Wer in der kleinen Hafenstadt Lakki auf der griechischen Insel Leros aus einem Boot oder Taxi steigt, könnte meinen, in einem Fellini-Filmset oder einem Gemälde von de Chirico gelandet zu sein: Helle modernistische Bauten entlang einer sanft gekurvten Bucht. Dynamische Rundungen wechseln mit geraden Linien, dazwischen grasen Esel. Ein minimalistischer Uhr-Turm in weiß und braun überragt den Marktkomplex, aus einer halboffenen Kuppel wächst eine Palme.
Ein Spaziergang durch die rasterartig angelegten Straßen lässt nicht von ungefähr an italienische Planstädte der 1930er-Jahre denken: Auch Lakki wurde zwischen 1933 und 1938 im Auftrag Italiens erbaut, zu dessen Territorium die griechischen Dodekanes-Inseln in dieser Zeit gehörten. Das Gebiet wurde 1912 während des italienisch-türkischen Krieges von den Italienern besetzt. Um die auf Leros stationierten Offiziere der Marine und Luftwaffe mit Wohnungen und einer urbanen Infrastruktur für ihre Familien zu versorgen, beauftragte der damalige Gouverneur Mario Lago die beiden Architekten Rodolfo Petracco und Armando Bernabiti mit der Planung einer neuen Stadt namens Portolago.
Realisiert wurde sie im Stil des Rationalismus, der italienischen Version der architektonischen Moderne - und gleichzeitig Zeuge von Mussolinis faschistischer Herrschaft. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde aus Portolago das griechische Städtchen Lakki, doch die klare, an Bauhaus und Internationalem Stil orientierte Geometrie der Formen prägt den Ort bis heute – wenngleich die Zeit und das Salzwasser dem Ensemble schwer zugesetzt haben und etliche Bauten heute in einem leicht morbiden Dornröschenschlaf liegen.
Politik von heute sickert in die Politik von damals
Die Berliner Künstlerin Diana Artus hat die in die Jahre gekommene Ordnung von Lakki in ihren Fotografien eingefangen. Allein die Farben der Umgebung geben dem Architekturensemble eine komplett andere Ausstrahlung als den mitteleuropäischen Verwandten. Die Natur hat sich Teile von Lakkis Raster zurückgeholt und in Diana Artus' Fotografien gehen die geometrischen Formen der Bauten und die organischen Formen der Vegetation eine spannungsreiche Verbindung ein.
Außerdem ist Lakki ein Ort des ständigen Wandels, und in die Politik der Vergangenheit sickert die Politik von heute. Die Architektur ist sozusagen eingewandert, trägt ihr faschistisches Erbe mit sich. Die Namen und die Nationalitäten haben sich geändert und heute hat Leros wie viele andere griechische Inseln ein Flüchtlingscamp. Menschen kommen von der Türkei aus übers Meer - und ertrinken immer wieder darin. Leros ist ein Ort des Exils - während der griechischen Militärdiktatur wurden hier linke Dissidenten festgehalten. Heute schlummert inmitten der großen Fragen der Gegenwart ein unbehaglicher und weitgehend unbekannter Architekturschatz. Die Häuser von Lakki können in ihrer Ambivalenz viel mehr erzählen als die ewige Bauhaus-Geschichte, die Deutschland 2019 fest im Griff hat.