Fotograf Martin Schoeller

"Wer sich für den Hass entscheidet, überlebt nicht lange"

Zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz hat der Fotograf Martin Schoeller Holocaust-Überlebende porträtiert. Ein Gespräch über das Trauma der Massenvernichtung, Deutschlands Verantwortung und die Frage, woher Antisemitismus rührt

Martin Schoeller gehört in seiner Wahlheimat in den USA zu den renommiertesten Fotografen; er ist bekannt für seine Close-ups von Hollywood-Schauspielern oder US-Präsidenten. Zum 75. Jahrestag der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau hat er in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Überlebende porträtiert. Zu sehen sind sie in der Ausstellung "Survivors. Faces of Life After The Holocaust", die noch bis zum 26. April im Zollverein in Essen läuft. 

Herr Schoeller, Sie fotografieren sonst Promis wie Bill Clinton oder Brad Pitt, jetzt haben sie Sie für Ihre neue Ausstellung Holocaust-Überlebende porträtiert. Für wen war das eine größere Herausforderung, für Sie oder Ihre Modelle?

Für mich war es insofern eine Herausforderung, weil es so emotional belastend war. Viele der Porträtierten, die deutsch oder englisch sprachen, haben mir ihre Geschichte erzählt. Es wurde viel geweint. Es gab sehr bedrückende Momente. Als ich abends mit meinem Team beim Essen saß, wurde nicht geredet. Wir waren alle fix und fertig. 

Gibt es eine Geschichte, die Sie besonders berührt hat?

Ja, die von Martha Wise. Sie war unter den 7000 Überlebenden in Auschwitz, die noch im KZ waren, als zwei russische Soldaten am 27. Januar 1945 dort ankamen. Die Bewacher waren alle schon weg. Ich hatte einen Zeitungsartikel über die Befreiung des KZs gelesen und ein Foto dabei, das ausgezehrte Kinder hinter Stacheldraht zeigt. Ich habe gesagt, aber Sie sind doch nicht auf diesem Bild, oder? Und sie sagte: "Doch, das bin ich als 10-Jährige – und das ist meine Schwester Eva!" In dem Moment ist es mir kalt den Rücken heruntergelaufen. 

Warum?

Es gibt nicht viele Fotos von Auschwitz, und dass sie gerade auf diesem einen zu sehen ist, ist schon Wahnsinn.

Was haben Sie denn von den Zeitzeugen erfahren, was Sie noch nicht aus Geschichtsbüchern kannten?

Wie der Alltag im Konzentrationslager aussah, das wusste ich schon. Aber es ist ein Unterschied, wenn einem jemand gegenübersitzt und davon erzählt, der es selbst erlebt hat. Es geht gar nicht so sehr um die Geschichte selbst. Es geht um den emotionalen Zugang, der sich dadurch eröffnet.

Wie schwer war es, Überlebende zu überreden, sich fotografieren zu lassen?

Kai Diekmann ist der Vorsitzende des deutschen Freundeskreises der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Er hat die Menschen überredet, sich fotografieren zu lassen. Wir haben sie in der Gedenkstätte fotografiert – an einem Ort, der für viele eine zweite Heimat ist. Sie wussten, wie meine Fotos aussehen und wer ich bin.

Es war also nicht schwer, Ihr Vertrauen zu gewinnen?

Nein, gar nicht. Bei vielen hatte ich das Gefühl, sie dachten, es sei vielleicht ihre letzte Chance, ihre Geschichte zu teilen. Sie haben gleich angefangen zu erzählen – viele auf deutsch, das hat mich wirklich gewundert. Viele waren ja in Bulgarien, in der Ukraine oder in Polen aufgewachsen. Man hat gemerkt, wie sie vor der Nazi-Zeit zu Deutschland hochgeschaut haben. Deutschland war das Land der Kultur. Jeder wollte dort am liebsten leben. Dass sie dann gerade von diesem Land betrogen worden, hat sie doppelt erschüttert. 

Viele dieser Menschen wurden so stark traumatisiert, dass sie später nicht mehr 100-prozentig arbeitsfähig waren. Sie leben heute als Rentner am Rande des Existenzminimums. Gilt das auch für Ihre Modelle? 

Nein, das waren zum größten Teil Menschen, die schon vorher viel mit Yad Vashem zusammenarbeiten, um anderen ihre Geschichte nahezubringen – zum Beispiel in Schulen. Es waren auch nicht nur KZ-Überlebende, sondern auch Menschen, die sich in Wäldern versteckt hatten. Insgesamt waren es 750.000 Überlebende, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel eingewandert sind. Yad Vashem macht da keinen Unterschied.

Hat es für die Zeitzeugen einen therapeutischen Effekt, über die Vergangenheit zu reden? 

Bestimmt. Einige waren schon richtige Profis, die als Zeitzeugen regelmäßig auf Reisen gehen. Es gab aber welche, die noch nie über ihre Vergangenheit gesprochen haben und sich mir gegenüber zum ersten Mal geöffnet haben. Die jüngste war 80 – und die älteste 99. 

Ihre Modelle haben alle etwas gemeinsam. Sie haben etwas überlebt, was heutzutage unvorstellbar ist. Haben Sie ihnen das angemerkt?

Nein, aber ich habe gemerkt, dass es besondere Menschen sind. Es gehört so viel Stärke dazu, so etwas zu überleben – und verzeihen zu können. Man will ja weiterleben. Man will Kinder haben. Man funktioniert. Man muss Geld verdienen. Manche haben mir gesagt: Ich hab 40 Jahre lang nicht darüber geredet. Ich wollte meine Kinder und Enkel nicht belasten. Es reicht, wenn es meine Kindheit zerstört hat. 

Wie kann man anderen Menschen jemals wieder vertrauen, wenn man die Hölle erlebt hat?

Ich habe im vergangenen Jahr Menschen in den USA fotografiert, die zum Tode für eine Tat verurteilt wurden, die sie nie begangen haben. Von denen hab ich gelernt, dass es nichts bringt, wenn man Hass in sich trägt. Die Menschen, auf die man wütend ist, die merken das ja gar nicht. Es bringt einen nicht weiter. Wenn man sich für den Hass entscheidet, überlebt man nicht lange. Er zerfrisst einen selbst.

In Deutschland hat der Antisemitismus wieder erschreckend zugenommen. Im Oktober hätte ein Rechtsextremist ein Blutbad in einer Synagoge in Halle angerichtet, wäre die Tür nicht stabil genug gewesen. Zwingt das die Überlebenden nicht geradezu, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen?

Ich glaube, nicht sie haben einen politischen Auftrag – wir Deutschen haben diesen Auftrag. Wir müssen uns unserer eigenen Geschichte bewusst sein und Verantwortung dafür übernehmen. Als ich zur Schule ging, hatte ich so ein wahnsinniges Schuldgefühl. Der Holocaust war wie so ein großes Gewicht, das auf meinen Schultern lastete. Ich fand die Vorstellung beklemmend, dass die Generation meiner Großeltern diese Gräueltaten begangen hat. 

Dabei hatten Sie damals noch gar nicht gelebt.

Aber ich habe mich trotzdem gefragt: Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich erfahren hätte, dass Juden in Konzentrationslagern systematisch vergast wurden? Auf welcher Seite hätte ich gestanden? Jetzt ist das Schuldgefühl weniger geworden.

Warum?

Ich bin mit einer Jüdin verheiratet, unser Sohn ist jüdisch. Das Schuldgefühl ist einem Gefühl von Verantwortung gewichen.

Ihre Foto-Modelle sehen keineswegs gebrochen aus. Sie strahlen einen beinahe trotzigen Selbstbehauptungswillen aus. Liegt das in der Natur ihrer Geschichte  – oder auch an Ihrer Foto-Technik, dem Close-up? 

Meine Close-up-Technik ist neutral. Ich fotografiere jeden gleich, der vor meiner Kamera sitzt. Ich versuche ihn davon abzulenken, dass er gerade fotografiert wird. Ich suche  immer einen neutralen Gesichtsausdruck. Ich denke, es spiegelt schon eher diese Menschen wieder, dass da ein gewisser Stolz ist. Viele sind nach 1945 nach Israel ausgewandert, und von den Männern  haben einige in der israelischen Armee oder bei den Partisanen gekämpft. Der Kampf ging weiter, um das Land aufzubauen. 

Was macht Ihre Close-up-Technik aus?

Dazu haben mich Bernd und Hilla Becher inspiriert. Das sind Fotografen aus Essen, die zum ersten Mal ein- und dasselbe Motiv in Serie fotografiert haben, um einen Vergleich zu ermöglichen. Sie haben zum Beispiel einen Bildband über Wassertürme produziert. Wenn man 300 Wassertürme gesehen hat, dann wird man nie wieder an einem Wasserturm vorbeigehen und den nicht wahrnehmen.

Aber man kann doch keine Person auf eine 60tel Sekunde reduzieren?

Das stimmt. Alle Porträts lügen. Trotzdem gibt es Fotos, denen es mehr um den schönen Schein geht und Fotos, die versuchen, den Menschen näherzukommen. Darunter sind auch meine.

Stimmt es, dass Sie die Linse Ihrer Kamera immer genau auf die Augenhöhe Ihres Gegenübers einstellen?

Nein, ganz am Anfang habe ich mit einer Großformatkamera gearbeitet und darauf geachtet, dass ich jeden Menschen im gleichen Winkel fotografiere. Das machte ich jetzt auch noch, aber ohne irgendwelche Vermessungen anzustellen. Das ist mir zu technisch. 

Charakteristisch für Ihre Fotos ist das Leuchten in den Augen der Porträtierten. Wie kriegen Sie das hin?

Das liegt an der Beleuchtung. Ich habe jahrelang Annie Leibovitz assistiert, und wir haben diese Lichttests gemacht. Die haben mir gut gefallen. Wenn das Licht von unten kommt, werden die Augen besonders gut beleuchtet. Und die Augen sind ja auch das, worauf man achtet, wenn man sich jemanden anguckt.

Ein Kritiker hat Ihre Porträts mal "gespenstisch ehrlich" genannt. 

Die Leute können über meine Fotos denken, was sie wollen. Aber wenn sie sie als ehrlich empfinden, habe ich mein Ziel erreicht. 

Eine Ihrer Bedingungen ist: Kein Make Up. Der Porträtierte soll so ehrlich wie möglich abgebildet werden. Die Frauen Ihrer Serie "Survivors" haben fast alle Lippenstift. 

Man kann keine berühmten Frauen fotografieren ohne Lippenstift. Das gehört dazu. Manchen Frauen gehen nie ohne Make Up vor die Tür. Es geht ja auch darum, die Leute so zu fotografieren, wie sie sich selbst darstellen wollen. Und bei vielen gehört Make Up dazu. 

In Israel wird seit 2012 jedes Jahr die "Miss Holocaust" gewählt. Damit wollen die Veranstalter die besondere Lebensleistung der Frauen würdigen. Gibt es so etwas wie eine eigene Ästhetik, wenn Menschen schreckliche Ereignisse überlebt haben?

Wenn ich diese Fotos 1946 gemacht hätte, hätte man das vielleicht sagen können. Aber bei meinen "Survivors" ist das jetzt über 70 Jahre her. In dieser Zeit sind so viele Dinge passiert, dass man ihr Leben nicht auf den Holocaust reduzieren kann. Ich überlasse es dem Betrachter, zu entschieden, ob die Gesichter dieser Menschen anders aussehen als die Gesichter anderer alter Menschen. 

Der Antisemitismus ist in Deutschland so stark gewachsen, dass die Bundesregierung einen Antisemitismus-Beauftragten ernannt hat. Welches Signal soll vor diesem Hintergrund von den Porträts der "Survivors" ausgehen?

Der Holocaust wird heute von vielen Menschen wieder angezweifelt oder kleingeredet. Das ist das, was mich am meisten stört. Mir geht es darum, die Geschichte so zu betrachten, wie sie wirklich war – und den Holocaust-Leugnern das Maul zu stopfen. 

Was glauben Sie, was bringt Menschen dazu, den Holocaust zu leugnen?

Ich kann das nicht nachvollziehen. Vielleicht brauchen sie ein Feindbild. Es ist halt sehr bequem, alle Menschen über einen Kamm zu scheren und zu sagen: Die Juden kontrollieren die Finanzen auf der ganzen Welt. 

Bekommen Ihre Frau und Ihr Sohn den Antisemitismus auch zu spüren? 

Nein, wir leben in New York. Da gibt es viele Juden und wenig Antisemitismus. Von den Juden, die ich kenne, trägt allerdings auch niemand eine Kippa. Die meisten Juden sind nicht religiös. 

Die Menschen, die Sie porträtiert haben, sind die letzten Zeitzeugen, die die Konzentrationslager noch selber erlebt haben. Wer soll vor Antisemitismus warnen, wenn sie gestorben sind?

Vielleicht meine Fotos. Ich bin natürlich nicht der erste, der Überlebende fotografiert hat. Es gibt auch Tausende von Büchern zu dem Thema. Aber wenn man über die Fotos einen emotionalen Zugang zur Geschichte gefunden hat, dann prägt sich die Warnung stärker ein.