Herr Blume, Sie betreuen für die Stiftung Bauhaus Dessau seit Jahren auch Kooperationen mit Kunsthochschulen. Was können die heute vom Bauhaus lernen?
Was kaum eine Schule jemals aufgegriffen hat, ist die Entschiedenheit, mit der sich das Bauhaus auf die Grundlagen und auf ein ständiges Experimentieren mit ihnen konzentriert hat. Das Bauhaus war ein "Kindergarten für Erwachsene": Farben, Formen und Materialien näherte man sich neugierig wie ein Kind, sorgfältig wie ein Handwerker, aber auch gründlich wie ein Wissenschaftler. Dieses fundamentale Experimentieren wurde lange überstrahlt von einer Marketingoberfläche, die das Bauhaus schon in den 1920er-Jahren selbst geschaffen hat und die bis heute wirkt.
Inwiefern?
Heute schreiben Schulen Rechenschaftsberichte für Geldgeber und Aufsichtsbehörden. Das war am Bauhaus nicht anders, in Weimar finanziert vom Staat, in Dessau von Stadt. Da hat man vor allem die glänzenden, die klaren Dinge, wie die Bauhausleuchten, die Stahlrohrstühle und weiße Flachdachhäuser in den Vordergrund gerückt. Der Humus aber war das Grundlagenstudium. Der Raum für das unorganisierte, abenteuerliche Entdecken und für das neugierige, sinnliche Experimentieren. Dafür einen Schutzraum zu geben, das kann man heute vom Bauhaus lernen.
Grundlagenkurse und ein erstes gemeinsames Jahr sind heute an vielen Kunsthochschulen verankert.
Ja, aber in der Regel ist es so, dass die wesentliche Ausbildung in Fachklassen stattfindet und diese Zeit als die wichtigere verstanden wird. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Bezahlung und im Renommee der Lehrenden: Professoren in den Fachklassen gelten als repräsentativ für eine Schule, während die Grundlagen-Lehrer im Hintergrund bleiben, mitunter nur noch temporär eingestellt und geringer bezahlt werden. Zudem wird oft gefordert, dass die Grundlagen-Kurse auf die Fachklassen vorbereiten.
Am Bauhaus war das anders…
Ja. Die wichtigsten Bauhaus-Lehrenden waren die Grundlagenlehrer. Die waren am besten bezahlt und wurden in Dessau mit eigenen Wohnateliers, den "Meisterhäusern" gewürdigt. Ob Paul Klee, Wassily Kandinsky, László Moholy-Nagy, Josef Albers oder Oskar Schlemmer – all die berühmten Bauhaus-Meister waren Lehrende im Vorkurs. Kurse in den Werkstätten waren dem nachgeordnet, auch wenn deren Produkte wesentlich für die Selbstdarstellung der Schule waren und als wirtschaftliches Rückgrat genutzt wurden. Die Meister am Bauhaus waren außerdem dazu aufgefordert, ihr künstlerisches Konzept zu reflektieren. Das hat die Schule geprägt.
Wie sah diese Reflexion der Lehre am Bauhaus aus?
Heute sagen Professoren an Kunsthochschulen im Rahmen der Antrittsvorlesung, was sie machen wollen und haben dann Lehrfreiheit. Am Bauhaus haben die Lehrenden ihre eigene Arbeit, aber auch ihre Lehrkonzepte in hochschuleigenen Veröffentlichungen vorgestellt, in den Bauhaus-Büchern und den Bauhaus-Zeitschriften. Klee schrieb zum Beispiel 1928 über „exakte versuche im bereich der kunst“. Wassily Kandinsky äußerte sich dazu, wie die Malerei am Bauhaus eine "mit organisierende Kraft" sein kann. Es gab kein einheitliches Lehrkonzept. Jeder der Meister vermittelte die Grundlagen anders.
Was hieß das für den Unterricht?
Die Studierenden konnten wählen und verschiedene Ansätze ausprobieren. Paul Klee gestaltete seinen Unterricht in Anlehnung an Goethes Urpflanze als eine kosmologische Lehre des wachsenden Werdens. Kandinsky vermittelte seine Ideen von Dreieck, Quadrat und Linie und die Kombination von Farben und Formen systematisch, fast schon wie ein Rezept. Bei Moholy-Nagy stand das Licht als Medium im Vordergrund. Auf verschiedene Weise wurden sinnlich-konkrete Grundlagenerfahrungen ermöglicht. Es herrschte eine Art professioneller Dilettantismus. Man war überzeugt, dass sich alles lernen lässt, wenn man es nur leidenschaftlich genug versucht. Viele der Lehrenden waren keine klassisch ausgebildeten Künstler. Kandinsky war promovierter Jurist. Paul Klee und László Moholy-Nagy waren Autodidakten, andere hatten ihr Studium abgebrochen.
Heute wird an Kunsthochschulen, etwa in Braunschweig, vor allem aufgrund von strukturellen Problemen protestiert, weniger aufgrund der Lehrinhalte. Gab es am Bauhaus kritische Studierenden, die versucht haben, etwas zu ändern?
Ja, immer wieder. Manche Studierende fanden den Vorkurs unsinnig. Die haben gesagt: "Wir wollen lernen, wie man Stühle fertigt, Plakate macht und Häuser baut. Wir wollen Geld verdienen und finden die Papierfaltübungen von Josef Albers überflüssig." Andere fürchteten, dass das Bauhaus eine Fachhochschule werden könnte, denn seit 1926 konzentrierte man sich zunehmend auf nützliche Gestaltung. László Moholy-Nagy hatte 1928 gemahnt: "Wir müssen den Geist der Utopie und des Experiments bewahren." Man war uneinig über die Frage, für wen man tätig sein wollte: Für die wohlhabenden Bürger, die neue Mittelschicht, die sich mit Stahlrohrstühlen und Glaslampen einrichtet und die neues Design als ein Distinktionsmerkmal für ein Modernsein braucht? Oder für die Fabrikarbeiter, die einfachen Menschen, das sogenannte Volk? Streit gab es jede Menge. Manche konnten sich auch einfach nicht leiden.
Was wäre im Vergleich zum Bauhaus an einer heutigen Kunsthochschule nicht mehr vorstellbar?
Ich forsche vor allem zur Bauhaus-Bühne als einer besonderen Bewegungs-Pädagogik, die es so nur am Bauhaus gegeben hat. Da haben werdende Maler, Architekten und Designer Formen und Räume getanzt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die aktuellen Strukturen der Kunsthochschulen mit ihren Stellen- und Hochschulentwicklungsplänen Raum dafür bieten, so etwas dauerhaft im Curriculum zu verankern. Es gibt zwar heute immer wieder einzelne Schulen und Lehrende, die sich für solche Experimente öffnen, insbesondere in den Klassen für Medienkunst, doch meist ist dies temporär. Heute liegt ein größerer Druck auf den Studierenden, sich möglichst schnell zu definieren und zu profilieren. Da ist oft wenig Zeit für wildes Experimentieren. Im Vergleich zum Bauhaus sind die Schulen dafür auch viel zu groß. Am Bauhaus waren zeitgleich um die 200 Leute. Man kannte sich. Das war eine überschaubare Gemeinschaft.
In welchen Punkten ist heute eine bewusste Abgrenzung vom Bauhaus sinnvoll?
Es gab einen großen Kult um die Bauhaus-Meister. Diese Art übertriebener Verehrung gibt es zum Teil auch heute noch an Schulen. Undenkbar ist hingegen der am Bauhaus herrschende männliche Chauvinismus, der mit der Auffassung verbunden war, Frauen seien weniger künstlerisch radikal und fürs Weiche und Stoffliche zuständig. Das Bauhaus war keinesfalls eine perfekte Schule. Aber vor allem sind die Rahmenbedingungen mit den heutigen kaum zu vergleichen.
Welche Umstände waren die prägendsten?
Das Bauhaus wurde zu einer Zeit gegründet, als eine Gesellschaft zusammen gebrochen war. Da ist ein Krieg zu Ende gegangen, die Eliten waren verunsichert. Das Bauhaus hatte als eine der wenigen Neugründungen die Freiheit, sich zu entwickeln. Man starte mit dem Größenwahn, die Welt neu zu bauen, indem sich Handwerker und Künstler in der Architektur verbinden. Wie das Bauhaus eine Schule werden sollte, war anfangs gar nicht klar. Es gab keinen Lehrplan, aber ein Manifest. Strukturierter wurde die Lehre erst, als der 1921 von Johannes Itten begründete Vorkurs für alle Studierenden obligatorisch wurde. Dieser Grundkurs prägte bis zur Schließung 1933 in Berlin und verband die Schule.
Gibt es neben der Offenheit des Grundlagenstudiums weitere konkretere Ideen, die Kunsthochschulen heute vom Bauhaus übernehmen könnten?
Es gab keinen Fachabschluss, sondern ein inhaltliches Diplom, in dem stand, was der- oder diejenige am Bauhaus gemacht hat. Ob man auf der Bühne an Raum-Spiel-Tanzprojekten beteiligt war, oder als Baustellenleiter gearbeitet oder Stühle entworfen oder sich mit Farbgestaltungen oder Malerei oder Grafik beschäftigt hat. Das konnte im Laufe des Studiums Verschiedenes sein. Neben dieser Offenheit gab es einen formellen handwerklichen Abschluss, den alle Bauhaus-Studierenden bei einem lokalen Handwerksbetrieb abgelegen sollten. Das war von Beginn an eine Grundidee: Wir bauen eine handwerkliche Ausbildung ein, um die Freiheit des künstlerischen Experimentierens zu ermöglichen und die Leute nicht sozial zu gefährden.
Weil sie auch einen "ordentlichen Beruf" gelernt hatten?
Ja, nach dem Motto: Wenn ihr künstlerisch nichts werdet, dann könnt ihr immerhin noch Stühle bauen, weil ihr ausgebildete Tischler oder Silberschmiede oder Glasmaler seid. Es wäre zu überlegen, ob man solche handwerklichen Aspekte heute wieder stärker ins Kunststudium einbaut. Das könnte auch eine Förderung und Inspiration für Handwerksberufe sein. Gropius hat außerdem den Kreis der Bauhaus-Freunde installiert, der anders als Fördervereine heute, das Bauhaus nicht nur finanziell unterstützt hat, sondern vor allem inhaltlich eingebunden war. Er hat eine eigene Reihe von Bauhaus-Vorträgen organsiert. Die erste Veranstaltung war eine Lesung von Else Lasker-Schüler im Jahr 1920. Diese Lesung hat direkt zur Aufruhr und letztlich zum Eklat zwischen den eher deutsch-national orientierten Studierenden und den liberalen und sozialistisch orientierten geführt.
Ist ein Bauhaus im 21. Jahrhundert überhaupt vorstellbar?
Nein. Der historische Kontext ist nicht rekonstruierbar. Heute hätte auch kein Rektor einer Kunsthochschule die Macht und den Einfluss, wie Walter Gropius als Patriarch zu sagen: "Diese Schule wird so, wie ich es will!“ Heute gibt es demokratische Strukturen und Prozesse und eine Schule würde nicht mehr einer zentralen Idee untergeordnet.
Bis heute orientieren sich Studierenden oft an ihren Lehrenden, schreibt sich die künstlerische Praxis in die nächste Generation ein. Galt das auch fürs Bauhaus?
Teils, teils. Man hat am Bauhaus parallel bei verschiedenen Lehrenden studiert, wenn auch mit Fokus auf einzelne Meister. Studierende, deren Bilder aussehen wie die von Paul Klee, waren interessanterweise fast gar nicht in seinem Unterricht. Es gibt kaum Studierende, die einen ähnlichen Ruhm erreicht haben, wie die Bauhaus-Meister. Max Bill, einer der erfolgreicheren Absolventen, hat mit der strengen Geometrik seiner Bilder und Skulpturen durchaus einzelne Aspekte seiner Lehrer ausgebaut und zugespitzt.
Inwieweit beziehen sich Kunsthochschulen heute auf das Bauhaus?
Es gibt unendlich viele Kunsthochschulen und Gestaltungshochschulen, die sich auf das Bauhaus berufen. Viele begründen dies eben damit, dass sie den Vorkurs-Gedanken des Bauhauses aufgenommen hätten und Werkstattkurse anbieten, die alle Studierenden während des ersten Jahres absolvieren. Gleiches gilt für Schlagworte wie "interdisziplinär" oder "transdisziplinär" oder für das Argument, dass man Kunst weit denkt oder angewandte und freie Kunst nicht streng trennt. Einige sagen auch, sie sind ebenso gesellschaftlich engagiert und widmen sich den Problemen der Zeit, wie es das Bauhaus tat. An Kunsthochschulen für Medien, etwa der KHM in Köln, sehen manche die Bauhaus-Tradition im Interesse für neuste Technologien, das etwa László Moholy-Nagy auszeichnete. Ich arbeite seit vielen Jahren in der Stiftung Bauhaus Dessau. Da kommen immer wieder Professoren und Professorinnen mit ihren Klassen, die sagen: "So arbeiten wir auch. Wir orientieren uns am Bauhaus".
Die Bauhaus-Universität trägt das Erbe im Namen und schreibt sich die Verbindung von Technik und Kunst und Gestaltung auf die Fahnen. Viele Bauhäusler sind an die Burg Giebichenstein und nach Weißensee gegangen. Welche Kunsthochschule darf sich historisch aufs Bauhaus beziehen? Und inwieweit haben Kunsthochschulen das Jubiläums-Jahr zur Reflexion genutzt?
Die Bauhaus-Universität Weimar hat zum Jubiläum 2019 ein eigens "Bauhaus-Semester" ausgerufen, in dem Lehrveranstaltungen für Studierende anderer Fächer geöffnet wurden. Außerdem wurde Geld für studentische Projekte bereitgestellt, die sich auf das Bauhaus bezogen haben. Das hat temporär etwa eröffnet. Abzuwarten ist, ob dieser Impuls weiter trägt oder ob das nur eine Jubiläumsgeschichte bleibt. Als Stiftung haben wir mit dem "Institute of Design" am "Illinois Institut of Technology" in Chicago zusammengearbeitet, das 1937 von László Moholy-Nagy als "New Bauhaus" gegründet wurde. Die Lehrenden haben sich für ihre Gründungsgeschichte interessiert, obwohl das inzwischen eher eine Business-Design-Schule ist. Im Rahmen des Projektes zum diesjährigen Bauhaus Festival "Bühne Total" in Dessau haben sich Studierende für ein Jahr mit dem Bauhaus beschäftigt und eine Art Bauhaus-Formentanz entwickelt, der von Moholy-Nagys Licht-Raum-Experimenten inspiriert war. Ein nachhaltigeres Beispiel ist die China Academy of Art in Hangzhou.
Was passiert dort?
2018 eröffnete ein China-Design-Museum auf dem Campus, das ursprünglich Bauhaus-Museum heißen sollte. Hier konnte ich zusammen mit Lehrenden und Studierenden der Architektur ein Projekt entwickeln, in dem wir Bauhaus-Bühnen-Ideen mit Konzepten der traditionellen chinesischen Oper verbunden haben. Daraus ist mittlerweile ein eigener Kurs entstanden: Tanzendes Gestalten, Tanzen für Architekten. Der ist jetzt fest im Curriculum implementiert.
Steht auch die Hochschule Anhalt in Dessau in der Tradition des Bauhauses?
Man kann an der Hochschule Design und Architektur studieren, aber die Hochschule steht nicht in direkter Bauhaus-Nachfolge. Die Nähe prägt natürlich und es gibt immer wieder Lehrende und Studierende, die etwa in Masterarbeiten auf das Bauhaus Bezug nehmen. Zusammen mit der Stiftung Bauhaus Dessau ist ein gemeinsamer Masterstudiengang entstanden. In "Coop Design Research" können sich Studierende forschend und reflektierend nicht nur mit der Wirkungsgeschichte des Bauhauses, sondern auch mit Gestaltung als Forschung auseinandersetzen.
Auf der Homepage stehen die Studierenden werbewirksam vor dem historischen Bauhaus-Gebäude.
Es gibt immer wieder Veranstaltungen der Hochschule im Bauhaus. Auch die Zeugnisse werden hier vergeben. Dafür mietet die Hochschule die Bauhaus-Aula.
Welche Rolle spielt der Bauhaus-Bezug für das Marketing von Kunsthochschulen?
Natürlich zieht man den Bauhaus-Vergleich gern anlässlich eines solchen Jubiläums oder wenn man Fördermittel braucht. Es gibt aber keine mir bekannte Schule, die sagt: "Wir sind ein neues Bauhaus!" Das will auch keiner sein. Das Bauhaus ist eine historische Institution, die in sich abgeschlossen ist. Sie liefert bis heute Impulse, die in der Regel von einzelnen Lehrern aufgenommen werden. Die Marke ist so stark, da kann man eh nicht mithalten. Das Bauhaus ist inzwischen so etwas wie die Schule der Schulen. Angesiedelt irgendwo im medialen Raum. Das hat man in diesem Bauhaus-Jubiläums-Jahr extrem gesehen. Dabei gerät in den Hintergrund, was das Bauhaus eigentlich war: Eine kleine Schule, die sich in den 14 Jahre ihrer Existenz mit den drei Direktoren Gropius, Hannes Meyer und Mies van der Rohe immer wieder umgestaltet hat und an der insgesamt etwa 2000 Studierende studiert haben. Die Schule hat offenbar so viel produziert, dass es nun bald drei neue Museen in Deutschland gibt und in diesem Jahr unzählige Ausstellungen stattgefunden haben. Der enorme Output dieser Schule mag für einen Unbeteiligten fast wie die Produktion von Außerirdischen wirken.