Die Tat ist gerade mal ein Jahr her, doch im derzeitigen Corona-Ausnahmezustand fühlt sie sich leicht wie ferne Geschichte an. Am 9. Oktober 2019 wollte ein schwerbewaffneter Rechtsextremer am jüdischen Feiertag Jom Kippur die Synagoge in Halle stürmen und ein Blutbad unter den 51 anwesenden Menschen anrichten. Doch die Tür des Gotteshauses hielt den Schüssen des 21-jährigen Täters stand und rettete der versammelten Gemeinde das Leben. Stefan B. erschoss eine Passantin und einen Mann in einem Schnellimbiss.
Während die antisemitische, frauenfeindliche und rassistische Weltsicht des Täters ausgiebig diskutiert wurde, weiß bis heute kaum jemand, wer sich zum Tatzeitpunkt in der Synagoge in Halle aufhielt. Wer hätte sterben sollen. Der Berliner Fotograf Benyamin Reich, der seit Jahren jüdisches Leben in Deutschland mit seiner Kamera festhält, wollte das ändern. Für seine Serie "Halle" fotografierte er Jüdinnen und Juden, die am 9. Oktober in der Stadt Jom Kippur feiern wollten und die Schüsse auf das Gotteshaus erlebten. Der Ausdruck der Männer und Frauen auf den teils farbigen, teils schwarz-weißen Bildern ist überwiegend nachdenklich, viele hat Reich mit rituellen Gegenständen fotografiert - mit dem Gebetsmantel Tallit, dem Instrument Schofar aus dem Horn eines Widders oder dem Alten Testament, das zu Jom Kippur aufgeschlagen ist.
Benyamin Reich, der aus einer jüdisch-orthodoxen Familie stammt und im israelischen Bnei Brak geboren wurde, gehört wie die meisten seiner Modelle zur dritten Generation nach dem Holocaust. Deutschland, besonders Berlin, ist inzwischen ein begehrter Ort zum Leben für jüdische Menschen - gleichzeitig fühlen sich viele nicht sicher. Erst nach Taten wie der von Halle registriert die gesamte Gesellschaft, was Juden längst wissen - dass der Antisemitismus nie verschwunden ist.
Die Kippa unter der SS-Mütze
Benyamin Reich reflektiert diesen Zwiespalt in der jüdischen Community in seiner Kunst - aber er vermeidet klare Täter-Opfer-Kategorien. In seiner provokanten Serie "Imagine" inszeniert er zum Beispiel eine fiktive Hochzeit zwischen einer jüdischen Frau und einem Nazi-Funktionär. Ein junger Mann in SS-Uniform offenbart unter seiner Mütze eine Kippa.
Einige der von Benyamin Reich Portraitierten werden als Beobachter am Prozess gegen den Attentäter Stephan B. teilnehmen, der am Dienstag, 21. Juli, in Magdeburg beginnt. Der Künstler selbst ist nach Angaben von Alexander Ochs, der in diesem Frühjahr die Halle-Porträts in seinem Berliner Salon zeigte, vom Museum Moritzburg in Halle zu einem Talk eingeladen - der allerdings aufgrund der aktuellen Covid-19-Situation erst im kommenden Jahr stattfinden wird. Außerdem arbeite Reich mit Valentin Lutset anderen Künstlerinnen und Künstlern an einer Ausstellung für Halle.
Auch der Fotograf hatte übrigens eine Einladung, Jom Kippur am 9. Oktober 2019 in der Synagoge von Halle zu feiern. Weil Benyamin Reich zu der Zeit in den USA war, nahm er sie nicht an. Viele der Menschen, die Stefan B. töten wollte, sind seine Freunde und Bekannte. Mit seinen Fotos will der Künstler dazu beitragen, dass ihre Geschichte nicht vergessen wird.