Ein Kinderbuch hat gerade Konjunktur. Es handelt von Frederick der Maus. Eigentlich sollte er mit seiner Familie Nahrung für den kalten Winter sammeln. Aber er steht nutzlos rum und sagt, er sammele Farben und Wörter. Als der Winter kommt, geben die anderen Mäuse ihm zähneknirschend von ihren Vorräten ab. Und irgendwann revanchiert sich Frederick: Er erzählt wunderbare Geschichten und zaubert mit seinen Worten die Farben zurück in die graue Winterhöhle, und schon wird die Dunkelheit wieder besser erträglich.
Was für ein wunderbares Gleichnis für die Situation der Künstler und Künstlerinnen in Zeiten von Corona. Denn verkaufen können sie ihre leuchtenden Farben und schönen Geschichten gerade nicht. Sie geben sie stattdessen umsonst her, in Massen, auf Instagram, bei Online-Events und digitalen Ausstellungen. Und können auf nichts anderes hoffen, als darauf, dass der Mäusestaat sie durchfüttert, mit immer neuen Körner-Ausschüttungen für Solo-Selbstständige.
Helden einer neuen Bescheidenheit
Zum Ausgleich werden sie als Helden einer neuen Bescheidenheit gefeiert. "Kunst wurde immer in kleinen Räumen gemacht; in intimen Settings; unter Druck; tief grabend nach den Quellen", schreibt der New Yorker Großkritiker Jerry Saltz. "Kreativität war schon in den Höhlen bei uns; es ist in jedem Knochen unserer Körper. Viren kommen und gehen. Arbeitet jeden Tag, so viel ihr könnt". So feuert Saltz die Künstler an, und zitiert dann noch den lakonischen Kalenderspruch zur Zeit: Ars longa vita brevis, das Leben ist kurz, die Kunst ist lang.
Es klingt verführerisch, wie Saltz den Künstlerinnen und Künstlern hier den Rückwärtsgang empfiehlt: Endlich wieder nur für die Kunst arbeiten, nicht für den Markt. Und schon landet er dabei im 19. Jahrhundert, bei Spitzwegs armen Poeten und der romantischen Vorstellung vom Genie, das gar nicht anders kann, als Kunst zu machen.
Er hat ja dabei nicht nur Unrecht. Kreativität ist ein Teil des Menschseins, und sie bricht sich Bahn, egal ob Geld im Spiel ist oder nicht. Und es ist schon viel gute Kunst in ärmlicher Abgeschiedenheit entstanden. Allerdings ignoriert diese romantische Vorstellung, dass viele Künstlerinnen und Künstler großartige Werke schaffen, eben weil sie die ökonomischen Voraussetzungen dazu haben – ich persönlich bin sehr glücklich darüber, dass, sagen wir, Marlene Dumas der Welt ihre Bilder schenken kann, ohne Zeit damit zu verplempern, sich um ihr Auskommen Sorgen zu machen. Und ich finde auch nicht, dass man Andy Warhols Factory und ihr umfassendes Erbe jetzt mal eben vergessen kann, weil allein zu Hause, fern vom Markt, angeblich die bessere Kunst entsteht.
Kostenlose Initiativen können sinnoll sein
Künstler und Künstlerinnen machen heute wichtige Projekte in großen, wie Unternehmen strukturierten, Studios, von Tomás Saraceno bis Olafur Eliasson. Ja, diese Studios kalkulieren wie jedes andere Unternehmen auch, haben Umsätze, Kosten und Erträge. Das ist die Realität einer Kunst auf der Höhe der Zeit.
Sollten sich Künstler und Künstlerinnen deshalb in der Corona-Krise auch verhalten wie andere Unternehmer, und ihre Produkte auf keinen Fall umsonst anbieten? Auch das wäre unrealistisch. Kunst ist und bleibt kein normaler Job, den man nach Stechuhr beginnt und beendet. Klar, dass Künstlerinnen und Künstler damit nicht einfach aufhören, nur weil der Kunstbetrieb gerade auf Pause gestellt ist.
Selbst ökonomisch kann es sinnvoll sein, mit kostenlosen Initiativen und Projekten in der digitalen Sphäre präsent zu bleiben. Schließlich funktioniert der Kunstmarkt immer wie eine Art freiwilliges Kreditsystem: Alle werfen ihre Energien unentgeltlich in einen Kampf um Sichtbarkeit, und wer den gewinnt, dem winkt am Ende vielleicht auch ein verkauftes Werk. Wer sich jetzt eingräbt, bleibt am Ende für immer in der Höhle, unsichtbar und vergessen. Und nimmt sich selbst auch noch die Befriedigung, etwas zu kreieren und es zu zeigen.
Das digitale Dauerfeuer erzeugt Sehnsucht nach Erlebnissen
Auch die Befürchtungen, dass die Kunst sich selbst entwertet durch die Flut an Umsonstangeboten in der digitalen Sphäre, sind unberechtigt. Das digitale Dauerfeuer erzeugt weniger Abhängigkeit als Überdruss, es facht die Sehnsucht nach dem echten Erlebnis an, dem Werk in der analogen Sphäre.
Doch trotzdem sollten sich Künstlerinnen und Künstler jetzt keinesfalls auf die Rolle des armen Kreativen im stillen Kämmerlein festlegen lassen. Sie sollten ihrem Publikum gelegentlich klar machen, dass gute Kunst ein knappes Gut ist, das etwas kostet. Auch Farben sammeln ist ein Business, und irgendwann muss man sich davon auch wieder selbst sein Futter kaufen können.