Der Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte (1935-1986) war Reisender in Sachen Kolonialismus, Religion und Sex. Eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin lässt zeitgenössische Künstler entlang seiner Reiserouten auf Fichtes Texte antworten. Der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen hat die Schau mitiniiert. Ein Gespräch über Fichtes Interesse an der afrikanischen Diaspora, seine Utopie von der Verschwulung der Welt und die Probleme, die das mit sich bringt.
Hubert Fichte ist viel gereist, und der Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt sind fünf Stationen entlang seiner Reiseroute vorausgegangen. Künstler hatten dort die Gelegenheit, auf Fichtes Texte und Beobachtungen zu antworten. Wie wurde das aufgenommen?
Total unterschiedlich. Fichte hatte verschiedene thematische Bezüge zu den Orten: In Afrika, besonders in Dakar, ging es um die Unterschiede zwischen kolonialer und afrikanischer Psychiatrie - also Institutionen im Verhältnis zu lokalen Gesellschaften. In Chile traf er den sozialistischen Ministerpräsidenten Salvador Allende, und stellte ihm die Testfrage, ob dieser Sozialismus mit dem umgehen kann, was Fichte die älteste revolutionäre Bewegung der Welt nennt: den Schwulen und Lesben. In New York interessierte er sich für die afroamerikanische Diaspora-Kultur, und in Brasilien ging es vor allem um Candomblé, eine afro-brasilianische Religion mit Wurzeln in Westafrika.
Was verbindet diese Themen?
Eine gewisse Gemeinsamkeit ist die afrikanische Diaspora: in New York eher als Gegenkultur, in Salvador da Bahia als die dominierende Kultur. Die Kultur des schwarzen Roms, wie Fichte es einmal nennt. In Bahia gab es Reaktionen direkt aus der Candomblé-Welt. Leute, die in der Ausstellung gezeigt werden, wie Ayrson Héraclito, der auch zur Eröffnung ein Candomblé-Ritual durchführte, oder Adriana Schneider vom Coletivo Bonobando sind selbst initiierte Priester dieser Religion. Diese Leute sind aber auch Intellektuelle und Künstler, die auf Fichtes Aneignung des Candomblé reagierten.
Gibt es auch kritische Reaktionen auf Fichte?
Manche haben auf die grundsätzliche Tatsache reagiert, dass da ein zwar irgendwie offener und aufgeklärter, aber eben weißer, westlicher Reisender kommt, der sich auf fetischistische Weise auf schwarze Körper bezieht. Es gibt auch Leute, die sehr stark auf das Spezifische an seiner Literatur reagiert haben. Und es gibt Leute, die den Bezug von bildender Kunst und Texten selbst thematisiert haben.
Die US-Künstlerin und Autorin Tiona Nekkia McClodden schreibt lakonisch in ihrem Katalogbeitrag über "Xango", Fichtes Buch zu Candomblé: "Ich bin nicht beeindruckt." Fichte braucht die Kulturphänomene der Diaspora für seine Poetik, aber brauchen die Leute an den jeweilige Ausgangsorten Fichte?
Bei McClodden ist es speziell, denn sie hat einen ganz spezifischen Zugang zur Yoruba-Religion, insbesondere zur Gottheit Xango. Sie ist selbst eine Initiierte. Grundsätzlich schreibt Fichte aber im Gossip-Modus. Alles ist ein Ausplaudern. Das steht über allem als Ethos. Das ist auch einer der Gründe für dieses Projekt: Dass Gossip nur funktioniert, wenn die Betroffenen Einspruch erheben können. Der Schriftsteller und Lektor Fritz J. Raddatz, über den Fichte unglaublich viel gegossipt hat, hatte diese Möglichkeit. In New York oder Salvador da Bahia gibt es die betroffenen Personen zum großen Teil aber nicht mehr.
Was tun?
Andere müssen das vertreten. Und es kann eben sein, dass die das überhaupt nicht interessiert. Oder es interessiert sie in einem größeren Zusammenhang.
Es kommt bei Fichte durchaus zu Missverständnissen. In seinem Band "Die Schwarze Stadt", einer Sammlung von Texten über afroamerikanische Kunst in New York, gibt es eine Stelle, an der Fichte den Maler Michael Chisolm interviewt. Ich habe das Gefühl, der Schriftsteller will auf einen Universalismus hinaus — aber der Künstler sträubt sich.
Ja und nein. Chisolm ist zu dieser Zeit eher ein westlicher modernistischer Universalist der Malerei, zugleich Vertreter einer aktivistischen schwarzen Kunst. Fichte hat vom amerikanischen Modernismus keine Ahnung: Er kommt von provinziellen Surrealismus aus Hamburg. Er hält Chisolms Weigerung, sich für etwa den Künstler Paul Wunderlich zu interessieren als einen Ausdruck seiner afroamerikanischen Position. Dabei ist es eher die offizielle US-Position. Zugleich will Fichte die ganze Zeit, dass Chisolm zugibt, dass es eine universalistische afrikanische Diasporakultur gibt. Darin wäre nicht die europäische Zentralperspektive der bestimmende Modus des Sehens, sondern der Palimpsest, also das fortwährende Überschreiben und Übermalen. Chisolm soll sagen, dass Graffiti größere Qualitäten hat als europäische Malerei, und das findet der irgendwie abwegig, manchmal auch essenzialistisch..
Solche Übersetzungsschwierigkeiten waren auch Thema bei der Tagung zu "Liebe und Ethnologie". Dort kam aber auch die Frage auf, welchen Zugang man als weißer Deutscher zu Fichte hat.
Eine Frau aus dem Publikum hatte genau die richtige Antwort: Dass er eben auftauchte in einer Welt, die geprägt war von totaler Leere, postfaschistischer Dürftigkeit. 1976 erscheint dann "Xango" vor der Folie dieser nachkriegsdeutschen Tristesse.
Heute finde ich die Frage aber schwerer zu beantworten.
Es gibt ja ganz viele Schichten der Rezeption. Für manche ist er der Popliterat und als solcher ein paar mal wiederentdeckt worden. Dann gibt es den schwulen Fichte und den Ethno-Fichte. In der Ethnologie hat er dann auch versucht, Anschluss an den Mainstream zu finden, er hat versucht, eines seiner Bücher als Dissertation einzureichen. Die Hälfte der Leute aus dieser Welt hält ihn für einen unseriösen Quatschkopf, die andere Hälfte ist irgendwie beeindruckt. Dann gab es in Deutschland einen literarischen Rückbezug auf ihn, in der Generation von Kathrin Röggla und Thomas Meinecke.
Fichte hat auch zur Psychiatrie in Westafrika publiziert. Man kann sich gut vorstellen, dass das bei Michel-Foucault-Lesern total gut ankommt.
Jein. Er ist rezipiert worden in dem sogenannten "Vernunftkritik-Boom". Das ist so zwischen Poststrukturalismus und neuem Interesse an Ethnologie entstanden, aber auch im Zuge einer Wiederentdeckung von surrealistischen Klassikern in den späten 70ern. Was ich viel interessanter finde - was aber verschüttet ist: Foucault war ja von 1959 bis 1962 als Kulturattaché am französischen Konsulat in Hamburg. Sein engster Freund war der Schriftsteller Rolf Italiaander. Und bei ihm hätten sich Fichte und Foucault begegnen können.
2019 scheinen ja wieder andere Aspekte von Fichte sehr aktuell. In der Kunst ist das Fortdauern des Kolonialismus ein ständiges Thema.
Dass die Gegenstände, die ihn umtreiben, unabgegolten sind, ist sicherlich einer der Gründe für "Liebe und Ethnologie". Die Kunstwelt ist einerseits vielstimmig, andererseits hat sie wahnsinnigen Gedächtnisverlust. Heute weiß ja niemand mehr, was Post-Internet-Art war. Das verläuft in Zyklen von vielleicht drei Jahren. Die Überlegung war also nicht: jetzt mal Fichte. Im Vorfeld der Ausstellung haben wir eher mit dem Gedanken gespielt, zu sagen, wir wollen die Empfindungen restituieren.
Restitution - ein Reizwort für manche.
Wir haben an die allgemeinen Debatten über Kolonialität gedacht und daran, dass es bald ein Humboldt Forum geben wird.
Fichte als Gegenbild zu Humboldt?
Wir wollten eigentlich parallel zum Humboldt Forum eröffnen, aber die sind ja jetzt verspätet. Wir wollten dann hier ein Fichte-Forum haben. Der natürlich nicht einfach der Anti-Humboldt ist, aber doch was anderes.
Es gibt viele ethnologische Museen in Deutschland — warum haben Sie die Ausstellung ausgerechnet im Haus der Kulturen der Welt gemacht?
Weil das Projekt eine größere Dimension hat als nur die Ethnologie, und ethnologische Museen in der Regel nicht solche Projekte machen wollen. Außerdem habe ich schon häufiger mit dem HKW zusammengearbeitet. Für mich war das naheliegend, und während der Eröffnung dachte ich, ja, das ist doch genau der Auftrag dieses Hauses.
Würden Sie jetzt sagen, dass das Projekt gelungen ist? Oder kann man da überhaupt von Gelingen sprechen?
Das ist ganz schwer. Das ist ein Projekt, das zu keinem Genre gehört. Ich weiß gar nicht, was die Maßstäbe sind. Ich würde sagen: was es generiert, ja. Aber es war ziemlich kompliziert und arbeitsintensiv, diese globale Verbindung herzustellen: Verleger im Senegal oder in Brasilien zu finden, die jetzt von diesem Autor Bücher verlegen oder auch Museen und Institutionen zu finden, das war schwierig.
Ich stelle mir das sehr schwer vor, das Projekt jemandem nahe zu bringen: Wir haben hier einen Autor, der sich für die Erfahrungen von Menschen in der afrikanischen Diaspora interessiert hat, mithin für eine postkoloniale Perspektive, die er eigentlich nicht einnehmen kann. Wie funktioniert so etwas heute?
Erstaunlicherweise haben mit ganz wenigen Ausnahmen sich alle sehr differenziert damit auseinandergesetzt. Es gab eine einzige Künstlerin, die gesagt hat, daran ist alles falsch, und ich mache jetzt was ganz anderes. Aber sonst ist alles dabei, von Parodien — das Coletivo Bonobando zum Beispiel — über das Herausgreifen einzelner Aspekte bis zu historischem Interesse.
Fichte hat ja diese utopische Idee von der Verschwulung der Welt. Was heißt das?
Was das bedeutet, kann man nur erschließen, denn es wird nicht erläutert. Ich persönlich tendiere dazu, obwohl Fichte so systematisch nicht denkt, das mit dem Begriff der Empfindlichkeit zusammenzubringen. Einer utopische globale Verständigung also, die analog zu Sex läuft. Und schwul deswegen, weil die existierende Klandestinität schwuler Kultur in den 70ern das Organisationsmodell ist. Das ist das Netzwerk. Die Utopie besteht aus diesen zwei Teilen: dem Netzwerk und der Empfindlichkeit.
Die Ausstellung trägt die "koloniale Dialektik der Empfindlichkeit" im Untertitel, aber was genau soll das sein?
Empfindlichkeit heißt, sich durchlässig machen, passiv werden, Dinge geschehen lassen. Wozu Fichte selbst wahrscheinlich nicht besonders gut geeignet war. Das ist in unserem Ausstellungstitel aufgegriffen, wenn wir von der kolonialen Dialektik sprechen. Denn wenn jemand durch die Welt zieht und sagt: Ich mache mich empfindlich, dann weist er den Anderen eine bestimmte Rolle zu. Das ist die Dialektik, da kippt es. Die Empfindlichkeit ist dann nicht mehr etwas Öffnendes, sondern er nimmt sich das Recht empfindlich zu sein, und die Anderen müssen ihn penetrieren.
Die Empfindlichkeit ist sein erkenntnistheoretisches Ideal?
Ja, das ist genau der Punkt.
Ich muss bei Fichte immer wieder an den US-Schriftsteller William Burroughs denken. Das ist ein Reisender mit ähnlichen Interessen.
Burroughs ist einer von Fichtes drei Leitsternen. Er sagte einmal, die drei wichtigsten lebenden Schriftsteller seiner Zeit seien Burroughs, Jean Genet und Jorge Luis Borges. Von den drei kommt Burroughs aber am wenigsten vor. Vielleicht weil der entscheidende Einfluss der Arbeit nie benannt wird. Fichte hat aber bei Burroughs gelernt: die Vielstimmigkeit, die irren Montagen.
Bei Burroughs gibt es auch diese verborgenen Netzwerke der Homosexuellen, eine Welt hinter der Welt.
Und Fichte ist genau wie Burroughs ein Verschwörungstheoretiker. Davon redet Raddatz, dass der späte Fichte überall die CIA, den KGB und den Papst sieht. Und Aids hält er sowieso für eine Verschwörung.
Ist das nicht eine alte Geschichte: Von Paul Gauguin über Burroughs bis heute, der weiße Künstler reist in ein exotisches Land und sieht dort seine sexuellen und kolonialistischen Fantasien auf einen Schlag erfüllt.
Der Unterschied ist, dass der heterosexuelle Weltenbummler durch die Welt zieht und die Früchte erntet - extrahiert. Fichte weiß schon, dass das ein Problem ist. Das ist einer der Gründe, warum er die Empfindlichkeit entwickelt. Das heißt natürlich nicht, dass die Empfindlichkeit das Problem löst, sie hat natürlich auch eine koloniale Komponente, nur etwas komplexer. Sie ist so etwas wie eine undialektische Antwort auf die alte Extraktion. Aber auf der anderen Seite ist auch schwer zu sagen, was damals die Alternative für ihn gewesen wäre.