Streaming-Logik

Der ewige Strom

Die Kulturtechnik des Streamens dominiert unseren Medienkonsum in der Corona-Krise in bisher unbekanntem Ausmaß. Welche Auswirkungen hat das auf die Kulturproduktion?

"Gestern habe ich geweint – aus Frustration darüber, dass ich so besessen davon bin, zu arbeiten", offenbart Charli XCX der Frontkamera ihres Handys, während sie ungeschminkt in ihrem Garten steht. Tatsächlich zeugt das aktuelle Projekt der britischen Sängerin von einer beachtlichen Arbeitswut: Innerhalb eines guten Monats will sie aus der Quarantäne heraus ein komplettes Album produzieren. Wichtiger als das Endresultat ist dabei der Prozess. Die Musikerin gewährt ihren Followern Einblick in jeden einzelnen Arbeitsschritt, dropt nach und nach Songs, über deren Cover auf Instagram abgestimmt werden darf und veröffentlicht Musikvideos, in denen sie Fan-Videobotschaften aus der Isolation zusammenschneidet. 

Dass sie kommerziell erfolgreichen Radiopop kann, bewies Charli XCX zu Beginn ihrer Karriere. Nach zwei verhältnismäßig generischen Alben schloss sie sich mit dem Label PC Music zusammen, das die kommerziellen Strukturen der Musikbranche und die kantenlose, hochgepitchte Ästhetik der Popwelt in Post-Internet-Manier ad absurdum führt. Seither veröffentlicht Charli Hyperpop, der nach pink verchromten Raumschiffen klingt und von Kritikerinnen und Kritikern als zukunftsweisend gepriesen wird. Indem sie die Logik des Streams integriert, bei dem Daten bereits im Zuge ihrer Übermittlung konsumiert werden, beweist sie nun auch mit ihrem Arbeitsprozess Pioniergeist. "How I'm Feeling Now", angekündigt für den 15. Mai, ist jetzt schon das Album der Stunde. 

Bereits 2018 zeichnete die "New York Times" den Aufstieg einer neuen Generation an Popstars nach, deren Erfolg weniger in Albumverkäufen denn in Streams begründet lag. Künstlerinnen und Künstler wie Cardi B, Bad Bunny, Megan Thee Stallion und Lil Nas X schafften es primär durch strategische Features, geschickte Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken und Songs, die aufgrund ihrer ausgefallenen Musikvideos oder ihrer Tiktok-Tauglichkeit viral gingen, an die Spitze der Charts. Streaming ist die primäre Form, in der wir Medien konsumieren, und beeinflusst schon längst ihre Inhalte. Das Album als abgeschlossenes, für sich stehendes Kunstwerk verliert zunehmend an Bedeutung. In den Vordergrund tritt stattdessen die Figur des Popstars als Gesamtkunstwerk, ein body of work, der einem konstanten Transformationsprozess unterliegt.

Filmbearbeitung nach Kinostart

Wie die biotechnologisch modulierten Körper seiner Schwiegerfamilie Kardashian erfuhr Kanye Wests Album "The Life of Pablo" noch lange nach der Veröffentlichung im Februar 2016 wiederholte kosmetische Anpassungen. Songs wurden neu gemastert, Hintergrund-Vocals und Features von Künstlerinnen wie Sia hinzugefügt, Bässe aufgedreht und ganze Songs neu angefügt. "Life of Pablo ist ein lebender, atmender, sich wandelnder kreativer Ausdruck", twitterte West und erklärte das Album zu #contemporaryart. Dass das Album leben und atmen kann, ist paradoxerweise seiner Immaterialität geschuldet – der Tatsache, dass man es nicht mehr besitzt, sondern abruft.

Langsam erreicht die Logik des Streams auch das traditionelle Filmgeschäft: Vergangenes Jahr machte Tom Hoopers unendlich seltsame Musicalverfilmung "Cats" unter anderem damit Schlagzeilen, dass der Film noch nachbearbeitet wurde, als er bereits eine Woche angelaufen war. Als Reaktion auf mäßige Besucherzahlen und vernichtende Kritiken zeigten Kinos ab Woche zwei eine neue Version, in der grobe CGI-Fehler ausgebessert worden waren. Um den tief in dem Uncanny Valley verorteten Anthropomorphismus und die beklemmende Sexualisierung der von Superstars wie Taylor Swift und Dame Judy Dench gespielten Katzen rückgängig zu machen, war es jedoch zu spät. Besser machten es die Produzenten der Videospiel-Verfilmung "Sonic". Nach Veröffentlichung des Filmtrailers erntete der blaue Igel mit seinen kleinen Augen und seinem allzu menschlichen Gebiss derart viel Online-Spott, dass die Produzenten das Veröffentlichungsdatum des Films um ein Jahr nach hinten verschoben und das Design des animierten Charakters generalüberholten. 

Isolation als Reality-TV-Konzept

Und dann sind da natürlich noch die Streaming-Anbieter selbst. Befreit von der materiellen Friktion, den die traditionellen Verbreitungswege Hollywoods mit sich bringen, ist es Plattformen wie Netflix möglich, mit ihrem Angebot punktgenau auf zeitpolitisches Geschehen zu reagieren. Bereits im Januar bewies der Streaming-Anbieter, der kürzlich den größten Quartalszuwachs in seiner Unternehmensgeschichte verkündete, mit dem Dokumentarfilm "Pandemic: How To Prevent an Outbreak" unheimlich perfektes Timing. In der Isolation versorgt er uns nun mit Reality-TV-Formaten, in denen die Teilnehmenden ein soziales Netzwerk aufbauen, ohne sich jemals zu Gesicht zu bekommen ("The Circle"), sich aus sozialen Isolationskapseln heraus ineinander verlieben ("Love is Blind") und der Versuchung widerstehen müssen, miteinander zu schlafen ("Too Hot To Handle"). Aufgeputscht vom Koffein und raffinierten Zucker unseres cremigen Dalgona Coffee fordern wir noch mehr "Tiger King" und bekommen postwendend eine neue, hastig zusammengeschnitten und unerträglich kalauerhaft moderierte Folge vorgesetzt. 

Im Zuge der Corona-Krise ist das Zuhause, wie Paul B. Preciado es in einem kürzlich auf der Website des Berliner Theaters HAU veröffentlichten Text ausdrückt, zum "Zentrum des Telekonsums und der Teleproduktion" geworden. Der Theoretiker beschreibt, wie Covid-19 den Übergang von einer organischen zu einer digitalen Gesellschaft und von einer industriellen zu einer immateriellen Ökonomie weiter vorantreibt. Wenn Preciado Recht behält, wird sich die Dominanz des Streams durch die Pandemie weiter verfestigen; sein ewiger, fluider Strom wird die Grenzen des Kunstwerks erodieren. Und Charli XCX, isoliert und ultravernetzt in ihrem Hollywood-Domizil, wird den passenden Soundtrack liefern.