So richtig bewusst wurde mir die Macht der Jutebeutel 2017 auf meiner allerersten Venedig-Biennale-Preview. Die Pressevertreterinnen, Kunstwelt-VIPs und über den Zaun gekletterten Studierenden ballten sich, klar, vor Anne Imhofs deutschem Pavillon, aber auch vor dem australischem. Das lag weniger an den Arbeiten der Fotografin Tracey Moffatt, die im Inneren des schwarzen, kantigen Gebäudes zu sehen waren, sondern vielmehr an den Stofftaschen, die am Eingang verteilt wurden. Zur Auswahl standen die Slogans "Refugee Rights" und "Indigenous Rights", beide derart beliebt, dass alle 5000 Exemplare bereits am zweiten Tag vergriffen waren.
In Kunstkreisen übernehmen Beutel die Rolle von Slogan-Shirts, die mit Ausnahme von besonders clever-ironisch kombinierten Einzelfällen verpönt sind. Mit Beuteln lässt sich die eigene liberale politische Haltung und die Begeisterung von bestimmten Kunstschaffenden, Verlagen oder Ausstellungsorte ganz ohne laut ausgesprochene Worte kommunizieren. Ein besonders gut designter Beutel beweist sowohl Stilbewusstsein als auch Ungezwungenheit, an der Supermarktkasse ebenso wie beim Opening, und ist die beste Werbung, die man sich als Institution wünschen kann.
Statussymbol der prekären Elite
Wieder zu Hause angekommen fiel mir eine weitere Funktion des Jutebeutels auf. In den Gassen Venedigs hatte der Verlag Mousse einen knallgelben Beutel mit einem Motiv der Künstlerin Emma Hart verteilt, der bis heute zu meinen Lieblings-Stofftaschen gehört. Jedes Mal, wenn ich von da an einer Person mit dem gleichen Beutel auf der Straße, im Restaurant oder am Flughafen begegnete, wusste ich sofort, dass sie ebenfalls bei der Preview gewesen war.
Der Gratis-Beutel ist eine kodifizierte Selbstmarkierung als Kunstwelt-Person. Als Objekt, das sich nur mit kulturellem Kapital erwerben lässt, ist er das Statussymbol all jener, die sich ihren Kunstmessen-Champagner durch Tauschgeschäfte und das großäugige Erbetteln von Wertbons am Pressestand erarbeiten müssen. Er ist das, was für die betuchte Sammlerin die Birkin Bag ist, bloß mit der erfreulichen Vorteil, dass man ihn nach einem langen Superkunstsommer voller Schweiß und verschüttertem Spritz einfach in die Waschmaschine stecken kann.
Diesen Sommer wird es keine Großveranstaltungen und somit keine Jetset-Gratis-Beutel geben. Ohnehin hat sich die Kunstwelt durch Online-Talks und entzerrte Openings demokratisiert. Niemand kann sich mehr damit schmücken, zuerst dabei gewesen und danach noch mit zum Dinner gegangen zu sein. Besucht man dieser Tage eine Galerie, wird man von einer entschleunigten Freundlichkeit und Gesprächsbereitschaft begrüßt - auch, wenn man weder Birkin noch Beutel bei sich trägt. Wer sich dieser Tage aber dennoch zumindest ein bisschen profilieren will, dem sei ein DIY-Tipp ans Herz gelegt: Aus Beuteln lassen sich wunderbare Atemschutzmasken schneidern.