Wenn man im selbsternannten "Land der 1000 Berge" zum ersten Mal oder auch nach einiger verstrichener Zeit wieder den Boden betritt, kann es sein, dass sich ein bisschen Enttäuschung breitmacht: Von Berggipfeln zum Beispiel ist im Sauerland wenig zu sehen. Und die grünen Hügel wirken auch nur an wenigen Stellen wirklich mächtig, weil man sich eben meist ohnehin auf einer gewissen Höhenlage bewegt. Einbilden könnte man sich noch, die Luft sei ein klein wenig frischer als anderswo.
So plastisch können also Erinnerungen und Vorstellungen von ganz konkreten Orten sein. Mittelgebirge, Kahler Asten, Skispringen-Weltcup, das alles facht die Vorfreude auf einen Hauch alpinen Abglanzes in Nordrhein-Westfalen an – selbst dann, wenn man von sich annimmt, gar kein besonderer Berg-Freund zu sein, einen der ganze Auf-dem-Berg-ist-Heil-Komplex im gleichen Moment eher skeptisch stimmen mag. Das Urlaubsbilder-Phänomen: Im Angesicht der tatsächlichen Landschaft tut sich für ortssensible Menschen eine Lücke zwischen Vorstellung und tatsächlichem Ort auf, und was eben noch dazwischen lag, fehlt plötzlich.
Aber vielleicht ist selbst dieses Szenario reichlich überzeichnet, geformt durch eine andere Vorlage: Neulich entdeckte ich ein Bild von Lucia Kempkes, "I Wish I Could Climb", das die Künstlerin für ihre kommende Ausstellung im Kunstverein Arnsberg produziert hat: Der Marktplatz der größten kreisfreien Stadt der Sauerland-Region, Arnsberg. Rund gelegtes Kopfsteinpflaster vor mehr oder weniger historischen Häusern mit zarten Bäumchen gesäumt, menschenleer, und direkt dahinter die Alpen. Das trügerische Sauerland-Versprechen in a nutshell, dachte ich.
Der Ort prägt die Kunst
Der in Ausstellungstexten ja recht inflationär behauptete Ortsbezug ist hier gelebte, gar nicht unbedingt intellektualisierte Praxis – der Arnsberger Kunstverein hat das vielleicht auch manchmal etwas neoromantische Wald-und-Wiesen-Topos in den vergangenen Jahren schon gut von seinen Künstlern durchdeklinieren lassen. So, wie man das – obwohl doch eigentlich außerhalb der urbanen Strukturen so naheliegend – seltener im Kontext von Einzelausstellungen sieht: Im Sommer 2017 zum Beispiel mit der "Odyssee", die ausschließlich vom Wasser des nahegelegenen Möhnesees aus entdeckt werden konnte. Oder, ein paar Monate vorher, mit Fabian Knechts öffentlich zugänglicher Performance "Isolation (Dead Tree)", die gegen Einbruch der Dämmerung im Wald aufgeführt wurde.
Nun also "Mount Analogue" mit Arbeiten von Lucia Kempkes und Ossian Fraser, das von Landschaftssehnsüchten und Bergversprechen (auch in Bezug, aber nicht limitiert auf diesen Ort) handelt. Während Kempkes sich mit den Projektionen beschäftigt, die man auch vom Flachland aus auf Bergtour schicken kann, ist Frasers Kunst selbst im Gebirge entstanden. Auf mehreren Tausend Metern Höhe verpasst er den Schweizer Alpen ganz zart, aber nachdrücklich Quadrate und andere geometrische Formen auf ihre Felsblöcke.
Kunst unter der Oberfläche des Ausflugssees
"Mount Analogue" ist die zweite Ausstellung der neuen Direktorin Lydia Korndörfer, die selbst aus Berlin kommt und sich die Arbeitszeit zwischen beiden Orten aufteilt. Aufgefallen ist ihr der Kunstverein immer wieder in Portfolios von Künstlerinnen und Künstlern, mit denen sie als Kuratorin zusammengearbeitet hatte. Tatsächlich liest sich das Ausstellungsprogramm vergangener Jahre ambitioniert bis avantgardistisch. Julius von Bismarck, Julieta Aranda, Alfredo Jaar oder Erwin Wurm wurden hier neben vielen anderen und nicht selten in einem früheren Stadium ihrer Karriere präsentiert. "Im Treppenhaus des Kunstvereins gibt es eine Art Ahnengalerie – die Ausstellungsposter zu allen Ausstellungen seit der Gründung," erklärt Korndörfer per Mail. "Da wird einem schnell bewusst, dass der Kunstverein eben kein Provinzprogramm macht, sondern vielmehr dafür sorgt, dass renommierte, internationale Positionen auch außerhalb der großen Städte gezeigt werden."
In die 1000 Berge hinaus geht die Schau diesmal nicht, aber für Zukünftiges will Korndörfer das nicht ausschließen, wie sie erklärt: "Die Arbeit im Außenraum wird auch in Zukunft eine wichtige Säule des Programms bleiben." So ist auch für die kommende Ausstellung mit Ariel Reichman im September eine Skulptur im Außenraum geplant, die bespielt werden darf; die "Mount Analogue" wird ebenfalls auf den Gartenbereich erweitert. "Generell werden Arnsberg und Umgebung weiterhin eine wichtige Rolle spielen, da sich das Programm verstärkt auf künstlerische Positionen konzentrieren wird, die Fragen des zeitgenössischen Lebens berühren: Kunst also, die sich mit Natur, Nachhaltigkeit, Architektur, der Stadt, dem Alltag, mit Politik, Wissenschaft, dem Digitalen und der Zukunft befasst."
Das würden sich so derzeit wohl einige Ausstellungshäuser auf die Fahne schreiben. Aber sicher spielt es für die Kunsterfahrung doch eine Rolle, wie die Gegend unmittelbar vor den Toren der Ausstellungsräume aussieht. Mit welchen Erwartungen man hinfährt. Und dann macht es natürlich einen Unterschied, ob jene Räume vielleicht sogar zeitweilig in den abendlichen Mittelgebirgswald oder unter die Wasseroberfläche eines Ausflugssees versetzt werden.