Boom digitaler Ausstellungen

Virtuelle Museumsrundgänge killen nicht die Museen

In der Coronakrise begeistern sich plötzlich viele für digitale Ausstellungen und virtuelle Museumsrundgänge. Noch mehr kritisieren die Zuflucht der Kunst ins Netz. Beides passiert aus den falschen Gründen

Die Netzkunst hat es nie leicht gehabt. In den 1990er-Jahren war die damals so genannte net.art eine Sache für Nerds. Kunst fand im Browser statt, man musste verstehen, wie Webseiten programmiert werden, um sich einzelne Arbeiten erschließen zu können. Heute ist Netzkunst, wenn man so will, alles, was im Internet stattfindet, also auch Instagram-Kunst wie die Performance "Excellences & Perfections" von Amalia Ulman. Instagram-Künstler wollen nicht Instagram-Künstler genannt werden, weil ein Instagram-Künstler eben kein richtiger Künstler ist. Und jetzt scheint endlich die Stunde derer geschlagen zu haben, die mit ihrer Kunst im Internet zu Hause sind, weil wir alle zu Hause sind und nur das Internet haben, das uns aus unserem Zuhause hinaus in die Welt bringt.

Die Netzkünstler der ersten Generation wie Olia Lialina sind semi-begeistert vom krisenbedingten Digital-Boom im Kunstbetrieb. Lialina twitterte Mitte April: Unhöflich sei es, Einladungen zu Ausstellungen etc. mit den Worten zu beginnen: "Nun, da aktuell alles geschlossen ist und abgesagt werden musste …" Jetzt ist also plötzlich das Interesse da, aber aus den falschen Gründen. Und Aram Bartholl twitterte, kurz nachdem international alle Museen schließen mussten: So neu sei das alles gar nicht, denn Online-Ausstellungen gebe es schließlich schon eine ganze Weile. In einer der Übersichtslisten zum Thema ist die erste Aktivität im Jahr 1991 verzeichnet, vor 30 Jahren also. In der Zwischenzeit ist viel passiert, sehr viel.

Das kann man sich beispielsweise in der Net Art Anthology von Rhizome ansehen, die online und als Buch (440 Seiten!) vorliegt. "Retelling the History of Net Art from the 1980s to the 2010s" lautet die Überschrift, 100 Werke wurden ausgewählt, darunter beispielsweise die ikonische Arbeit "My Boyfriend Came Back From The War" von Lialina aus dem Jahr 1996. Zu jeder Arbeit gibt es einen kurzen erklärenden Text. Lialina ist wie alle Netzkünstler der ersten Generation von einem anderen Medium zum Internet gekommen. Bei ihr war es das Interesse für das Kino, weshalb auch diese Arbeit sich auf das Kino bezieht und ein Narrativ entwickelt, das in einzelnen Szenen erzählt wird und mit Browserfenstern, Hypertext und Bildern arbeitet.

"Wenn etwas im Netz ist, sollte es die Sprache des Netzes sprechen", wird Lialina zitiert, das Zitat stammt aus dem Jahr 1997. Das gilt auch heute noch. Instagram-Künstler beispielsweise Arbeiten mit der Logik der Plattform und entwickeln daraus ein Narrativ für ihre Langzeitperformances und Alter Egos.

Eine neue Sprache führt zu Missverständnissen

Und jetzt also sitzen wir plötzlich alle zu Hause, hängen im Internet ab und besuchen dort Ausstellungen und Galerien. Einige sind das erste Mal mit einer neuen Sprache konfrontiert, weshalb es zu Missverständnissen kommt, die seltsame Auswüchse annehmen. Was man immer wieder liest: Der virtuelle Museumsbesuch kann niemals den realen Museumsbesuch ersetzen, sprich: die Erfahrung vor dem Original. Ja, nein, warum sollte denn das auch so sein? Und wer hat eigentlich in die Welt gesetzt, dass das der geheime Masterplan all derer ist, die jetzt erstmals virtuelle Museums- und Galerierundgänge anbieten?

Stefan Trinks schreibt im Feuilleton der "FAZ": "Bei aller Üppigkeit der Museumsangebote im Netz bleibt jedoch ein Wermutstropfen: Der Generationenspalt zwischen den Digital Natives und den sogenannten Silver Surfern zeigt sich in der Nutzung der Museumsangebote ähnlich wie auf allen anderen gesellschaftlichen Ebenen – wer von den Jüngeren ohnehin Museen eher selten von innen gesehen hat und Ausstellungsbesichtigungen bislang auf das Weiterleiten von vor Van Goghs herumhampelnden Pseudoberühmtheiten beschränkte, wird auch derzeit nichts vermissen und – wenn überhaupt – mit der virtuellen Rosinenpickerei fortfahren. (…) Kein videospielartiges 360-Grad-Geschwenke am Monitor, keine hochaufgelöste Makroaufnahme bis in den kleinsten Schüsselriss eines Bildes wird jemals diese körperliche Empfindung in einem gebauten Museumsraum ersetzen können, schlicht deshalb, weil es virtuell ohne jede körperliche Basis bleibt. Je weiter in den nächsten Wochen also der – zeitliche und körperliche – Abstand zu den Museen rückt, desto schmerzlicher wird man die Originale vermissen."

Und jetzt weiß ich auch nicht … Und meint er eigentlich vor Mona Lisas herumhampelnde Weltberühmtheiten wie Beyoncé und Jay Z? Die Fotografie hat die Malerei nicht ersetzt, Instagram hat die Fotografie nicht platt gemacht und virtuelle Museumsrundgänge werden nicht die Museen killen. Es ist erschreckend, mit welcher Naivität sich diesen Angeboten genähert wird und wie wenig aus der hysterischen Kritik an Neuem in den letzten 150 Jahren gelernt wird. Gerade die Beispiele Van Gogh und Mona Lisa zeigen doch, dass selbst millionenfache Reproduktionen von Meisterwerken nicht verhindern, dass Menschen die Originale sehen wollen. Ganz im Gegenteil, wer hat denn die Mona Lisa bitte nicht auf seiner Bucket List? Natürlich, für Kritiker gibt es eine richtige und eine falsche Auseinandersetzung mit Kunst. Besonders falsch ist aktuell der virtuelle Museumsbesuch. Dabei ist das nur ein Angebot, das Zugang zur Kunst schaffen soll.

Virtueller Museumsrundgang als neue Form der Kunst-Reproduktion

Darüber wird dann auch schnell vergessen, dass das Digitale neue Möglichkeiten für das Erleben von Kunst bietet. Und hier ist nicht das "360-Grad-Geschwenke am Monitor" gemeint, sondern Netzkunst, die mit dem Medium arbeitet. Der Kurator Wade Wallerstein hat unter dem Titel "Circumventing the White Cube: Digital Curatorial Practices in Contemporary Media Landscapes" einen Essay geschrieben, der erklärt, was Kunst und Ausstellungen im Digitalen können. Das Digitale bringe eine radikale Abkehr von den gängigen kuratorischen Konzepten mit sich. Das Digitale mache möglich, dass Grenzen überschritten und neue Formen von Interaktivität entstehen wie die Manipulation von Kunstwerken. "Interaktive Werke können in einer Art und Weise verändert werden die im physischen Raum entweder unangebracht, unangenehm oder unmöglich wären", schreibt Wallerstein. Das will ein virtueller Museumsrundgang nicht. Ein virtueller Museumsrundgang ist vergleichbar mit der Reproduktion eines Kunstwerks beispielsweise in Form einer Postkarte. Nur sind wir jetzt eben ein paar Schritte weiter mit den Reproduktionsmöglichkeiten.

Und jetzt, da wir also alle gerade mit unseren Smartphones und Laptops auf der Couch sitzen, unsere Selfies auf Instagram und unsere Gesichter in Zoom-Meetings auf vielen Screens gleichzeitig sichtbar sind, visualisiert Lialina in ihrer Ausstellung "Best Effort Network" (Arebyte Gallery, London), wie das Internet funktioniert. Ein Karrusell dreht sich auf der Website, irgendwann erscheint Lialina. Sie sitzt auf dem Karusell, ihre Beine baumeln, das Karrusell dreht sich weiter, irgendwann ist sie wieder weg. Die Animation ist immer nur in je einem Browser zu sehen.

Wenn viele Menschen den Browser geöffnet haben und auf sie warten, erscheint die Animation nacheinander in den geöffneten Browsern. "Ich war immer fasziniert von der Tatsache, dass so viele Datenpakete ständig durch das Netzwerk laufen und dass jedes einzelne Paket viele Male hin und her springt, bis es sein Ziel erreicht. Und wenn das nicht der Fall ist, weil ständig etwas schief geht, dann sehen wir nicht, dass es entweder beim erneuten Senden immer wieder auftaucht oder verschwindet. All dies geschieht so schnell, dass wir all diese Verzögerungen nur sehr selten bemerken. Diese Arbeit ist eine Möglichkeit, sie zu visualisieren", erklärt sie in "Artforum".

Vielleicht sollten sich Kritiker einmal mit Kunst im Netz statt mit deren Reproduktion befassen.