Wer die Gelegenheit hatte in "Five Car Stud" (1972), die legendäre Skulpturen-Installation von Edward Kienholz einzutauchen, ein bühnenhaft ausgeleuchtetes "Gemälde", das die Kastration eines jungen Afroamerikaners im Süden der Vereinigten Staaten nachspielt, der erlebt bei "The Fall", dem neuen Kurzfilm des britischen Regisseurs Jonathan Glazer
ein Déjà-vu. Nur dass er diesmal das Lynch-Geschehen nicht mittendrin, sondern aus der komfortablen Perspektive eines unbeteiligten Voyeurs beobachtet.Der 1965 geborene Jonathan Glazer ist kein Freund von Schnellschüssen. Gerademal drei Spielfilme gehen bisher auf sein Konto, zuletzt das Alien-Drama "Under the Skin" mit Scarlett Johansson in der Hauptrolle. Dazu gesellen sich einige legendäre Werbeclips und Musikvideos für Radiohead oder Nick Cave. Sieben Jahre lang hörte man nichts mehr von dem Londoner.
Umso schneller ist der Plot seiner unbehaglichen Faschismus-Miniatur erzählt, die jetzt auf der Streamingplattform "Mubi" Premiere feiert: Ein aufgebrachter Mob schüttelt einen verängstigen Mann von einem Baumgipfel herunter. Während er die Schläge der Angreifer abzuwehren versucht, dokumentiert einer der Täter die Szene mit einem Gruppen-Selfie. Eine Schlinge um den Hals der Beute und ein harter Schnitt suggerieren eine Hinrichtung. Doch dann sieht man den Körper endlose Sekunden in einen tiefen Schacht fallen.
Das Morden wird von den auf der Oberfläche Gebliebenen sadistisch ausgekostet, bis die Dunkelheit den Blick auf die Versuche des Opfers versperrt, den eigentlich tödlichen Absturz dank einer zirkusreifen Kletternummer zu unterlaufen.
Sämtliche Figuren dieses dystopischen Albtraums tragen karikaturhafte Masken, die dem japanischen Nō -Theater entstammen. Sie ermöglichen eine Anonymität ähnlich der in sozialen Netzwerken, in deren Schutz Hasstiraden und Verschwörungstheorien ohne Konsequenzen abgesondert werden können. Glazer selbst gibt in Interviews Goyas Klassiker "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", in der eine Figur von Raubtieren umzingelt wird, als Inspiration an. Oder ein Foto von Eric und Donald Trump Jr. auf der Jagd, posierend um eines der von ihnen erlegten Tiere.
Dass er auf einen Anfang und ein Ende verzichtet und keinerlei Gründe für die Stigmatisierung zum Sündenbock angibt, verstärkt das Gefühl der abwesenden Kausalität in Zeiten, in denen "Vernunft angegriffen wird und aggressive Ideen auf dem Vormarsch scheinen", so Glazer. Deshalb ist eine frei flottierende Bereitschaft zur Gewalt auch das eigentliche Zentrum dieser wenig Interpretationsraum lassenden Parabel.
Entstanden knapp vor dem Corona-Ausbruch, könnte sie die momentane Stimmungslage aus latenter Angst, die sich mitunter kuriose Ventile sucht, nicht besser einfangen. Stoppt die irrationale Abwärtsspirale, so der Warnruf. Denn, so glaubt es Glazer, "wir sind der Hölle nicht näher als dem Himmel".