Stellen Sie sich einen drögen Arbeitstag vor. Im Laufe dieses zäh sich dahinziehenden Tagwerks kommt ein Arbeitskollege und zeigt Ihnen "dieses eine lustige Video im Internet". Wie, das haben Sie noch nicht gesehen?! Müssen Sie sofort nachholen! Jetzt sofort!
Sie schauen sich also gemeinsam das Video an und es ist bestenfalls so lustig wie die erwartungsvoll hin- und hereilenden Augen ihres Arbeitskollegen, der zwischen Bildschirm und Ihrem Gesicht nach irgendeiner Reaktion sucht und immer dann betont laut lacht, wenn er sich von Ihnen ein bisschen humoristischen Zuspruch erhofft. In dem fast zwölfminütigen Video reagiert die vielleicht meistgehörte Musikerin der Gegenwart, Billie Eilish, auf Teenager, deren Reaktion auf Billie-Eilish-Videos gefilmt wurde. Sehr abstrakt. Das Video wurde fast 30 Millionen Mal aufgerufen. Sehr konkret. Was passiert da?
Die Logik des Digitalen wird derzeit oft verhandelt. In Publikationen, Kolumnen und wissenschaftlichen Beiträgen stellen Akademikerinnen und Akademiker bahnbrechende Bezüge zwischen historischen und zeitgenössischen Erscheinungen her. Für Kunstwissenschaftlerinnen und Medienanalytiker sind die Mechanismen der unendlichen Internet-Weiten die Verbindungslinien zu ihrer disziplineigenen Stringtheorie: Action-Computerspiele erfüllen heute die Funktion erzählerischer Salonmalereien aus dem 19. Jahrhundert, Emojis und Sticker fungieren in Instagram-Stories analog zu Passionssymbolen einer Pietà des 15. Jahrhunderts und mit Morph-Apps und gesichtsändernden Filtern kehren Selfie-Fotografen zu den Anfängen des antiken Theaters zurück – als Masken gegenüber Mimik bevorzugt wurden. Im Prinzip war alles schon mal da, die Zeit verläuft spiralförmig, der große Weltzusammenhang.
In diesem weitläufigen Diskurs-Dschungel verliert man schnell den Faden und die zugrundeliegenden Kulturtechniken aus dem Blick. Zwischen Meta-Daten und -analysen möchte man sich einfach mal zurücklehnen, den Stream fließen und ein paar echte Gefühle durchsickern lassen. Auch Kunst gewährt den Zugang zu den Bereichen, die sich mit dem Rationalen nicht begreifen lassen: die Übersetzung des Unübersetzbaren, eine transzendentale Erfahrung in einer menschlichen Sprache, formuliert von einem Subjekt. Nur deshalb konnte der Aufbruch der Moderne derart schocken, unterhalten und wohltun zugleich. Aber das war ja mal. Moderne ist auch vorbei. Und was könnte heute transzendentaler und unterhaltsamer sein als unverfälschte, menschliche Reaktionen? Da tanzen doch die Spiegelneuronen im Reigen! Und die Doppelbödigkeit liegt bereits im Fundament ...
Strom der Gefühle oder Gefühle streamen?
Für Emotionsnostalgiker gibt es im Internet selbstverständlich die richtigen Anlaufstellen. Die gestreamten und hochgeladenen Ausdrucksformen echter, menschlicher Reaktionen finden sich tausendfach reproduziert auf Plattformen wie YouTube, Twitch, Snapchat, TikTok oder Instagram: Reaction-Videos. Unabhängig davon, dass diese Plattformen unterschiedliche Funktionen ausführen und damit unterschiedlichen Funktionsweisen unterliegen, treten einige Elemente bei allen auf. Reaction-Videos gibt es zunächst einmal überall. Auf Twitch reagieren Streamer auf ihr eigenes (oder fremdes) Gameplay, auf Snapchat und TikTok reagieren Freunde, Geschwister und Verwandte aufeinander und auf YouTube reagieren alle auf alles.
Das Prinzip ist simpel: Einer oder mehreren Personen wird ihnen bisher Unbekanntes gezeigt. Ihre Reaktion wird gefilmt und ins Netz geladen. Dort generieren diese Videos kosmische Klickzahlen und damit zusammenhängend monatliche Umsätze in bis zu sechsstelliger Höhe – abhängig von der jeweiligen Upload-Häufigkeit, Videolänge und Reichweite des Kanals. Und abgeschlossenen Werbeverträgen. Die Titel der Videos sind dabei für Plattform-Outsider so enigmatisch wie die Schnittpraktiken und Codes, die beispielsweise in der YouTube-Szene vorausgesetzt sind.
Eine kurze Stichwortsuche auf YouTube unter der Prämisse "reagiert auf" gibt Einblick: "MontanaBlack reagiert auf Bibis LUXUS Haus". 3,6 Millionen Aufrufe. "Justin reagiert auf Karl Ess gegen Inscope & Tim". 1,6 Millionen Aufrufe. "Julia Beautx und Rezo reagieren auf TikToks die DEFINITV harmlos sind". 2,2 Millionen Aufrufe. Oder das pure Internet-Destillat: "Meine Katze reagiert auf Katzen Videos", das zumindest in den erst 24 Stunden nach Upload fast 70.000 Aufrufe verzeichnen konnte. Trend steigend.
Kanonisiert wurden Reaction-Videos in den Vereinigten Staaten, wo das Format erst zum weltweiten Sub-Genre avancieren konnte. Als 2007 das obszöne Video "2 Girls 1 Cup" sich seinen Weg durch das Netz bahnte, löste es eine erste Welle von extremen Reaktionen aus. Durch die Verbreitung auf Video-Plattformen haben Insider, die sich dieses Internetphänomens bewusst sind, eine kollektive Erfahrung mit Empathie und Ekel gemacht. Das kulturelle Wissen und die emotionale Entwicklung, die diese Reaktions-Serie anregte, wurde später durch wiederholte Zitate nur bestärkt: berühmte Prominente wie George Clooney haben "öffentlich" auf das Video reagiert oder es tauchte in TV-Formaten wie "Family Guy" oder "Neo Magazin" auf.
Der berühmteste und reichweitenstärkste Reaktionskanal auf YouTube, FBE, teilt seit neun Jahren individuelle Emotionsausbrüche mit einer globalen Community im virtuellen Raum. Anders als bei deutschen Reaktions-YouTubern steht bei dem Kanal FBE die facettenreiche Palette menschlicher Responsivität im Vordergrund: Eine klar definierte soziale Gruppe wird mit einem konkreten Gegenstand konfrontiert, dessen Kontext und Konnotation Extremes hervorrufen. Vor neun Jahren reagierten dort ausschließlich Kinder auf Ereignisse der Gegenwart, wie beispielsweise den Tod Osama Bin Ladens (6,2 Millionen Aufrufe) oder das virale Internetphänomen "Nyan Cat" (38 Millionen Aufrufe). Ein Jahr später gesellten sich Teens und elders (Seniorinnen und Senioren) zu den Testgruppen, mittlerweile sind die Milieubedingungen zielgruppeneigenen Parametern unterzogen: College Kids, Celebrities, YouTuber, Erwachsene, Eltern, Pärchen, Mütter oder Angestellte im Gesundheitswesen reagieren auf die ihnen jeweils vorgesetzten Inhalte. Entfernt erinnern diese Videoformate an Kunstvermittlungskonzepte, wie beispielsweise Max Imdahls Ansatz, Arbeiterinnen und Arbeiter über moderne Kunst diskutieren zu lassen. Klare Gruppe, klarer Gegenstand, offenes Ergebnis.
Eine Reaktion auf eine Reaktion auf eine Reaktion
So weit, so lustig. Nun lebten wir aber bereits im postmodernen, post-postmodernen und im postfaktischen Post-Internet-Zeitalter. Da kommt leider keine Erscheinung ohne ihre absolute Überfrachtung und absurde Meta-Reflektion aus. Eine Referenz funktioniert nur noch über ihr vorausgehende Referenzsysteme, deren Verbindungslinien früher oder später in einem endlosen Vakuum zusammenlaufen. Wer also wirklich glaubt, sich einfach zurücklehnen und auf authentische Reaktionen reagieren zu dürfen, hat seine Rechnung ohne die Mechanismen einer 5G-Gesellschaftsform gemacht. Irgendwann gehen einem nämlich die Inhalte aus, auf die es sich zu reagieren lohnt. Manche YouTuber beziehen ihren Reaktions-Content sogar schon aus dem Bundestag und gehen damit vielleicht noch einem rudimentären Bildungsauftrag nach.
Gleichzeitig verlangt jedes Statement auch ein Gegenstatement, das wiederum nach einem Gegengegenstatement schreit. Deshalb antwortet die Tageszeitung "FAZ" mit einer Videobotschaft, wenn Rezo die Presselandschaft in Deutschland "zerstört", worauf Rezo wiederum mit einem eigenen Antwort-Video reagiert. Aus demselben Grund reagieren YouTuber mittlerweile auf Reaction-Videos anderer YouTube-Stars oder das Einstiegsbeispiel erfährt noch eine weitere Ebene: Teenager reagieren auf Billie Eilish, wie sie auf Teenager reagiert, die auf Billie Eilish reagieren. 7,8 Millionen Aufrufe.
Eine berühmte Internet-Anekdote bezieht die Idee der Postmoderne auf das erfolgreiche Franchising der Marke Nintendo: Super Mario. Der energiegeladene Klempner in ikonischer, roter Tracht wurde irgendwann um seinen Bruder "Luigi" ergänzt, der als die Reflektion seines Vorgängers gedeutet wird – ungefähr der gleiche, aber etwas schmächtiger. Es folgte das moralische Pendant, die Invertierung zu "Mario": "Wario", dessen äußeres Erscheinungsbild zwar dem seines prinzessinnenrettenden Vorbildes entsprach, seine Beweggründe aber nichts mit denselben zu tun hatten. Und letztlich erfährt die Inversion des ursprünglichen Subjektes, "Wario", selbst eine Reflektion und wird um einen eigenen Partner reicher: "Waluigi". Um "Waluigi" zu erschaffen, sind also derart viele Windungen nötig, dass sich das Individuum über seine Referenz auf die Referenzen ("Wario" und "Luigi") definiert, keine direkte Verbindungslinie zu "Mario" zeichnet und sich nur noch durch Bezüge konstituiert.
Mehr als nur 15 Minuten Berühmtheit
Ähnlich verhält es sich mit den Meta-Meta-Meta-Versionen der Reaction-Videos, auf die ja wiederum private Konsumentinnen und Konsumenten auch reagieren und damit gar nicht so abstrakten Umsatz auf einem ungleichheitsfördernden Markt generieren. Doch dazu später mehr. Bereits 1934 prognostizierte der französische Lyriker Paul Valéry in seinen "Pièces sur l’art" das zukünftige Alltagsverhalten zum Umgang mit digitalen Medien denkbar treffend: "Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen, einstellen und uns ebenso wieder verlassen." Was auf das Nutzungsverhalten jedes digitalen Alltagsmediums zutrifft. Die eingangs erwähnten Beispiele für kunsthistorisch nachvollziehbare Kulturpraktiken des 21. Jahrhunderts stammen aus monatlichen Kolumnen des Kunstwissenschaftlers und Medientheoretikers Wolfgang Ullrich. Ziel solcher Analysen und Gegenüberstellungen ist es nicht, ein Netz der Korrelationen zu spannen, sondern das existierende zu entwirren. Wenn täglich das kulturpessimistische Murmeltier grüßt, liefert ein Blick in die Geschichtsbücher meist die richtige Antwortformel.
Als Andy Warhol in den 1960er-Jahren von seinen vielzitierten "15 Minuten Weltberühmtheit" für Jedermann sprach und Nam June Paik 1974 seinen TV-Buddha einem Fernseher mit auf sich selbst ausgerichteter Video-Kamera gegenübersetzte, prophezeiten bildende Künstler die grundlegenden Praktiken von Streaming und YouTube 2020. Umso naheliegender, dass die ursprüngliche Bildkomposition für das Sub-Genre der Reaction-Videos von heute auf Ästhetiken aus der 70er-Jahre-TV-Landschaft Japans zurückgeht. Die waipu genannten kleinen Rechtecke waren eine der ersten Anwendungsarten von Bild-im-Bild-Montage und zielten im japanischen Fernsehen auf eine emotionssteigernde Wirkung beim Publikum ab. Zu sehen, wie andere Menschen lachen, weinen oder sich erschrecken, ruft bei Zuschauenden einfach hormonbedingt ähnliche Reaktionen hervor.
Dieses Vorganges bedienen sich auch die YouTube-Stars, Twitch-Streamer und sonstigen Influencer der besagten Plattformen. Polemisch und mit Pop-Bezug (Memes, Emojis) stellen sie menschliche Reaktionen als verwertbares Werk aus, das kontinuierlich weiterproduziert und nachgeliefert werden kann. Subtil kommunizieren die Uploader dieser Videos eine Verhaltensnorm, in der menschliches Benehmen – ähnlich wie in der Theorie der Emotionsökonomie – auf einen monetären Gegenwert bemessen wird, der sich in die Realität übersetzt. Die Rationalisierbarkeit menschlicher Reaktionen wird in Reaction-Videos durch Stapelung und Abstraktion derart zur Schau gestellt, dass sie einen neuen Höhepunkt erreicht.
Aus größerer Entfernung sind Reaction-Videos schlicht die konsequente Erweiterung zeitgenössischer Kulturtechniken mit ökonomischem Gegenwert. Es ist die Aufgabe der Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, nicht zuletzt derjenigen, die dieselben Videos produzieren, diese Durchdringungen von Kunst und Ökonomie oder Kontrollmechanismen wie die Nutzungsbedingungen der Upload-Plattformen sichtbar zu machen. Wie es die zeitgenössische Künstlerin Hito Steyerl beispielhaft vormacht, ist niemand diesen Strukturen hilflos ausgeliefert.
Um den Reaction-Videos noch ein kunsthistorisches Krönchen aufzusetzen, lohnt sich ein letzter Blick in die Videotitel: Eines der beliebtesten Emojis in Kombination mit Titeln ist das "Face Screaming in Fear", das nachvollziehbar in Anlehnung an Edvard Munchs "Der Schrei" entstanden ist. Ein Emoji, das maximal gegenwartsbezogen kommuniziert: Siehst du, wie ich fühle?