Das Timing hätte schlechter nicht sein können: Am Morgen der geplanten Eröffnung der Wiener Albertina Modern entschieden die großen österreichischen Museen in einer gemeinsamen Konferenz, ihre Türen aufgrund der Covid-19-Pandemie zu schließen – ein Ereignis, das es seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben hatte. Museumsdirektor Klaus Albrecht Schröder führte die bereits angereisten internationalen Journalistinnen und Journalisten noch einmal mit großem Sicherheitsabstand durch die Ausstellung, dann schlossen die Türen von Wiens neuem Museum für Moderne Kunst, noch bevor sie richtig geöffnet worden waren.
Knapp drei Monate später kann man das neue Albertina-Haus nun endlich besuchen. 57 Millionen Euro hat der Mäzen Hans Peter Haselsteiner in die originalgetreue Restauration des Künstlerhauses am Karlsplatz gesteckt. Eingeweiht wird das Gebäude durch die Schau "The Beginning", die die österreichische Moderne von 1945 bis 1970 beleuchtet. Es ist eine Art Exorzismus für das Haus, in dem einst die Nazi-Wanderausstellung "Entartete Kunst" gezeigt wurde: So vielfältig die hier gezeigten Arbeiten auch sein mögen, ihnen allen ist ein formelles und inhaltliches Ankämpfen gegen jenes bürgerliche Bildungs- und Kunstideal gemein, das noch bis weit nach 1945 an den Wertvorstellungen des Nationalsozialismus festhing.
Blick in den Abgrund der Gesellschaft
Die Schau beginnt unmittelbar nach Kriegsende bei den Phantastischen Realisten. In den alptraumhaften Gemälden, die Schröder als "durch Psychoanalyse gebrochenen Surrealismus" beschreibt, ist der Schrecken des Krieges greifbar. Während Rudolf Hausners Gemälde "Ich bin Es" explizit Bezug auf die Lehre Sigmund Freuds nimmt, verarbeitet Ernst Fuchs seine Traumata in Zeichnungen abgemagerter Körper, anthropomorpher Wachtürme und willenloser Menschenmassen. Fuchs war noch ein Teenager, als er die Bilder malte, die nun in der Albertina Modern hängen – und damit den Ausstellungsanspruch erfüllen, die Erneuerer österreichischer Kunst mit ihren Frühwerken zu zeigen.
Angesichts der Kraft, die die in der Ausstellung versammelten Werke noch heute ausstrahlen, lässt sich erahnen, wie viel Unbehagen sie zur Zeit ihrer Entstehung im lange seine jüngste Geschichte verleugnenden Österreich ausgelöst haben müssen. Die Stärke von Maria Lassnigs Frauenfiguren, die mit Tigern schlafen und Städte niedertampeln, trifft einen wie eine Faust ins Gesicht; Renate Bertlmanns mit acht Latex-Sextoys bestückter "Patronengürtel" macht den Dildo zum Kampfinstrument und Gottfried Helnweins hyperrealistischen Aquarelle gequälter Kinder weisen mit größtmöglichem Schockeffekt auf Österreichs Täterrolle im Zweiten Weltkrieg hin. Die Künstler der sogenannten "Stunde Null" schauten tief in den Abgrund der Gesellschaft und rüttelten an allem, was als schön und richtig galt.
Am deutlichsten wird das bei der österreichischen Spielform der Pop Art, welche die Massenkultur mit einem merklich kritischeren Unterton zitiert als ihr amerikanisches Vorbild. Jorg Hartig bezeichnet die weggeworfenen Eisbecher, die er in himmelblauen und himbeerpinken Acrylflächen festhält, als "Realpop"; Peter Pongratz übersteigert Schutzengel und Andachtsbilder in blasphemisch kitschige Höhen und Kiki Kogelnik bemalt die Atombombe mit bunten Kreisen und Ringen. Vergnüglicher, aber ebenso bitterböse ist Christian Ludwig Attersees auf den ersten Blick unschuldig wirkendes "Kinderzimmer-Triptychon", in dem barbusige Kätzchen masturbieren oder mit Schlabberlatz und Silberbesteck bewaffnet ejakulierende Penisse verspeisen.
Radikale Werke in konservativem Rahmen
So radikal und herausfordernd einzelne in der Ausstellung gezeigte Werke sind, so konservativ werden sie präsentiert: säuberlich nach Kategorien wie Art Brut, Konkrete Kunst und Wiener Aktionismus sortiert hängen sie an Stellwänden in gedeckten Juweltönen. Die provokanten Werke der Aktionisten werden im Hinblick auf die recht reservierte Frage, wie Performance sich fotografisch festhalten lässt, präsentiert: Die stilisierten Porträts Günter Brus' bei seiner "Selbstbemalung" stehen dokumentarischen Fotografien der aktionistischen Schock-Aktionen voll Sperma und Selbstverstümmelung gegenüber.
Künstlerinnen und Künstlern wie Maria Lassnig und Arnulf Rainer, der sich zwischen Arte Povera, Abstraktion und Apppropriation oszillierend jeglicher Kategorisierung entziehen, werden mit eigenen Räumen gewürdigt. Neben den großen Namen finden sich jedoch vereinzelt charmante Wiederentdeckungen wie die kleinen kolorierten Holzschnitte der seit 1970 in Wien lebenden Künstlerin Auguste Kronheim. Die an Tarotkarten erinnernden Abbildungen gebeutelter weiblicher Zentaurinnen, auf dem Geburtsbett von Polizisten verhöhnter Frauen und hungriger Monster, die vor dem Schoß gebärender Frauen lauern, würden sich auch heute noch gut auf einem Protestplakat machen – und erzeugen aller formellen Strenge zum Trotz Neugier auf das Programm, das fortan im Künstlerhaus am Karlsplatz zu sehen sein wird.