Von Silke Hohmann, Saskia Trebing und Leonie Wessel
1. Kurt Schwitters "Merzbau", 1923 - 1927
Während mehrerer Wochen der Ausgangsbeschränkungen kann man entweder einen nie gekannten Putzeifer entwickeln, oder die Wohnung wird langsam zur begehbaren Chaos-Installation. Dann kann man immer noch auf Kurt Schwitters’ "Merzbau" verweisen. Der Dada-Künstler verwandelte ab 1923 mehrere Räume seines Hauses in Hannover in eine verwinkelte Höhle, die sich immer mehr mit expressiven Formen füllte. Die Architektur schien zu wuchern und die Menschen darin zurückzudrängen – ein Gefühl, dass man nach Wochen mit mehreren Personen auf wenig Raum zu kennen glaubt. 1943 wurde der "Merzbau" bei einem Bombenangriff zerstört, noch heute gilt er jedoch als einer der Meilensteine der Installationskunst. Noch mehr Inspiration zu künstlerisch verwilderten Interieurs finden sich zum Beispiel bei der Französin Laure Prouvost, die sich als geistige Nachfahrin von Schwitters versteht.
2. Martha Rosler "Semiotics Of The Kitchen", 1975
Zu Hause Bleiben ist immer politisch – weil dabei die Frage im Raum steht, wer sich um Haushalt und Nahrung zu kümmern hat. In den 60er- und 70er-Jahren setzten sich Künstlerinnen kritisch mit dem Nachkriegsbild der vermeintlich perfekten Hausfrau auseinander, die überglücklich mit allerlei neumodischen Geräten und Maschinen in der Küche steht. Martha Rosler führte in ihrer Performance "Semiotics Of The Kitchen" von 1975 passiv-aggressiv Haushaltsgeräte vor ("Egg beater! Rolling pin!"), die sie alphabetisch nach ihrem Namen ordnet.
Das Werk parodiert die biederen Fernsehköchinnen dieser Zeit, aus jedem ausgespuckten Wort und jeder Bewegung spricht Roslers Frustration über das einseitige Heimchen-am-Herd-Frauenbild. Gleichzeitig werden bei ihr Nussknacker, Nudelholz und Messer zu potenziellen Waffen. Die Küche ist Kampfgebiet.
3. Marina Abramović "Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful", 1975
Sieht man von Sportumkleiden, Bar-Klos mit Spiegel oder dem schnellen Make-up-Check im Smartphone-Display ab, ist Schönheitspflege eher eine Sache für zu Hause. Marina Abramović, die in ihren Performances Körperlichkeit oft mit Schmerz und Masochismus verbindet, wendete sich 1975 in ihrer Arbeit "Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful" dem Haarekämmen zu. Mit zwei Bürsten gleichzeitig reißt sie an ihrer schwarzen Mähne, während sie mit schmerzverzerrtem Gesicht immer wieder den oben genannten Titel vor sich hinmurmelt. Die Kamera nimmt die Rolle des Spiegels ein.
Wer langes Haar schon einmal so ruppig gebürstet bekommen hat, weiß, wie weh das tut. Wie auch Schönheitsnormen weh tun können. Nachmachen ist also nur etwas für Menschen mit robusten Haarwurzeln - könnte aber auch kathartisch sein. Ach, und wenn Sie gerade im Badezimmer sind: Was für Kunst in und mit der Badewanne möglich ist, zeigt die Ausstellung "Körper. Blicke. Macht. Eine Kulturgeschichte des Bades" in der Kunsthalle Baden-Baden - wenn sie wieder geöffnet ist. Wer sich so lange in freier Körperkultur üben möchte, könnte auch die Performance von Marina Abramović und Ulay nachstellen, in der sie sich nackt in einem Türrahmen gegenüber stehen. Wer hindurch will, quetscht sich durch die Lücke zwischen den Körpern. Sorgt im Museum zuverlässig für verschämt entzücktes Kichern. Und ist im eigenen Haushalt auch in Corona-Zeiten erlaubt.
4. Mladen Stilinovic "Artist At Work", 1978
Die Corona-Pandemie hat die Routinen vieler Menschen verändert. Die meisten – natürlich nicht die, die 12-Stunden-Schichten in medizinischen Einrichtungen arbeiten – stehen später auf und schlafen mehr als vor den Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren. Wo soll man abends auch hin? Der kroatische Künstler Mladen Stilinovic (1947 - 2016) hat Schlafen zum Konzept gemacht. 1978 legte er sich für eine Ausstellung in seine Pariser Galerie und ließ sich beim ausgiebigen Nickerchen beobachten. Ein Kommentar zu Kunst und Arbeit und dem kapitalistischen Zwang zur Produktivität.
Wenn man sich der Selbstoptimierung in Krisenzeiten entziehen will, lässt sich das Mittagsschläfchen also durchaus als Verweigerungsgeste deuten, wie auch die Ausstellung "Sleeping with a Vengeance, Dreaming of a Life" im württembergischen Kunstverein in Stuttgart 2019 bewiesen hat.
5. Bruce Nauman "Bouncing In The Corner No.1", 1968
Mit Kunstmachen auf engstem Raum kennt sich Bruce Nauman aus. Sein Video "Mapping The Studio" (2001), für das er nachts sein leeres Atelier filmte und den dort wohnenden Mäusen auflauerte, lässt sich mühelos in "Mapping The Wohnzimmer" umdeuten. Für seine Performance "Bouncing In The Corner No.1" filmte er sich dabei, wie er sich immer wieder in die Ecke eines anonymen Zimmers fallen lässt und erneut aufrichtet. Diese körperbetonte Endlosschleife wird mit der Zeit auf verschiedenen Ebenen schmerzhaft anzusehen. Nur bedingt zum Nachmachen empfohlen. Und auf gar keinen Fall sollte man in diesen Tagen des Social Distancing Naumans Neonarbeit "Welcome Shaking Hands" von 1985 reinszenieren.
6. Sophie Calle "The Chromatic Diet"
Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Paul Auster befreundet und er erschafft eine von Ihnen inspirierte Romanfigur. So geschehen der Konzeptkünstlerin Sophie Calle, die als Vorlage für Austers Charakter Maria Turner im Roman "Leviathan“" diente.
Nachdem sie den Roman gelesen hatte, entschied Calle, die von Auster erfundenen Eigenschaften der neurotischen Maria zu leben und eignete sich deren "Chromatische Diät" an: An jedem Wochentag dürfen dabei bloß Lebensmittel einer bestimmten Farbe gegessen werden. Montag, orange: Karotten, Cantaloupe-Melone, Shrimps. Dienstag, rot: Tomaten, Steak Tartare. Sophie Calle folgte dem kategorischen Reglement einer Woche lang, fotografierte es auf passenden Tellern, und komplementierte die Menüs mit farblich passenden Soßen und Getränken. "Er hatte mein reales Leben benutzt, um einen fiktionalen Charakter zu kreieren und ich wollte den Prozess umkehren", sagte Calle über ihr Kunstwerk. Und jetzt, In Quarantäne-Ödnis, hilft es vielleicht, Sophie Calles real gewordene Kunstfigur zu imitieren, um einer gar zu stumpfen, nudellastigen Kost zu entgehen. Dienstag, rot: Wassermelone, Tomatensoße, Rote Bete.
7. Joseph Beuys "I Like America and America likes Me", 1974
Wahrscheinlich hat man zu Hause nicht unbedingt sofort einen Kojoten zur Hand - viele Menschen verbringen jedoch gerade viel Zeit mit ihren Haustieren verschiedener Gattung. 1974 lebte der Konzept-Papst Joseph Beuys mehrere Tage zusammen mit einem lebendigen Präriewolf in der New Yorker Galerie von René Block - und die beiden kamen gar nicht schlecht miteinander aus, auch wenn der Kojote auf Beuys' Zeitungen pinkelte. Am Ende der Käfig-Performance umarmten sich die beiden sehr herzlich - was bei Tieren ja weiterhin erlaubt ist. Außerhalb des Galerieraums wollte Beuys die komplette Isolation. Er wollte Amerika nicht sehen und keinen amerikanischen Boden betreten - der Legende nach, weil US-Galeristen deutsche Künstler ignorierten. Vom Flughafen zur Galerie ließ er sich in dicken Filz gewickelt in einem Krankenwagen transportieren. In Corona-Zeiten ein makaberes Bild.
7. Wolfgang Tillmans - Küchenstillleben
"Sogar die simpelsten Dinge können ästhetisch sein, wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkt", das stand neulich unter einer feinen Bildkomposition aus Tomaten und Einkaufstüte auf Instagram. Oft werden Stillleben aus scheinbar banalen Gegenständen und Situationen als Darstellung des Alltags verkannt. Ganz falsch, wie Wolfang Tillmans erklärt. Einer der einflussreichsten zeitgenössischen deutschen Fotografen ist unter anderem bekannt für seine detailreichen, puren und rauen Stillleben, die meist Dinge abbilden, die für das ungeschulte Auge "nur eine Obstschale“ oder ein geöffneter Becher Hüttenkäse sind. Seine Stärke sei es, dass er die Besonderheiten einer Situation bemerke, sagte Tillmans einmal.
Durch seine Linse wird Beiläufiges greifbar, persönlich; man riecht die überreifen Pfirsiche, spürt die Wunde des abgeschürften Knies, bewundert die so ausgefeilt dargestellte Artischocke. Tillmans ging es nie darum, sein Leben darzustellen, oder gar sich selbst, mit seinen Fotografien wolle er vielmehr einen neuen Wert erschaffen. Also, nicht einfach die eigene Küche fotografieren, vorher innehalten: was sehe ich, was anderen vielleicht noch nicht aufgefallen ist - eine Komposition aus Aubergine, Zigarettenkippe und gehäkeltem Topflappen in Flieder?
8. John Lennon und Yoko Ono "Bed In", 1969
Da Demonstrieren auf der Straße gerade verboten ist, könnte das "Bed In" von John Lennon und Yoko Ono eine zeitgemäße Alternative sein. 1969 verbrachte das Künstlerpaar in Montreal und Amsterdam jeweils eine Woche in einem Hotelbett, um friedlich gegen den Vietnam-Krieg zu protestieren. Das Bed-In in Amsterdam war sogar der Ersatz für ihre Flitterwochen. Auch das ist in Corona-Zeiten praktikabel. Nur die Gruppe von Pressevertretern am Fußende des Bettes muss man sich im Frühjahr 2020 sparen.
9. Ilya und Emilia Kabakov "In the Closet", 1997
Glaubt man den Chroniken von Narnia, so kann ein ganzes Königreich hinter einer Schranktür liegen. Im Horrorthriller verkriecht sich der kleine Junge im Pyjama im Schrank, Kussspiele zwischen amerikanischen Teenagern findet ebenso dort statt. Ein behaglicher, spannender Ort, dort im Möbel.
Das war vielleicht auch ein Gedanke von Ilya und Emilia Kabakov, als sie ihre Installation "In the Closet" planten. In der Wand eines unauffälligen Korridors ist ein Schrank eingebaut, der verglichen mit der modernen Architektur, in der er sich befindet, gebraucht und alt wirkt. Eine Tür ist leicht geöffnet, hinter ihr findet sich ein winziges eingerichtetes Zuhause, ausgestattet für ein längeres Verweilen. Der Bewohner möchte sich augenscheinlich vom Chaos der Außenwelt abschotten, er ist geflohen, um Einsamkeit und Frieden zu finden.
Jedoch ist das Leben außerhalb der Kapsel immer hörbar und präsent, der Schrankbewohner ist allein und trotzdem mit allen zusammen. Unschlagbar, wenn die Mitwohnenden nach zu langer Zeit des Aufeinanderhockens in ein feines Hintergrundgeräusch verwandelt werden sollen.
10. Sarah Lucas "Selfportrait with Fried Eggs", 1996
Ein berüchtigter Young British Artist sein, das klingt nach einem rebellischen Lebensziel. Das klingt nach Sex, Zigaretten und Spiegeleiern. Zumindest bei Sarah Lucas. Mit ihren provokanten Skulpturen, Installationen und Fotos stellt sie demonstrativ Geschlechterrollen und patriarchale Strukturen in Frage. In ihrer Serie von Selbstporträts sitzt sie oft macho-haft breitbeinig und grob beschuht auf Stühlen, auf der Toilette, auf einer Treppe. Sie isst eine Banane, raucht – und balanciert zwei Spiegeleier auf ihren Brüsten.
Mit harmlosen Lebensmitteln weist die britische Künstlerin ungerührt auf sexuell konnotierte Körperteile hin. Sie stellt die Idee der Künstlerin oder des Künstlers in Frage und wendet sich durch männlich verstandene Haltung, Mimik und ungewöhnlich eingesetzte Requisiten klar gegen die Rolle der Frau als Muse und Verführerin. In "Got a Salmon" trägt sie stoisch einen Lachs über der Schulter. Requisiten findet man idealerweise zu Hause im Kühlschrank, Attitüde trainiere man während der Quarantäne.
11. Guy Ben Ner "Moby Dick", 2000
Guy Ben-Ner hat mit dem Video "Moby Dick" gezeigt, dass man den Klassiker der Weltliteratur in der eigenen kleinen Küche fesselnd nachstellen kann. Man braucht nur ein Seil und ein paar herumliegende Utensilien. Der israelische Künstler hatte auch noch Unterstützung von seiner 6-jährigen Tochter. Dazu: Slapstick und ein paar einfache Filmtricks, und das Größte (Tier, Buch der Weltliteratur, Abenteuer) passt ins Kleinste.