Seit Monaten ist das Porträt in dem kleinen, digitalen Kreisrund auf meinem Handybildschirm unverändert. Aus nostalgischen Gründen tippe ich es sanft mit dem Daumen an, das Profilfoto vergrößert sich. Da stehe ich: glücklich, lebensfroh, inmitten einer Installation von Yayoi Kusama. Seeeehr instagramable ...
Allzu sehnsüchtig erinnere ich mich zurück an die glorreichen Zeiten der Turbofreundschaften. Am Tisch versammelt sitzt man mit den Nächsten, mit den Liebsten und kann die Anekdoten der Vorjahre nicht mehr hören. "Wisst ihr noch das und kennt ihr noch jenen", und mit jeder weiteren Silbe wird die Situation immer unerträglicher. Unbemerkt von diesen Innovationsallergikern gleitet eine Hand langsam unter den Tisch, geschmeidig entlang am Oberschenkel, entsperrt den Riegel und öffnet das Tor zur Welt über mein mobiles Endgerät.
Die Feeds und Flows der Freundschaftskonjunktive sind voll von schleierhaften Verlockungen und flüchtigen Bekanntschaften. Zwischen Fitnessfreaks und "I Love To Travel"-Tölpeln gilt es sich mit ausgeklügeltem Charakterreichtum auszuschmücken. Dieses Internet ist Identitäts-Neuland und für mich die Chance, Alter Egos in einem Webspace zu erschaffen und ihr Selbstverständnis mit irreführenden Details anzufüttern.
Wer will ich sein? Vielleicht photoshoppe ich mich in das Oscars-Selfie von Ellen DeGeneres. Ist das noch aktuell? Oder ich setze mich in der frivol lachenden Runde guter Freunde in Szene. Auf Kosten des Datenschutzes meiner Nächsten kann die Internet-Community so zumindest ausschließen, dass ich einsam bin.
Doch die wichtigsten Bilder meiner Identitätsstiftung bleiben aus. Wie soll ich potentiellen Tinder-Interessentinnen und -Interessenten meine Kunstbegeisterung signalisieren? Was sagt denn besser "I am fucking cultural", als sich in einer von Monica Bonvicinis Sexschaukeln ablichten zu lassen? Womit kann ich vor Hobbywischern verifizieren, warum in meiner kurzbiografischen Auflistung von Interessen "Kunst und Museen" auftauchen, wenn es keine fotografische Aufnahme von mir in der Haupthalle irgendeiner Gemäldegalerie gibt? Woher soll der Facebook-Algorithmus wissen, welche Inhalte er bevorzugt in meinen Feed spült? Zumindest ein Shot in einer Olafur-Eliasson-Installation könnte doch entstehen, um meinen Sinn für Nachhaltigkeit anzuteasern … Es gilt, eine Persona aufrecht zu erhalten!
Pragmatisch bleiben
Kaum Eröffnungen, keine großen Schauen und schon gar keine Mega-Events. Folglich entsteht für Menschen wie mich – kunstaffine Poser mit Aufmerksamkeitsdrang – kein neues Material. Immense Like-Deflation und auch die Matchzahlen gehen rapide zurück. Wir befinden uns in einer Social-Media-Krise, die uns zwingt den Umgang mit dem digitalen Sozial-Raum neu zu denken. Auch wenn es natürlich unterhaltsam ist zu sehen, wie zig Millionen Menschen sich vor, in oder auf Kunstwerken ablichten, sämtliche Urheberrechte verletzen und anonyme Verwertungsgesellschaften an der schieren Menge von Verstößen verzweifeln und denken: "Naja, das geht so aber nicht, wo bleibt denn unser Anteil?", aber gleichzeitig nicht bereit sind ihre Richtlinien dem 21. Jahrhundert anzupassen.
Generell dient das Posieren mit fremden Kunstwerken einzig und allein der Selbstdarstellung der fotografierten Person – da muss man sich nix vormachen. Gleichzeitig trägt es aber auch dazu bei, dass bestimmten Künstlerinnen und Künstlern mehr Aufmerksamkeit zuteilwird, solange die Bildunterschrift zumindest eine Urheberschaft nennt. Es ist also wie mit allen Dingen: Rechtliche Grauzonen werden ausgelotet, Individuen profitieren davon, andere Individuen verlieren daran. Einen "Gefallen" tut man vor allem den Künstlerinnen und Künstlern, die nicht ohnehin zu jeder Biennale eingeladen werden und indem man ihnen das Prestige zukommen lässt, das ihnen zusteht. Oder man kann eigene Kunst schaffen und davor ablichten lassen. Oder man schiebt das Handy zurück in die Tasche, richtet sich auf, widmet sich wieder den Tischgesprächen und ist dankbar für die Menschen, die einen auch zu Krisenzeiten (gerne) umgeben. Wie bei der Kunst, kann ich auch hier durch Vertiefung und erneute Auseinandersetzung zu neuen Erkenntnissen kommen. Alles kann man sowieso nicht richtig machen. Unter Anwendung von Dirk von Gehlens "Pragmatismus-Prinzip" im Sinne des Umgangs mit dem digitalen Raum bleibt nur eine adäquate Reaktion: ¯\_(ツ)_/¯