Wer "Sci-Fi" sagt statt die korrekte Abkürzung "SF" zu verwenden, macht sich bei Science-Fiction-Spezis unbeliebt. Wieder was gelernt – bei Dietmar Dath, der nicht nur selber SF-Romane wie "Neptunation" (2019) schreibt, sondern nun eine fast 1000 Seiten dicke Literaturgeschichte der "Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine" verfasst hat.
Letzteres ist der Untertitel der "Niegeschichte", über deren Genre-Bestimmung sich grob Folgendes sagen lässt: SF taugt weder als Zukunftsorakel à la "Guck mal, ein Flugtaxi im 82er-"Blade Runner’", noch können Raumschiffe oder Zeitreisen als besondere Kennzeichen der Gattung gelten. Laut Dath erzählt Science-Fiction von Dingen, die NIE passiert sind und sich wahrscheinlich NIE ereignen werden. Charakterisiert das die "Star Wars"-Reihe, deren Episode IX Sternengucker weltweit entgegenfiebern? Nein, behauptet Dath. Warum gehören George Lucas’ Popmythos und filmische Fantastik generell dann trotzdem in eine Literatur-"Niegeschichte"? Dazu haben wir fünf Thesen aus dem Buch herausgearbeitet.
"Star Wars" ist keine Science-Fiction
Fast jedem ist klar, dass durch den schalltoten Weltraum dröhnende Raumschiffe und der Glaube an die alles durchdringende "Macht" nie so recht in die SF passten. Wenn Dath "Star Wars" ins Nachbargenre der Science-Fantasy steckt, überrascht das also nicht. Doch er erklärt auch, warum es praktisch unmöglich ist, klare Science-Fiction-Merkmale aufzustellen, gegen die Lucas’ Saga verstieße (andernfalls könnte sich Dath ja auch 90 Prozent "Niegeschichte" sparen). Daumenregeln wie "SF muss plausibel sein, Fantasy nicht" erteilt Dath eine Absage. Aber wie funktioniert die "Denkmaschine"?
Fantastik lebt von der "Aufhebung des Unglaubens"
Bei der SF ist sozusagen irgendwo eine Schraube locker – ohne dass der Denk-Apparat groß ins Stocken kommt. Auf den ersten 100 Seiten spielt das vom romantischen Dichter Samuel Coleridge entdeckte Prinzip der "Suspension of Disbelief" eine zentrale Rolle. In der fantastischen Literatur, deren Untergattungen Horror, Fantasy und Science-Fiction bereits bei Mary Shelleys "Frankenstein" (1818) angelegt sind, wird auf unterschiedliche Weise der "Unglauben" der Leserschaft ausgehebelt.
Dath betont aber, dass Fantastik keine Glaubenssache ist, dass das Publikum vielmehr das jeweilige Spiel mitspielt, wenn die Rahmenbedingungen stimmen: SF-Erzähler gehen von einer verrückten Grundannahme aus (etwa: Zeitreisen sind möglich), sollten die Folgen ihrer absurden Hypothesen aber dann sehr präzise ausgestalten. Dath schreibt aber auch: "Der Pfad der Nachprüfung, so begehbar er hypothetischerweise sein mag, soll nicht betreten werden, die Erfahrung des Publikums wird für unzuständig erklärt" (Einen anderen, nicht-literarischen Weg beschreitet Randall Munroe in seinem populärwissenschaftlichen Buch: "What if?", verlegt bei Penguin).
George Lucas ist ein nachlässiger Fantasy-Welten-Bauer
Die Untergattung der Fantasy, von Mary Shelley als Ästhetik des "Enchantment" umschrieben, überwindet die Skepsis der Leser auf andere Weise als die SF. Vorannahme der Fantasy ist, dass es viele Welten gebe – soviele das menschliche Vorstellungsvermögen fasst. Fantasy rufe "Mythenmuster" auf, schreibt Dath, und dem "Bilder- und Motivgut, das die Alten uns hinterlassen haben, wird in der Fantasy grundsätzlich keine (rationale) Quellenkritik zugemutet."
Was das "World Building" angeht – man vergleiche "Star Wars" mit Tolkiens minutiös ausgepinselten Erzähl-Hintergründen in den "Herr der Ringe"-Romanen – kann man George Lucas aber Nachlässigkeit vorwerfen. Wie Dath schreibt, sperrt Lucas, der sich ohnehin als Eklektizist schamlos in der Mythen- und Hollywoodgeschichte bedient, alles "was an World-Building-Hintergrund geleistet werden muss, ins Medium Text (ein und lässt) diesen Text als eine Art Ouvertüre zum eigentlichen Kunstwerk vorab durchs Gesichtsfeld ziehen und dann entsorgen, nämlich im Vakuum des Weltalls nach hinten" – womit Dath auf die unverzichtbaren zentralperspektivischen Lauftitel am Beginn jeder "Star Wars"-Episode anspielt.
Einzig "Rogue One" ist vielleicht doch Science-Fiction
Für Dath ist es mehr als eine Formalie, dass der erste außerhalb der "Star Wars"-Trilogien angesiedelte Film "Rogue One: A Star Wars Story" keinen Abrolltext am Anfang zeigt. Als Teil des "Star Wars"-Kosmos, aber wie schon Episode VII nicht mehr von Lucas produziert, stelle dieser "düsterste 'Star Wars'-Film" als einziger Fragen, die auch Hardcore-SF behandele: "Wie äußert sich die Geschichtlichkeit unseres Wissens und Könnens (Science) in Schicksalen, die man so darstellen kann (Fiction), dass die Darstellung selbst etwas zu unserem Wissen und Können beiträgt, wenn wir das Dargestellte mit dem vergleichen, was wir über unsere tatsächlichen Vor- oder Rückschritte als Gattung wissen?" (Dath).
Der Autor der "Niegeschichte" liest "Rogue One" als eine Art Reenactment des (Widerstands im) Zweiten Weltkrieg(s) und folgt damit seinem Regisseur Gareth Edwards, der seinen während des Aufstiegs von Donald Trump produzierten Film als explizit antifaschistischen Kommentar aufgefasst wissen wollte.
Star Wars machte der SF-Avantgarde den Garaus
Dietmar Dath wuchs mit Erzählungen der New Wave auf, die ihre Hochphase in den 60er- und frühen 70er-Jahren erlebte. Der Autor behandelt die mit etablierten Science-Fiction-Konventionen brechende New Wave in der Mitte der "Niegeschichte". Neben Philip K. Dick (dem Autor der "Blade Runner"-Vorlage) und J.G. Ballard war Harlan Ellison ein wichtiger Vertreter dieser SF-Avantgarde. Dath fasst Ellisons Credo so zusammen: "Kunstformen müssen Wissensformen ähneln, nicht unvermittelten Erfahrungsformen, ihre Umrisse sind daher begrifflich statt sinnlich zu ertasten (...)".
Ausgerechnet der experimentierwütige Harlan Ellison schrieb 1967 die berühmte "Raumschiff Enterprise"-Folge "Griff in die Geschichte", ein Skript, das allerdings bei den Dreharbeiten intellektuell entschärft wurde. "In den Siebzigern", schreibt Dath, "als die New Wave einige Prinzipien der klassisch modernistischen Avantgarde zu schnelleren und schlankeren Maschinen umrüsten wollte, mit denen sich die SF sollte weiterentwickeln lassen, wurde das Spiel (...) von SF-Popkunst beiseitegeschoben und zerdrückt".
Was sich mit den Breitwand-Space-Operas der 50er ("Alarm im Weltall") und Serien wie "Raumschiff Enterprise" angekündigt hatte, wurde ab 1977 mit den "Star Wars"-Filmen vollstreckt: Pop killte Avantgarde. Wie die Science-Fiction-Literatur sich vom Schlag mit Laserschwert und Melodramatik erholte, warum "Star Wars" und visuelle Künste als Fantastik nicht per se schlecht sind und worin der ästhetische Sinn und der Erkenntniswert von Science-Fiction liegen, liest man in Dietmar Daths hinreißender "Niegeschichte", die das Zeug zu einem Standardwerk der Science-Fiction-Theorie hat.