Steirischer Herbst

"Die Kunst muss den Mund aufmachen"

Stehen wir kurz vor einer neuen Epoche des Faschismus? Ekaterina Degot, Intendantin des Grazer Festivals Steirischer Herbst, zieht Parallelen von den 30er-Jahren zur politischen Situation der Gegenwart

In dem am Mittwoch in Graz startenden Festival beschäftigen sich rund 40 Künstlerinnen und Künstler und Künstlerkollektive in Ausstellungen und Performances mit der Ambivalenz von individueller Wellness und kollektiver Krisenstimmung, die nicht nur die österreichische Ferienregion Steiermark prägen.

Ekaterina Degot, der Titel der nächsten Ausgabe des Steirischen Herbstes lautet "Grand Hotel Abyss". Was ist damit gemeint?

Der Titel ist von dem Philosophen Georg Lukács entlehnt. Er beschrieb damit die Haltung der europäischen Intellektuellen in den frühen 1930er-Jahren: Sie sitzen in der Lobby eines luxuriösen Hotels, während draußen die Katastrophe hereinbricht. Es ist wohlgemerkt kein Hotel am Abgrund, sondern das Hotel selbst nennt sich Abyss. Mit dieser Metapher beziehen wir uns auf das Österreich der Habsburgerzeit, in dem die Intellektuellen diese fröhliche Apokalypse-Stimmung hatten, wie sie William M. Johnston 1971 in seinem Klassiker "Der Österreichische Mensch" beschrieben hat. Wir beziehen uns auch auf die Vorstellung von "großer Kunst", auf einen Ästhetizismus, der finstere Dinge verdeckt, wie in dem Thriller "Der Dritte Mann". Und offensichtlich geht es uns vor allem um die Gegenwart, in der Hedonismus und Ästhetizismus von jedem erwartet werden, nicht nur von der Elite, und apokalyptische Gefühle um sich greifen.

Sie ziehen damit Parallelen zu den 30er-Jahren, zum aufkommenden Faschismus in Europa. Stehen wir wirklich wieder so nah am Abgrund?

An vielen Orten auf unserem Planeten sind wir schon viel weiter. Der heutige neoliberale Kapitalismus ermöglicht Massenmobilisierung und Biokontrolle in bisher ungeahntem Ausmaß, die Infrastruktur steht bereit. Gleichzeitig werden Techniken des Widerstandes wie kritisches Denken leider oft von den Intellektuellen selbst sabotiert, die Ideen blockieren, weil sie jemanden aufregen könnten oder weil sie im historischen Vergleich unangemessen erscheinen. Ich finde diese Selbstentwaffnung von Intellektuellen die beunruhigendste Entwicklung von allen.

Aber was ist heute anders als damals?

Keiner von uns lebte in dieser Zeit, deshalb ist das schwierig zu sagen. Waren die Leute vielleicht genauso blind und naiv wie wir heute? Wir haben die historische Erfahrung, aber es beunruhigt mich, wie sehr sie ausradiert wird. Vor allem in manchen Ländern in Osteuropa, wo der Kommunismus heute als schlimmer dargestellt wird als der Nationalsozialismus, weil er den Leuten angeblich ihre nationale Identität oder ihre Gender-Identität weggenommen hat. Es ist beängstigend, wie Nationalismus durch den Antikommunismus normalisiert wurde.

In der Strache-Affäre haben sich Österreichs Rechtspopulisten nun erst einmal komplett diskreditiert. Empfinden Sie Österreich an einem Wendepunkt?

Mir scheint, dass in Österreich, genauso wie in meinem Geburtsland Russland, die Leute tief im Inneren denken, dass die offizielle Politik nicht so wichtig sei wie die Frage, wer mit wem zum Mittagessen geht. In dieser Hinsicht war der Rücktritt von Strache ein totaler Schock, denn mit seinen Lunchverabredungen ist es jetzt vorbei. Andererseits sind deswegen seine Ideen nicht automatisch diskreditiert. Jetzt treffen sich eben andere Leute zum Mittagessen. Es ist also kein Wendepunkt, aber immerhin ein erfrischender Wechsel. Viele Leute um mich herum sind erleichtert und energetisiert davon. Sie lachen, das ist schon gut. Wir sehen, was passiert.

Sie beschreiben die Steiermark als eine Wohlfühlblase. Was heißt das?

So beschreibt die Steiermark sich selbst: Als ein Ort für gutes Essen, guten Wein und alles, womit man diese Kalorien wieder verbrennen kann, wie Wellness und Radfahren. Hier gibt es riesige Open-Air-Dinner, alles wird in Tourismusbroschüren von weißen, blonden Menschen repräsentiert, immer heterosexuelle Paare, meist in traditioneller österreichischer Tracht, die nationale Reinheit signalisieren. Das hat eine Art kryptonationalistischen Unterton. Wie überall in der Welt soll die Idee von Wellness hier Kritik und sozialen Wandel abblocken. Anstatt die Gesellschaft zu verbessern, sollen wir uns selbst verbessern und unsere Körper aufpäppeln.

Auch der Kunstbetrieb ist eine Blase, Kunst- und Kulturveranstaltungen wirft man oft vor, "preaching to the converted" zu betreiben, also nur die zu erreichen, die ohnehin schon für die Sache eingenommen sind. Wie kann man außerhalb dessen wirksam werden?

Kunst muss sich dem Publikum mehr öffnen, aber es muss gleichzeitig auch Kunst bleiben, die Sphäre von Fiktion, von Fantasie, eine autonome Sphäre muss bewahrt bleiben. Gerade sind wir in einer Situation, in der manche Dinge nur noch von Künstlern und Künstlerinnen gesagt werden können, weil es verschiedene Formen von Zensur und Selbstzensur gibt, und autoritären Staaten genauso wie in demokratischen, und die Kunstfreiheit ist das letzte Argument. Deswegen müssen wir die Kunst unterstützen und wertschätzen, sogar mit ihren Fehlern: wegen der Meinungsfreiheit. Dafür muss aber auch die Kunst sich als freie Sprache bewähren. Sie muss den Mund aufmachen.

Sie haben in ihrer Intendanz den Schwerpunkt des Steirischen Herbstes deutlich weg vom Theater und hin zu bildender Kunst verschoben. Hat sich das bewährt? Was kann bildende Kunst, was Theater nicht kann?

Man sollte das Theater nicht unterschätzen, vor allem nicht das Sprechtheater. Ich habe viel Respekt und sogar ein bisschen Neid gegenüber dieser Kunstform, deren alleinige Mission ist es, öffentlich zu sein. Manchmal ist es schmerzhaft zu sehen, dass bildende Künstler trainiert werden, ihr eigenes Werk zu sabotieren, es weniger klar zu machen, visuell weniger wirkungsvoll, um "echte Künstler" zu sein. Andererseits beherrschen Bildende Künstler meistens die Kunst der Selbstreflexion besser als Theaterleute, sie stellen ihr eigenes Medium in Frage und kontextualisieren es breiter, sie sind konzeptueller. Diese beiden Seiten zusammen zu bringen, hätte eine große Kraft. Das wünsche ich mir oft von einem Künstler oder einer Künstlerin.