas durch die Regierung beendet. Ich denke, dass die Proteste nach den ersten zwei bis drei Wochen radikaler wurden. Die Polizei hat mehr Mauern auf den Straßen errichtet und viele Menschen verhaftet.
Haben Sie selbst Kontakt zu Protestierenden?
Niemand von den Menschen, die ich im Libanon kenne, hat nicht an den Protesten teilgenommen. Sowohl die Menschen, die in der Kunstszene vernetzt sind, als auch die Menschen aus den südlichen Suburbs, die ich durch meinem Job in einer Recycling-Firma kennenlernte, kamen bei den Protesten zusammen. Ein paar meiner syrischen Freunde zögerten anfangs, weil sie sehr schlechte Erfahrungen bei den Protesten im eigenen Land gemacht haben. Aber auch sie sind später für ihre eigenen Rechte auf die Straße gegangen.
Das Leitmotiv der Proteste lautet "Kelon yani Kelon – Alle heißt Alle!" Wer sind alle?
"Kelon yani Kelon" hat zwei Bedeutungen: Einerseits schließt es mit ein, dass alle Menschen auf die Straße gehen. "Alle heißt alle" steht aber auch für die Forderungen der Libanesinnen und Libanesen, dass es nicht reicht, dass nur ein paar aus der politischen Elite gehen, sondern dass alle Politiker*innen gehen müssen. Man kann den Libanon als Land mit vielen verschiedenen Gruppen im Hinblick auf Religion und Nationalität sehen: dort leben Shiiten, Sunniten, aber auch Christen, Drusen und bis zu 20 weitere religiöse Gruppen, Menschen, die aus Syrien geflohen sind, Palästinenser, Menschen aus Armenien.Aber wenn man von "Kelon yani Kelon" spricht, schließt das ein, dass man keine Unterschiede mehr zwischen den Geschlechtern machen will. Oder bei Minderheitsgruppen wie der Queer Community, bei Klassen oder auch bei der Diaspora im Ausland. Alle diese Gruppen, die zuvor durch die Strukturen eher gespalten waren, sind plötzlich vereint auf die Straße gegangen. Sie alle teilen ein kollektives Bewusstsein für das gleiche Ziel, weil sie alle unter dem gleichen System leiden - die Arbeiterklasse und die Oberschicht.
Gab es einen konkreten Auslöser für den damals plötzlichen Beginn der Proteste?
Zum einen sollte eine extra Steuer auf die Whatsapp-Nutzung erhoben werden. Das war aber nicht der einzige Auslöser: In der gleichen Woche im Oktober hatte es einen Brand in den Bergen gegeben, bei dem die Regierung kein Löschhubschrauber sendete, weil die nicht intakt waren. So kamen in einer Woche mehrere Ereignisse zusammen, die die Bevölkerung empörten und sie gemeinsam auf die Straßen brachten.
Seit Februar tritt auch im Libanon das Coronavirus auf. Hat die Pandemie die Proteste beeinflusst?
Der Libanon hat eine sehr große Diaspora. Seit dem Beginn der Pandemie geht der Protest digital weiter. Dort hat eine große internationale Vernetzung stattgefunden. Wir in Deutschland haben uns immer wieder gefragt, was neue Protestformen sein könnten, während man diese digitalen Verbindungen im Libanon gerade wegen der großen Diaspora schon seit Jahren nutzt. Die Menschen, die im Ausland leben, koordinierten auch die Proteste, leiteten Nachrichten und Informationen zur aktuellen Lage auf den Straßen Beiruts weiter.
Was fordern die Protestierenden genau?
Es gibt Aufrufe gegen die korrupte politische Elite, gegen dysfunktionale nationale Institutionen, wie die eben genannten fehlenden Löschhubschrauber oder auch den Mangel an Regelungen zur Müllentsorgung. Menschen habn für mindestens drei Stunden pro Tag keinen Strom haben, derzeit sind es wahrscheinlich sogar eher sechs Stunden. Es gibt zwar demokratische Wahlen, die Regierung aber ist in religiöse Konfessionen eingeteilt, sodass bei jeder Wahl ein Großteil des Ergebnisses eigentlich vorher schon klar ist. Daher der kollektive Aufruf der Bevölkerung dazu, dieses System zu überwinden, das kaum demokratischen Protest zulässt. Neben diesen großen politischen Veränderungsforderungen geht es aber auch vor allem um gleiche Grundrechte für alle, für die Queer Community, für syrische Geflüchtete, für Palästinenser, die seit über 40 Jahren unter dem Status "staatenlos" im Libanon leben. Außerdem protestieren die Menschen kollektiv dafür, die Täter von sexuellen Übergriffen vor Gericht zu bringen.
Auf Ihren Bildern sieht man viele Frauen auf den Straßen. Welche Rolle spielen Frauen und die LGBTQI*-Community in der "Thawra"?
Mein Eindruck ist, dass Frauen sehr stark präsent waren und sind, sowohl bei den Protesten, als auch im zivilgesellschaftlichen Engagement bei der Essens- oder Trinkwasserverteilung. Ich denke, das liegt auch daran, dass Frauen schon am ersten Protesttag eine Frontline gebildet haben und damit wortwörtlich in der ersten Reihe zwischen Polizei und Protestierenden standen. Das war ihre Taktik, um bei potenziell gewaltvolleren Ausschreitungen dazwischen gehen zu können. Die Frauen sind auf meinen Bildern so präsent, weil so viele von ihnen auf der Straße waren, in der ersten Reihe standen, die kreativsten Protestformen gezeigt und so die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Aber auch auf den Social Media waren und sind Frauen und die Queer Community sehr aktiv.
Auf einem der Fotos sieht man eine Frau im roten Regencape. Man fühlt geradezu, wie sie laut sie schreien muss, obwohl man nur das Bild davon sieht. Wer ist sie?
Das ist Perla Joe. Sie ist eine Künstlerin in Beirut, die ich schon oft bei Auftritten während der Proteste gesehen hatte. Am Tag, an dem das Foto von ihr entstanden ist, habe ich zum ersten Mal persönlich mit ihr gesprochen. Wir haben seitdem zusammen gearbeitet und durch meine Ausstellungen in Berlin haben wir auch jetzt noch viel Kontakt.
Wann und wie haben Sie sich dazu entschieden, den Protest fotografisch einzufangen?
Viele Menschen in meinem Umfeld sind im Zuge der Proteste gegangen. Ich habe mich aber aktiv dazu entschieden, bei meinen Freunden im Libanon zu bleiben. Auf dem Weg zu ihnen musste ich durch die Menschenmassen, weil keine Taxis mehr gefahren sind. Ich hatte meinen Koffer in der rechten, meine Kamera in der linken Hand und bin zu meinen Freunden durch die Proteste gelaufen. Dort wurde ich direkt von den Menschen auf der Straße, die meine Kamera gesehen haben, aufgefordert, dass ich Fotos machen soll. Auch von Freund*innen und Aktivist*innen aus Beirut bekam ich Nachrichten: "Heute ist der Tag, an dem wir dich brauchen, deine Fotografien sollen unser Echo sein". Das bestärkte mich darin, Fotos zu machen. In den internationalen Medien habe ich die Darstellungen als sehr gewaltvoll empfunden, da immer die gleichen Bilder von brennenden Autoreifen und oberkörperfreien Männern gezeigt wurden, obwohl die Proteste sehr viel diverser waren. Ich versuche, mich von der orientalistischer Perspektive, dass Zerstörung in Westasien normal ist, zu distanzieren. Mir war es wichtig, das mit meinen Fotos zu zeigen.
Sind Sie mit Ihren Fotografien Teil der Bewegung?
Ich fühle mich nicht als Teil der "Thawra", aber als ally, also als Verbündete meiner Freunde und Bekannten, aber auch von fremden Menschen, die mich dazu aufgefordert haben, ihnen Sichtbarkeit zu geben. Die Sichtbarkeit durch meine Fotografien kann als Mittel zur internationalen Aufmerksamkeit dienen. Gleichzeitig hat die Öffentlichkeit den Menschen auf den Fotos Schutz gegeben vor Polizeigewalt. Ich fühle mich schon auch als Teil der Bewegung, die das Handeln unserer internationalen Institutionen kritisch betrachtet. Meine eigene Rolle sehe ich darin, meinem Umfeld in Deutschland die Auswirkungen unserer europäischen Außenpolitik näher bringen zu können.
Was genau wollen Sie mit Ihren Bildern zeigen?
In meinen Fotografien wähle ich einen Ansatz von self und other: Wenn ich über diese Beziehung spreche, möchte ich mich klar von dem Prozess des othering distanzieren, welcher Ausdrückt, dass man den eigenen sozialen Status dadurch definiert, dass man eine andere Gruppe als "fremd" und "andersartig" beschreibt. Ich möchte in meinen Fotografien nicht die Wahrheit der dargestellten Person erzählen, sondern bringe lediglich eine Situation aus einem undifferenzierten Hintergrund auf dem Foto in den Vordergrund und sehe meine Arbeit, das Foto, als Produkt von der Interaktion zwischen der abgebildeten Person und meiner eigenen Person. Es gibt immer mindestens drei Akteur*innen, die Teil der Wirkung eines Bildes sind: Die Person auf dem Foto, ich als Fotografin und die Person, die das Foto betrachtet. Jede der drei Akteur*innen hat ein eigenes Verständnis davon, was das Foto bedeutet. Wie meine Fotos auf Menschen wirken, liegt mir daher irgendwie fern. In Protesten spielt Kreativität aber immer eine sehr große Rolle. Botschaften können auf die verschiedenste Art und Weise mit der Welt geteilt werden. Ästhetische Fotografie ist ein Mittel, das sehr viele Menschen erreicht. Ich möchte mit meinen Fotografien das mitteilen, was Menschen aus dem Libanon zu sagen haben. Ich möchte deren Stimme weitertragen.
Wird sich die Situation im Libanon nach der Explosion noch mehr verschärfen?
Die Hilfeschreie werden immer mehr und immer präsenter. Seit elf Monaten demonstrieren die Menschen im Libanon bereits, mit jeder Woche geht es ihnen schlechter: Sie erleben eine dreifache Wirtschaftskrise, Corona und jetzt die Explosion. Was muss noch passieren, dass die Regierung endlich geht und internationale Akteure die Hilfe leisten, die gebraucht wird?
Aktualisierung: Inzwischen hat die libanesische Regierung ihren Rücktritt angekündigt, will aber vorläufig im Amt bleiben.