Chus Martínez, Sie stellen täglich eine kleine Geschichte auf Instagram, die Sie "Corona Tales" nennen. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Ich habe bei der Arbeit mit meinem Team gemerkt, dass die Leute immer nervöser werden, wenn nur irgendjemand hustet. Da habe ich mich an die Geschichten erinnert, die meine Großeltern von der Zeit der Spanischen Grippe 1918 bis 1920 erzählt haben. Das war bei uns total präsent. Meine Großeltern mütter- und väterlicherseits haben alle ihre Eltern oder Elternteile durch diese Grippe verloren. Als mir klar wurde, dass wir demnächst alle zu Hause sein würden, bin ich auf diese Dekameron-Idee gekommen, dass ich jeden Tag eine kleine Geschichte auf Instagram veröffentlichte, einfach als Unterhaltung. Es gibt in diesem Geschichten immer eine Verbindung mit der Grippe, einen Tag spielt sie in der Generation meiner Großeltern, in der Zeit 1918 /1919, die andere Geschichte in der Generation meiner Mutter, bei Leuten, die damals der Armut entfliehen mussten und in der Stadt ein neues Leben anfingen.
Sind das alles Geschichten, die in Ihrer Familie erzählt wurden?
Es ist eine Mischung aus Imagination und dem, was ich in der Familie gehört habe.
Geht es auch darum, mit den Geschichten vom damaligen Massensterben die Probleme heute ein bisschen zu relativieren?
Es soll keine moralische Perspektive sein. Wissen Sie, ich bin für eine Kunsthochschule zuständig, in der in den nächsten Monaten niemand wie gewohnt wird arbeiten können, wir können nicht in die Werkstätten, viele fragen sich, wie es weitergeht. Mit meinen "Corona Tales" will ich nicht sagen "Ach, es war schon mal schlimmer!", sondern einfach Geschichten erzählen, aber in der Hoffnung, dass wir es schaffen, unsere Probleme mit ein bisschen mehr Luft zu sehen, mit mehr politisch-imaginativem Denken, und uns fragen, wie es strukturell weitergehen wird. Mein Großvater hatte alles verloren, aber er war ein sehr positiver Mensch. Ich lade einfach alle ein, über Instagram jeden Abend mit mir einen Aperitif zu nehmen, vielleicht ein Glas Wein zu trinken und eine Geschichte zu hören.
Die 1972 in Spanien geborene Chus Martínez leitet das Institut Kunst an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel und kuratiert Ausstellungen. Zuvor arbeitete sie unter anderen als Chefkuratorin des Museo Del Barrio in New York und leitete die kuratorische Abteilung der Documenta 13