Man kann von Kraftwerk analog zur Geschichte der Pop-Art und des abstrakten Expressionismus erzählen. Die abstrakten Expressionisten werden durch männliche, dominante, sehr physische Typen verkörpert, die mit dem Pinsel ordentlich etwas auf der Leinwand hinterlassen. Sie bilden den verlängerten Arm europäischer Avantgarden und kleben am Topos der Boheme. Ihre Gegenspieler wollen mit den Traditionen der Hochkultur brechen, deshalb Pop-Art. Sie stellen Testosteron als künstlerischen Treibstoff infrage. Sie wählen Motive, die alltäglicher nicht sein könnten, Colaflaschen, Suppendosen, Comicfiguren. Sie ironisieren den Pinselgestus und beziehen sich auf industrielle Verfahren. Sie sind misstrauisch gegenüber dem genialischen Künstler.
In dieser Geschichte sind die Rockmusiker mit ihren langen Haaren und freien Oberkörpern die Jackson Pollocks – und die mit Kurzhaarschnitt, Anzug und Krawatte ausgestatteten Bediener technischer Geräte und Schöpfer elektronischer Musik die Andy Warhols.
Es gibt natürlich noch eine andere Geschichte von Kraftwerk: die, in der ihre Musik in wechselseitiger Abhängigkeit von der Technikhistorie gelesen wird. Weil dieses oder jenes elektronische Instrumentarium verfügbar oder entwickelt wurde, ergeben sich dann diese oder jene Sounds oder Loops. Auch diese Lesart ist wichtig und zeigt insbesondere, wie stark die technisch-konstruktiven Innovationen von Kraftwerk Teil ihrer Kreativität waren und sind. Ihre Musik stellt einen Neubeginn dar, der sich auf keine Tradition berufen kann. Sie selbst haben dies immer als "industrielle elektronische Volksmusik" charakterisiert. Aber das ist schon oft erzählt worden.
Duchamps Humor
Viel zu wenig wurde thematisiert, dass die Genese der Düsseldorfer Gruppe in der dichten Situation der rheinischen Kunstbewegung der späten 60er-Jahre ihren Anfang nimmt. Und nicht, wie immer wieder falsch kolportiert wurde, im Windschatten der Komponisten Pierre Schaeffer oder Karlheinz Stockhausen. Ich will also über Kraftwerk und die Kunst sprechen. Und zwar jenseits der unterkomplexen Typisierung von Pop-Art versus abstrakten Expressionismus.
Wenn ich an Kraftwerk denke, sehe ich Gilbert & George, Andy Warhol – und konzeptionell arbeitende Künstler wie Bernd und Hilla Becher vor mir, die ja 1970 für die aufklappbare Innenseite der ersten Kraftwerk-LP "Kraftwerk" das Foto eines Transformators beigesteuert haben.
Auch die Bechers sind auf der Suche nach einer radikalen Neuinterpretation des von ihnen verwendeten Mediums und teilen mit der Band das Interesse an einer Typologie der kulturlandschaftlichen Identität des Rhein- und Ruhrgebiets. Parallel dazu wird in den bildenden Künsten eine neue Vorstellung vom Künstler entwickelt, zum Beispiel von Joseph Beuys an der Düsseldorfer Akademie. Wenn ich an Kraftwerk denke, habe ich außerdem den Humor und die reflexive Kraft mancher Arbeiten von Marcel Duchamp im Kopf. Und es funktioniert wunderbar, sich Piet Mondrians neoplastizistische Bilder nicht mit Boogie-Woogie, sondern mit Kraftwerks "Taschenrechner" anzuschauen.
Kraftwerk bedeutet mehr als nur ein Sound
Das sind keine verstiegenen Assoziationen, sondern Einflüsse, die – historisch verbürgt – zusammengehören. Denn Kraftwerk selbst verarbeiten das Unbedingte und Synästhetische der frühen Avantgarden, etwa Fritz Langs Film "Metropolis" oder El Lissitzkys "Proun"-Gemälde im gleichnamigen Song "Metropolis" und in der Gesamtkonzeption des Albums "Die Mensch-Maschine", dessen konstruktivistisches Erscheinungsbild berühmt geworden ist. Und diese Ideenwelt ist für mich im Kosmos von Kraftwerk gegenwärtiger als die Geschichte der elektronischen Musik oder das technische Werkzeug, das die Band zur Umsetzung ihrer Klänge einsetzt.
Kraftwerk bedeutet eben mehr als nur einen Sound, der irgendwo auch irgendetwas mit der Musikhistorie zu tun hat. Kraftwerk sind von Anfang an ein Gesamtarrangement, das die durch die Weltkriege unterbrochenen Avantgarden fortsetzt. Hier hören wir nicht nur ganz neue Klänge, wir beobachten ein gestalterisches Werk, das Bilder und Musik, Individualitätskonzepte, Performance und Medienreflexion zusammendenkt. Zur Entstehungszeit dieser Langspielplatten wirkt das in der Popmusik mehr als außergewöhnlich. Heute ist dieses Prinzip zum industriellen Standard des Gewerbes geworden.
Dabei geht es Kraftwerk nie vordergründig um das Experiment um des Experiments willen. Kraftwerk haben die elektronische Musik ja aus dem Elitären in die Populärkultur überführt. Ihr Sound ist tanzbar, macht Spaß und wird seit inzwischen vier Jahrzehnten von allen Generationen gehört, klassisch instrumentiert, in Clubs gespielt und hat unterschiedlichsten Richtungen wie Hip-Hop, Electro, House, Techno und Synthie-Pop den Weg gebahnt.
Kraftwerk ist Repräsentationskritik
Aber was zeichnet Kraftwerk im Kontext der Geschichte der bildenden Künste der Nachkriegszeit aus? Es ist vor allem das Repräsentationskritische ihrer Konzeption, das hier anschlussfähig wäre. Kraftwerk arbeiten intensiv mit der Ähnlichkeitsbeziehung von Tönen und Dingen. "Autobahn" – vorbeirasende Autos, "Radioaktivität" – Geigerzähler, "Trans Europa Express" – Züge, "Taschenrechner" – Taschenrechner; oder Metall, das auf Metall schlägt, in "Metall auf Metall".
Dieses Verhältnis folgt jedoch nicht einer Tradition der Tonmalerei, bei der ein Paukenwirbel für Donnergrollen stehen kann oder der Zuhörer die Moldau in Bedrich Smetanas gleichnamigem Stück glucksen hören kann. Vielmehr sind bei Kraftwerk die elektronisch nachgebildeten Töne zugleich ein Verweis auf reale Geräusche und eine Abstraktion davon. Und natürlich entstehen sie im Wissen um eine Geschichte der Repräsentationskritik in der Musik. Arnold Schönberg hat schließlich mit der Zwölftonmusik alle Referenzen an die Welt der Dinge und Geschichten negiert, so, wie von Wassily Kandinsky in den Kompositionen der Bauhaus-Zeit das Abstrakte als Absolutes ausgewiesen wurde.
Kraftwerks Tonkomposition für "Trans Europa Express" erschöpft sich nicht im Sound eines fahrenden Zugs, den man mit dem Geräusch eines tatsächlichen verwechseln könnte. Der Sound erzählt davon, was ein abstrahierter Sound aufweisen muss, damit er dennoch als Zeichen funktioniert. Kraftwerk wissen, dass die Zuhörer an einen Zug denken und doch immer schon wissen, dass es nur ein elektronischer Sound ist.
Strategie der Selbstreflexivität
Diese Strategie der Selbstreflexivität kennen wir von der konzeptionellen Kunst der 60er-Jahre. So verbindet sich die Musik von Kraftwerk mit der gegenständlichen Malerei des "Kapitalistischen Realismus" eines Sigmar Polke oder Gerhard Richter. Auch sie ist sich der Tücken der Repräsentation bewusst.
Produkte der Kulturproduktion sind nicht authentischer Ausdruck des Innenlebens ihrer Urheber, sondern gesellschaftlich vermittelt. Diese Überzeugung teilen Kraftwerk mit vielen bildenden Künstlern der späten Nachkriegszeit.
Unmittelbar sichtbar wird das im Bild, dem Auftreten und in der Konzeption der Musiker/Figuren. Seit dem Album "Autobahn" (1974) sind die Protagonisten so deutlich vom angloamerikanischen Modell des Rock ’n’ Roll unterschieden wie kein anderes Musikprojekt ihrer Zeit. Während dort immer vorgegeben wird, das Ehrliche und Echte, das Leiden, die Liebe zu leben und abzubilden, fi nden wir hier das Gegenbild dieser Geisteshaltung. Kraftwerk setzen von Anfang an auf Inszenierung.
Figuren, die Apparate beherrschen
Sehr früh entwickeln sie eine Alternative zum Drummer, diesem schwitzenden Relikt der Rockband. Das elektronische Schlagzeug ist ein Ausweg, der die gleiche Konzentration und Ruhe auf alle Musiker verteilen kann.
Später sind es dann vier Figuren, die alle ihre elektronischen Geräte bedienen. Von den Figuren selbst kennen wir seit "Autobahn" die gepflegte und unaufgeregte Erscheinung, generische Typen, die eher einen Forscher vorstellen als einen Musiker. Sie treten als ironische Darsteller des disziplinierten, vermeintlich angepassten Menschen auf. Eine Absage an die Attitüde des Unangepassten der Rockkultur, mehr noch: ein Denunzieren der kulturindustriellen Spießigkeit vermeintlicher Gegenkultur.
Kraftwerks Attitüde ist das technische, fast mystische Auftreten konzentrierter Figuren, die Apparate beherrschen und bedienen. Und in dem Augenblick, in dem diese technische Ausführung sich auch bei anderen Bands durchsetzt und diese mit großem und teurem Equipment auf der Bühne protzen, entscheiden sich Kraftwerk, mit dem Taschenrechner aufzutreten.
Das Bild des Roboters
Die Entindividualisierung gipfelt im Bild des Roboters, dessen retrofuturistischer Anstrich sich unablösbar mit dem Prinzip Kraftwerk verbindet. Schon sehr früh weisen Kraftwerk den Produktionsprozess ihrer Musik als ästhetisch und ideologisch aus. Ralf Hütter, der 1970 mit Florian Schneider das Kling Klang Studio in Düsseldorf gegründet hatte, spricht von sich selbst immer als Musikarbeiter. Das Projekt Kraftwerk ist als Produkt inszeniert, das von Arbeitern im Dienste einer Idee erschaffen wird. Insofern sind die Roboter mehr als Figuren innerhalb der Inszenierung des gleichnamigen Songs: die allegorisch gesteigerte Idee von Kraftwerk; der Gegenentwurf zum Authentizitätsterror des kulturindustriellen Spektakels, in ihrer konstruktivistischen Erscheinung deutlich mehr der Ideologie des Bauhauses verpflichtet.
Die Inszenierung der Musiker findet ihre konsequente Fortsetzung in den Themen und Inhalten der Alben und Texte. Bei Kraftwerk werden keine Frauen besungen, wie wir es aus der Musikgeschichte gewohnt sind: keine Barbara Ann, keine Suzanne, keine Angie. In den wenigen Liedern, in denen es überhaupt um Liebe geht, handelt es sich um anonyme Kommunikationsteilnehmer wie in "Computerliebe". In dem Stück, in dem eine Frau besungen wird, bleibt sie namenlos: "Das Model". Sie ist jung und sieht gut aus, sie ist professionell im Umgang mit der Kamera, dem Job, ihren Kunden – das Gegenteil einer individuellen Frau, weil prototypisches Model.
Konzeptionelle Geschlossenheit
Es dreht sich um einen ironischen und abgeklärten Zugang zum Verlangen. Weil sie schön ist und ihr neues Titelbild fabelhaft, wird sie begehrt. Die Liebe kennt hier kein Geheimnis, sie wird bestimmt von den kulturellen Normen der Zeit. Mit "Das Model" ist das Wesen des Models kanonisch beschrieben. Andere Stücke widmen sich dem Wesen der Mobilität, kultureller (deutscher) Identitäten, des Mensch-Maschine-Komplexes, der Europaidee der Nachkriegszeit oder des Informationszeitalters. Immer sind die komplexen Sujets gleichzeitig präzise thematisiert, kongenial vertont und doch auch stereotyp distanziert: "Am Heimcomputer sitz’ ich hier und programmier’ die Zukunft mir."
Die konzeptionelle Geschlossenheit von Kraftwerk ermöglicht der Gruppe, ihre Themen so schlüssig zu vermitteln – in Ton, Performance, Projektion und fantastischer Musik.