Mann liebt Frau. Frau liebt Mann auch, aber tut so, als wäre sie eine andere. Die Blondine, deren Rolle die Brünette bloß spielt, muss sterben, so will es das Szenario eines Gangsters. Die echte Frau, die die Blondinenperücke abgelegt hat, lebt weiter – und liebt den Mann immer noch. Das Problem: Mann kann nur tote Scheinfrau lieben. Frau lässt sich von Mann halb widerwillig in Scheinfrau zurückverwandeln. Alles könnte gut werden. Aber durch einen dummen Zufall kommt die Scheinblondine ums Leben.
Alles klar? Wenn man Alfred Hitchcocks Thriller „Vertigo“ (1958) derart auf eine Plotline herunterbricht, droht Unverständlichkeit, mindestens aber Langeweile. Filme sind nun mal nicht Minimal Art, sie leben von Charakteren, Schauplätzen, Set Design, Montage, Musik – und der Erlebnisfähigkeit des Zuschauers. Film ist, vom Publikum her betrachtet, ein erwünschtes Täuschungsmanöver. Wenn gut gezaubert wird, hinterfragen wir die Tricks des Illusionisten nicht. Im Kino lieben wir es, betrogen zu werden.
Douglas Gordon hat mit seiner Found-Footage-Arbeit „24 Hour Psycho“ (1993) belegt, wie stark man einen Film verändern kann, wenn man ihn zentraler Elemente beraubt. Als Einzelbild-Diaschau über eine Zeitstrecke von 24 Stunden präsentiert, wird die dramatische Struktur des Thrillers „Psycho“ derart blockiert, dass selbst dem Kenner die Erinnerung an den Film nicht weiterhilft. Andersherum: Wer „Psycho“ einmal gesehen hat, kann sich an die Gefühlsdichte des Films, den erzeugten Alpdruck, gut erinnern – nur in der „24 Hour Psycho“-Videokabine nicht. Es ist, als würde Gordon die Erinnerungsfähigkeit mit seiner Bilderkanonade unterbrechen.
Gezeigt wird allein der Dirigent der Filmmusik
1999 lieferte der schottische Künstler den Gegenentwurf zur „Psycho“-Arbeit. Die Installation „Feature Film“ besteht aus der Bild-Ton-Aufzeichnung eines Konzerts. James Conlon dirigiert das Orchester der Pariser Oper, aufgeführt wird der komplette Score von Bernard Herrmanns suggestiver Filmmusik zu „Vertigo“. Das Orchester ist nur zu hören, nicht zu sehen. Gezeigt wird, als einzige Hauptfigur des Films, der Dirigent, die Kamera tastet sein Gesicht ab, zoomt mitunter auf Conlons Augen, vor allem aber tritt immer wieder die Gestik der Hände in den Vordergrund – eine Gestik, die die Impulse für das gibt, was wir auf der Tonspur hören. Für diejenigen, die „Vertigo“ gut kennen, genügt diese musikalische Matrix, sich den Film wieder zu gegenwärtigen. Selbst die Pausen – Gordons „Feature Film“ berücksichtigt auch musikfreie Passagen, in denen der Dirigent nichts tut außer Warten – vermag die Erinnerung zu überbrücken.
Erinnerung ist erstens konstitutiv für die Story von „Vertigo“: Nach landläufiger Interpretation geht es um einen Ex-Polizisten (James Stewart), der von seiner (durch Machenschaften eines Verbrechers manipulierten) Erinnerung geplagt wird. Der Essayist und Filmemacher Chris Marker hat die klassische Deutung sehr überzeugend in ihr Gegenteil verkehrt. Der in zwei Teile gespaltene Film würde in der ersten Hälfte eine reale Geschichte erzählen, der zweite, scheinbar die Auflösung liefernde Teil sei ein Traum der Stewart-Figur. Die fehlende Übereinkunft über das, was der eigentliche Plot dieses Films sei, passt zum psychologischen Gesamtwerk des Regisseurs (Gilles Deleuze spricht vom „mentalen Bild“, das Hitchcock im Kino etabliert habe). Jeder Zuschauer entwickelt also ein eigenes „Vertigo“-Gedächtnis.
„Echte“ und „falsche“ Erinnerungen
Zweitens haben „echte“ und „falsche“ Erinnerungen auch die „Vertigo“-Werkgeschichte seit der Uraufführung geprägt. Hitchcock hat seinen persönlichsten Film dem kollektiven Zugriff zwischen 1973 und 1983 entzogen. Aus rechtlichen Gründen konnte „Vertigo“ 20 Jahre lang nicht öffentlich gezeigt werden. Seine Wiederaufführung 1984, der Abgleich des konkreten Kinoerlebnisses mit überwiegend aus zweiter Hand stammenden Erinnerungen, dürften auch Douglas Gordon beeindruckt und ihn zu Arbeit an „Feature Film“ inspiriert haben.
Es handelt sich um das erste Werk, für das Gordon selbstgedrehtes Material verwendete. Verschiedene Motive von „Feature Film“ finden sich in späteren Videoarbeiten wieder, sei es die Aufführung von Musik („k.364“), sei es die Konzentration auf eine Einzelfigur („Zidane - Ein Porträt im 21. Jahrhundert“). Das Motiv der Hände steht (wie beim Dirigenten Conlon) im Vordergrund von Gordons neuer Videoarbeit „Sharpening Fantasy“ – in der er mit den Gesten von Messerschleifern in Tanger spielt. Das Werk ist zusammen mit anderen Werken des Künstlers in der Berliner Galerie Blain Southern bis zum 28. April zu sehen.
Douglas Gordons „Feature Film“ in Berlin