Seit ein bisschen über zwei Jahren verkauft Apple die kabellosen In-Ear-Ohrhörer AirPods. Viele fragten sich damals natürlich, wieso ein Zubehörteil, das sonst "gratis" zu jedem iPod und iPhone mitkam, plötzlich 180 Euro kosten sollte. Nur, weil durch das Wegfallen des Kabels, das Risiko eines der beiden zu verlieren, noch wesentlich stieg? Nur, weil viele feststellen mussten, dass die winzigen Akkus gar nicht so lange halten und die premiumpreisigen Audioprodukte nach Garantieablauf oft nur noch Sondermüll sind? Meine Ohrstöpsel vom Game Boy aus den frühen 90ern funktionieren zum Beispiel noch immer.
Apple wäre aber nicht Apple, wenn sie nicht aus scheinbar profanen Produktkategorien, etwas schaffen würden, wonach sich alle orientierten. Denn während der Verkauf von iPhone, Mac und iPad stagniert, sind die Audiozubehörteile ein richtiger Absatzrenner in Cupertino geworden. Wurden 2018 noch 35 Millionen AirPods verkauft, sollen es 2019 bereits 60 Millionen Einheiten gewesen sein. Für dieses Jahr rechnet man gar mit 100 Millionen. Kurzum, Apple macht alleine mit den AirPods mehr Umsatz als Spotify, Twitter, Snap und Shopify zusammen. Das hat natürlich sämtliche mögliche Konkurrenten mit ins Spiel gebracht. Es gibt kaum einen großen Smartphone-Hersteller, der derzeit keine eigenen kabellosen Nöpsis im Angebot hätte. In-Ears wie AirPods sind (zumindest bei Apple) die derzeit am schnellsten wachsende Produktkategorie. So etwas lässt Investoren aufhorchen.
Seit Jahren entfernt Apple Kabel, wo nur möglich. Der eigentliche "Vorteil" von AirPods ist nicht unbedingt, dass das mühselige Entfleddern von Kabelmäusen entfällt. Sondern vielmehr, dass man die AirPods nicht mehr abnehmen muss. Die Technik verankert sich noch tiefer mit dem Körper. User schaffen sich eine zweite digitale Audio-Blase. Augmented Reality via Sound.
Smartphone tritt als mobiler Server in den Hintergrund
Ganz wie bei der Apple Watch hat Apple natürlich verstanden, dass das Smart-Device selbst eine immer geringere Rolle als zentrales Medium spielen wird. Wer eine Armbanduhr trägt und auch auditiv immer mit der digitalen Welt verbunden ist, muss nicht mehr ständig auf Touchscreens glotzen und dämliche Wischbewegungen machen. Das führt zum einen zu einer immersiveren Verkörperlichung digitaler Kräfte mit dem eigenen Ich. Emanzipiert zugleich vermeintlich aber auch von der Technologie. In diesem Falle vom Smartphone, das immer mehr zu einer Art mobilen Server im Hintergrund wird.
Die Verknüpfung und Interaktionen werden weniger offensichtlich, wenn zugleich intensiver, auch weil intuitiver durch Spracheingabe. Technologie naturalisiert sich gewissermaßen. Nicht umsonst konzentrieren sich Großkonzerne wie Apple auf Gesundheitsangebote wie Health-Tracking, Infarkt-Prävention, EKG und vieles mehr. Erst wollten Technologie-Unternehmen unsere Leben einfacher machen. Von nun an werden sie unsere Leben retten.
In einer Umfrage mit rund 1.000 Teilnehmern will ein Online-Ticketunternehmen im vergangenen Jahr herausgefunden haben, dass 17 Prozent der Befragten ihre AirPods selbst beim Sex nicht abnehmen würden. Sind AirPods nun so etwas wie die neue Tennissocke? Leider fragt die Umfrage nicht danach, wieso? Eventuell weil die Musikgeschmäcker bei der täglich wechselnden Tinder-Polyphonie zu oft unterschiedlich sind? Hilft das für die eigene Comfort Zone? Aber macht es so viel Sinn, wenn die eine Person währenddessen Mariah Carey hört und die andere Megadeth? Von wegen Rhythmus und so. Wie dem auch sei …
"AirPods sind sexy"
So etwas hat natürlich auch popkulturelle Implikationen. Wie sonst lässt sich erklären, dass die "New York Times" ihrer Autorin Sandra E. Garcia rund 5.500 Zeichen einräumt, in denen sie romangleich darüber berichtet, wie sie ihren rechten AirPod in einem New Yorker U-Bahn-Lüftungsschacht verlor und glorreich mit Hilfe des Transportunternehmens wieder fand: "'Wo bist du?', antwortete die Stimme. 'Ich bin beim M.T.A. Ich bin am U-Bahn-Gitter.' Ich ließ meine Blumen und Eukalyptus fallen und lief dahin zurück. Ein Mann, der sagte, sein Name sei King, stand über dem Gitter. Nachdem ich ihm gezeigt hatte, wo mein AirPod heruntergefallen war, öffnete King das Gitter und kletterte eine Leiter hinunter. Kurz nachdem er Blätter und Papier durchwühlt hatte, steckte er seinen Kopf aus dem Loch und streckte seine Hand aus. Er hielt meinen AirPod in der Hand. Ich keuchte."
Lesenswert sind auch die Ausführungen der "Elle"-Kolumnistin Justine Carreon. In ihrem Text "I Am Horny For Guys Who Wear AirPods" erklärt sie die sexuelle und erotisierende Strahlkraft der weißen Super-Nöpsis. Männliche Träger von AirPods würden ihrer Ansicht nach finanzielle Sicherheit ausstrahlen. Sie zeigten, der Mann sei selbstbewusst. Die argumentative Logik hier ist erfrischend und beeindruckend: "Hier ist das Flussdiagramm: AirPods sind lame. Ihm ist es egal, dass AirPods lame sind. Deshalb ist es ihm auch egal, was die Leute von ihm denken (außer Ihrer Meinung, natürlich). Sich nicht zu kümmern ist selbstbewusst. Selbstvertrauen ist sexy. AirPods sind sexy. [...] Stellen Sie sich all die Aktivitäten vor, die man durchführen kann, während man gleichzeitig futuristische Knospen trägt. Ein schnurloser Lebensstil lässt einem Mann die Freiheit, heiße Männersachen wie Liegestützen und das Halten von Babys zu tun. Sie werden nie körperlich oder emotional mit verknoteten Affären verstrickt sein. Ohne eine Schnur sind AirPods darauf vorbereitet, verloren zu gehen. Ein Mann, der AirPods trägt, ist ein Mann, der seine Brieftasche, seine Schlüssel oder Ihr Herz nicht verlieren wird."
Relativ billiger Ego-Boost
Statements wie diese könnten die ganze Luxus- und Autoindustrie (zusätzlich) ins Wanken bringen. Selten war es für Männer offenbar günstiger (AirPods Pro kosten 279 Euro), nachhaltigen Eindruck bei der Damenwelt zu schinden – möchte man den Ausführungen von Frau Carreon Glauben schenken. Nie wieder Porsche, Breitling, Viagra und Brioni?
Das könnte den Hype um AirPods nochmals anfachen, hätte Apple nicht gerade ein Problem. Die Lieferkette und Produktion in China ist durch den Coronavirus stark beeinträchtigt. Die Frage ist daher nicht, ob Apple dieses Jahr 100 Millionen AirPods verkauft, sondern ob diese überhaupt hergestellt werden können. Aber mit Verknappung und so kennt man sich im Apple-Hauptsitz in Cupertino bekanntlich ziemlich gut aus.